Grenzenlose Solidarität

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Die Pandemie stellt die neoliberale Gesellschaft und Wirtschaft grundlegend in Frage. Jetzt die richtigen Lehren zu ziehen, ist für eine gemeinsame Zukunft existentiell

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Die Einsicht, dass wir alle im selben Boot sitzen und die Titanic vielleicht Rettungsboote haben mag, aber es keinen sicheren Hafen mehr gibt, hat sich bei den Regierungen nur bedingt herumgesprochen. Als China Anfang des Jahres von Covid-19 heimgesucht wurde, setzte Ende Januar internationale Hilfe ein und Länder wie Südkorea, Tschechei, Großbritannien, Japan, Ägypten, Frankreich, Türkei, Pakistan, Kasachstan, Ungarn, Iran, Belorus und Indonesien hatten Hilfslieferungen zum Kampf gegen die Ausbreitung des Virus geschickt. Anfang Februar schickte auch Deutschland zwei Transportflugzeuge voll mit Medikamenten.

Begleitet wurde dies aber auch von rassistischen Ressentiments gegen Asiaten im Allgemeinen und Chinesen im Besonderen. Ganz in dieser bedenklichen Tradition darf sich auch die Vehemenz von US-Präsident Donald Trump einreihen, der Covid-19 als "Chinesischen Virus" bezeichnet oder vom US-Außenminister Mike Pompeo, der auf der Verwendung des Namens "Wuhan-Virus" besteht, um offenbar schon gleich im Namen klar zu machen, wessen Schuld die Krise ist.

Als die Pandemie europäischen Boden erreichte, wartete man auf Solidarität zuerst vergeblich. Solidarität mit Italien? Solidarität mit Spanien? Fehlanzeige. Wochenlang konnte man kopfschüttelnd verfolgen, wie jede Regierung nur einzig an das eigene Land dachte. Anfangs hatten Frankreich ein Masken-Embargo verhängt und Deutschland mit einem Exportverbot geantwortet. Grenzenloser Warenverkehr in der EU war plötzlich Schnee von gestern. Dann konfiszierten Polen und Tschechien Atemmasken und Beatmungsgeräte, die für Italien bestimmt waren, und Deutschland blockierte den Weitertransport von Atemmasken, die die Schweiz aus China geordert hatte. Nach Solidarität mit dem Iran lohnt leider nicht einmal die Frage. Statt mitmenschlicher Hilfe, verhängten die USA neue Sanktionen, obwohl UN-Generalsekretär António Guterres ausdrücklich ein Ende der Sanktionen gefordert hatte. Vergleichbares lässt sich über Venezuela sagen. Der IWF verweigerte einen Kredit für die Corona-Krise, weil Unklarheit bestehe, inwiefern die Regierung Maduro international anerkannt sei.

Den Höhepunkt nationaler Egoismen dürfte Donald Trumps angeblicher Versuch gewesen sein, sich den Impfstoff, an dem derzeit eine Firma in Tübingen arbeitet, exklusiv für die USA zu sichern.

China, Russland und Kuba

Einige Länder übernehmen allerdings bei Hilfslieferungen und -leistungen eine führende Rolle. China bot 82 Ländern Hilfe an. Konkret unterstützt China beispielsweise Italien und Spanien mit Atemmasken und medizinischem Gerät. Dem Iran half China mit einer Viertelmillionen Atemschutzmasken, 50.000 Testkits, ein Dutzend Beatmungsgeräten und Grundstoffen für Medikamente zur Covid-19-Behandlung. Auch Russland zeigte sich spendabel und schickt medizinische Ausrüstung und Personal nach Italien. die kubanische Regierung hat Ärzte und Pfleger in gut 60 Länder geschickt. Allein 52 kubanische Helfer sind derzeit in der Lombardei.

Natürlich kann man mutmaßen, dass diese Länder nicht selbstlos halfen und helfen, sondern es einzig um "die positiven Bilder" geht, aber was in einer Krise zuerst zählt, ist die Hilfe, nicht kleinliche Unterstellungen über die etwaige Hilfsmotivation. Und sicherlich wäre auch die implizite Kritik an diesen helfenden Ländern überzeugender, wenn sich europäische Länder und die USA selber gelebte Solidarität auf die Fahnen geschrieben und beispielsweise auf den Hilferuf Italiens oder den Aufruf der EU-Kommission reagiert hätten. So sieht es auch ein Lagebericht des deutschen Bundesverteidigungsministeriums.

Der Präsident der Region Ligurien, Giovani Toti, schrieb vielsagend auf Facebook Richtung China: "Danke an euch, dass ihr zuerst den Notfall bewältigt habt und dass ihr jetzt, wo ihr diesen Kampf gewinnt, nicht zögert, uns die Hand zu reichen. Wenn alles vorbei ist, werden wir uns daran erinnern, wer da war ...und wer nicht da war."

Das Europa, das ich mir wünsche

Schon frühzeitig hatte die EU-Kommission Deutschland und die weiteren Mitgliedstaaten der Union nachdrücklich aufgefordert, den italienischen Behörden Hilfe zukommen zu lassen. Am 26. März wurde die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen dann in ihrer Kritik deutlich: "Als Europa echten Gemeinschaftsgeist brauchte, wählten zu viele zunächst den Alleingang (…) Und als Europa wirklich beweisen musste, dass wir keine 'Schönwetterunion' sind, weigerten sich zu viele zunächst, ihren Schirm zu teilen."

Nach der erfolgreich bestandenen Krise wolle sie, dass die Bürger Europa als stark in Erinnerung behalten: "Ein Europa, das im Schnelldurchlauf arbeitet, wenn es sich so anfühlt, als hätte die ganze Welt auf Pause gedrückt. Ein Europa, das Mitgefühl über alles andere stellt. Das ist das Europa, das ich mir wünsche."

Aber wird dieser Appell auch zu konkreten Taten führen? Oder bewahrheitet sich die Vermutung des Journalisten Tobias Riegel: "Das Bild der fehlenden Solidarität soll durch Phrasen von der Solidarität korrigiert werden"? Wird man sich am Ende eher an einen weiteren Facebook-Post von Giovani Toti erinnern?: "Amerika, China ... und Europa? Brüssel, wo bist du? (...) Von einem Europäer, mit Bedauern...."

Die französische Tageszeitung "Le Monde" nennt die Pandemie auf jeden Fall "Einen Moment der Wahrheit für Europa" und warnt: "In dieser Coronavirus-Krise geht es auch für die EU um ihr Überleben."

Erste Ansätze

Erfreulicherweise gibt es nun - endlich - erste Zeichen von Solidarität. Beispielsweise hat Deutschland am 16. März Italien Schutzmasken geliefert. Ebenso 300 Beatmungsgeräte. Sachsen hat italienische Corona-Patienten aufgenommen. Zudem behandeln die Universitätskliniken in Freiburg, Heidelberg, Mannheim und Ulm französische Coronavirus-Patienten aus dem benachbarten Elsass und entlasten so das Gesundheitssystem des Nachbarlandes, welches gerade im Osten des Landes an seine Grenzen kommt. Auch aus Italien wurden sechs Patienten eingeflogen. Zudem haben deutsche Klinken insgesamt 63 Betten für Intensivpatienten aus dem Ausland angeboten. Ebenso hat das kleine Luxemburg Patienten aufgenommen und ist dem Aufruf der EU gefolgt, die eine gelebte Solidarität fordert.

Es sind erste Schritte, ein guter Anfang, aber eben nur ein Anfang. Vielleicht lehrt die Pandemie, dass die auch in der EU herrschende Haltung, stets mit einem Auge auf den nationalen Ranglistenplatz des BIP (und anderen dubiosen Indexes für das nationale Ego) zu schauen, in Zeiten der Pandemie nicht nur die Solidarität gefährdet, sondern damit auch das eigene Überleben. Erfreulich, dass die Europäische Zentralbank EZB angekündigt hat, für 1100 Mrd Euro Staatsschulden aufzukaufen und den Stabilitätspakt, der das Staatsdefizit begrenzt, auszusetzen. Entscheidend wird aber das Ergebnis der aktuellen Verhandlungen der Euro-Finanzminsiter sein, die darüber beraten, wie sie der "beispiellosen Natur des Covid-19-Schocks Rechnung tragen" können.

Notwendigkeit weltweiter Solidarität

Aber es wäre fatal, wenn der Gedanke der Solidarität an den Grenzen der EU - einmal mehr - Halt machen würde. Es wäre fatal und schlicht unsinnig. Denn wenn alle Länder gemeinsam, weltweit, die Pandemie besiegen, ist diese Bedrohung tatsächlich aus der Welt geschafft. Ein einzelnes Land, das aber stolz auf die eigenen niedrigen Zahlen schaut, ohne das sich ausbreitende Leid im Nachbarland zu sehen, hat nichts von Solidarität und schon gar nichts von einer Pandemie verstanden. Wie wenige Menschen hat es der UN-Generalsekretär António Guterres verstanden. In einem offiziellen Brief am 25. März an die Länder des G-20 betont er: "Denken wir daran, dass wir nur so stark sind wie das schwächste Gesundheitssystem in unserer vernetzten Welt. (...) Dies ist die Zeit der Solidarität, nicht der Ausgrenzung. (…) Die gegenwärtige Krise erinnert stark an das gemeinsame Schicksal der Menschheit."

Am selben Tag wurde das "Global Humanitarian Response Plan for COVID-19" mit 2 Mrd US-Dollar lanciert. Guterres fordert hierbei eindringlich eine weltweite Solidarität auch und insbesondere mit den ärmsten Ländern der Welt: "COVID-19 bedroht die gesamte Menschheit - und deshalb muss die gesamte Menschheit handeln. Die Reaktionen einzelner Länder werden nicht ausreichen. (...) Wir müssen den Millionen und Abermillionen von Menschen zu Hilfe kommen, die sich am wenigsten schützen können. Dies ist eine Frage der grundlegenden menschlichen Solidarität. Sie ist auch für die Bekämpfung des Virus von entscheidender Bedeutung. Die Welt ist nur so stark wie unser schwächstes Gesundheitssystem."

Die Wichtigkeit dieses Aufrufs wird insbesondere dadurch deutlich, wenn man bedenkt, dass nicht nur die Kriegsgebiete wie Syrien, Libyen und dem Jemen hochgradig gefährdet sind, sondern auch Länder wie beispielsweise Burkina Faso. Das Land mit der höchsten Infektionszahl in Westafrika, darunter vier Minister, hat allein 700.000 Vertriebene.

Zwanzig Experten, darunter vier Nobelpreisträger wie Joseph Stiglitz, und sieben Chefökonomen der Weltbank und anderer Entwicklungsbanken, haben sich an die politischen Führer der G-20 Staaten gewandt: "Wir fordern Sie, die Staats- und Regierungschefs der G20 auf, nun dringend die notwendigen Ressourcen bereitzustellen, um die Verluste an Menschenleben zu verringern und die am stärksten gefährdeten Menschen zu unterstützen. Die erforderlichen Investitionen sind im Vergleich zu den sozialen und wirtschaftlichen Kosten der Untätigkeit nur gering. Die Geschichte wird uns hart verurteilen, wenn wir das nicht in Ordnung bringen".

Auch Tedros Adhanom Ghebreyesus, Chef der WHO, und der UNO-Nothilfekoordinator Mark Lowcock lancierten einen Aufruf zur grenzenlosen Solidarität: "Covid-19 ist eine Pandemie, die keine Grenzen kennt. Daher ist auch ihre Bekämpfung nur möglich, wenn wir in unserem Denken und Handeln nationale Grenzen überwinden. Das gilt ausnahmslos für alle Länder. Kein Land wird seine eigenen Bürger schützen können, wenn es nicht zugleich die ärmsten Länder der Welt tatkräftig dabei unterstützt, Schutzmaßnahmen gegen COVID-19 zu ergreifen."

Die Aufrufe nach einer - im wahrsten Sinne des Wortes - unbegrenzten Solidarität sind ebenso existentiell wie folgerichtig. Angesichts einer Pandemie muss jedes Land dieser Erde nicht nur ein Interesse an einem eigenen ausreichend guten Gesundheitssystem haben, sondern auch ein Interesse, dass in jedem Land hygienische und medizinische Grundstandards herrschen. Nicht zuletzt auch zur eigenen Sicherheit. Daher können die ärmsten Länder dieser Welt nicht mehr nur zynisch als auszubeutende Ressource gesehen werden. Die Ignoranz, einfach davor die Augen zu schliessen, dass beispielsweise jedes Jahr mehr als zweihunderttausend Kinder an von Viren ausgelöstem Durchfall sterben, weil sie kein sauberes Wasser haben, können wir uns nicht mehr leisten. Weder menschlich, noch im Hinblick auf unsere eigene Gesundheit.

Solidarität in der Forschung

"Pandemien erfordern wirklich globale Gesundheitssolidarität, um festzustellen, wo der Ausbruch am aktivsten ist und wo diese Impfstoffdosen am meisten Gutes tun und das meiste Leid verhindern können. Aber es könnte auch jedes Land für sich selbst sein", sagt Dr. Jason Schwartz, Professor an der Yale School of Public Health, der die Entwicklung von Impfstoffen untersucht.

Es liegt auf der Hand, dass gerade in Zeiten einer Pandemie, der gnadenlose Wettkampf, der auch zwischen Pharma-Unternehmen herrscht, absolut kontraproduktiv ist, und Kooperation und Solidarität notwendig sind. Denn die unhinterfragte Überzeugung, einzig Konkurrenz und der Markt führe zu einer möglichst schnellen Entdeckung eines Impfstoffs, übersieht einen entscheidenden Punkt: die eindeutige Nebenwirkung des Konkurrenzkampfes, dass zahlreiche kleine Forschergruppen im Geheimen gegeneinander kämpfen, anstatt gemeinsam koordiniert und transparent zusammen zu arbeiten. Daher rettet es Leben, wenn das neoliberale Paradigma ausgesetzt und auf grenzenlose Solidarität gesetzt werden würde.

Solidarität zwischen den Generationen

Wie die Atemmaske Zeichen der Solidarität ist, denn sie schützt nicht den Träger, sondern die umstehenden Personen, so zeigt jeder junge Mensch, der den Sicherheitsabstand wahrt, seine Solidarität mit der besonders gefährdeten älteren Generation (auch Menschen mit Vorerkrankungen nicht zu vergessen).

Umgekehrt wird vermutlich die aktuelle Periode der Pandemie auch eine Zeit sein, in der die ältere Generation der jüngeren Generation finanziell unter die Arme greifen muss, die jetzt häufig keiner Arbeit nachgehen kann und daher schnell vor massiven Problemen stehen wird.

Grenzenlose Solidarität innerhalb der Gesellschaft

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte in seiner Videobotschaft: "Solidarität heißt jetzt: physisch Abstand halten - und einander doch näher sein als je zuvor." Auch wenn auf den ersten Blick in der Pandemie die Mitmenschen zur potentiellen Bedrohung werden, kann nur gelebte Mitmenschlichkeit in Form von Solidarität der Schlüssel für diese schwierige Zeit sein, die Organisation von konkreter Nachbarschaftshilfe, wie sie vielerorts stattfindet. Sei es, indem man den Einkauf für andere Menschen übernimmt, wichtige Dinge und Informationen teilt, bei älteren alleinstehenden Menschen anruft oder den lokalen Kleinhandel unterstützt, anstatt sich von Amazon beliefern zu lassen.

Aber diese Form der Solidarität, die zweifellos ausgesprochen wichtig ist, stellt nur einen Teil der notwendigen Solidarität dar, die jetzt gefordert ist.

Solidarität mit den Menschen im Gesundheitssektor

Plötzlich stellt man entsetzt fest, dass nach Jahren der Privatisierung und Gewinnmaximierung im Krankenhaus Personal fehlt. Jahrzehntelang wurde dem Pflegepersonal von den sogenannten "Leistungsträgern der Gesellschaft" keinerlei Anerkennung entgegengebracht und sie spielten nur als Kostenfaktor eine Rolle, den es zu minimieren galt.

Entsprechend wird das Pflegepersonal meist nur mit dem Mindestlohn bezahlt, ist oftmals unterbesetzt und trägt nicht selten in der Nachtschicht Alleinverantwortung für eine ganze Station. In der Tat, täglich nun einen anerkennend freundlichen Applaus durch die Straße zu schicken, ist ein ehrenwerter Anfang; eine gesellschaftliche und materielle Anerkennung der Tätigkeit ist aber die eigentlich zwingende Erkenntnis zum Neuanfang.

Wie gut ein Land die Pandemie überstehen wird, hängt besonders von den Menschen ab, die im Gesundheitssektor in der direkten Gefahrenzone arbeiten und das Risiko auf sich nehmen, sich selber zu infizieren und im schlimmsten Fall, beim Versuch das Leben anderer Menschen zu retten, selber zu sterben, wie nun beispielsweise in Frankreich der 44-jährige Patrick Lihau.

Der Gesundheitssektor ist keine Dienstleistung. Der Gesundheitssektor darf kein Spielfeld für Gewinnmaximierung sein. Gerade die Menschen, die dort arbeiten, haben unsere Anerkennung und unsere grenzenlose Solidarität mehr als verdient.

Solidarität mit den Übersehenen der Gesellschaft

Nur zu gerne wird in der sogenannten Leistungsgesellschaft über die Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten müssen, galant hinweggesehen. Aber plötzlich sind viele dieser Menschen Helden: Ohne die unermüdliche Arbeit von den Menschen im Supermarkt, die den ganzen Tag der potentiellen Gefahr einer Übertragung ausgesetzt sind, während alle anderen möglichst zu Hause in sicherer Distanz bleiben sollen, würde das Leben schlicht zusammenbrechen In Frankreich verstarb mit der 52-jährigen Aïcha I. die erste Kassiererin an Covid-19.

Gleiches gilt für alle Menschen, die ebenfalls meistens für den Mindestlohn sicherstellen, dass die Lieferkette für Nahrungsprodukte nicht abreißt. Nicht zu vergessen die Briefträger, Paketzusteller, Müllwerker und viele andere. Und viele weitere Berufe, die in der Gesellschaft grundsätzlich ignoriert werden, weil sie keiner Qualifikation bedürfen. All diesen Menschen, deren täglichem Einsatz wir zu verdanken haben, dass das Leben doch weitergehen kann, wir ausreichend gefüllte Supermärkte vorfinden und auch nicht in unserem eigenen Müll ersticken; all diesen Menschen muss unsere grenzenlose Solidarität und Anerkennung gelten. Diesen Menschen, die Arbeitsminister Hubertus Heil kürzlich zu "Heldinnen und Helden des Alltags" kürte.

Auch hier ist der tägliche Applaus ein positiver Anfang, ein anerkennendes Lächeln und ein aufmunterndes Lob, wenn wir ihnen begegnen, wäre angebracht. Ein Einsatz der Gesellschaft für sie - auch in Zeiten nach der Pandemie - muss eine Selbstverständlichkeit sein. Eine sogenannte Leistungsgesellschaft überlebt eben nicht nur dank der sogenannten Leistungsträger.

Grenzenlose Solidarität auch mit den Ausgegrenzten

Die Forderung nach grenzenloser Solidarität darf aber hier nicht Halt machen. Auch den Ärmsten der Gesellschaft, den Ausgestoßenen, den Obdachlosen muss sie gelten. Nicht nur aus Mitgefühl, sondern auch aus Selbstschutz. Ein Obdachloser, der sich infiziert, ist selbstverständlich eine potentielle Bedrohung, so dass es im Interesse aller Menschen sein muss, dass die Ärmsten der Gesellschaft nicht in der üblichen Ignoranz links liegen gelassen und übergangen werden, sondern gerade ihnen unsere Solidarität gilt. Es muss gewährleistet sein, dass sie ausreichend Zugang zu medizinischer und hygienischer Versorgung haben.

Ein ähnlicher Gedanke muss auch den Menschen in Asylheimen und Gefängnissen gelten (Das Thema der Flüchtlingslager im Zeitalter der Pandemue verdient einen eigenen Artikel). All diese Menschen, die häufig nicht in den medialen Fokus gelangen und jenseits unserer Wahrnehmung eingeschlossen leben müssen, muss unsere grenzenlose Solidarität gelten. Denn auch hier ist es eindeutig so, dass sie nicht nur aus Mitgefühl, sondern auch aus unserem Eigeninteresse, eine ausreichende medizinische und hygienische Betreuung haben müssen.

Das bisherige Desinteresse an den Menschen, die in unserem Land im Elend und auf der Straße leben, kann jetzt tödlich sein. Wenn wir möchten, dass diese Pandemie möglichst glimpflich verläuft, müssen wir - endlich - auch ein vitales Interesse an der Gesundheit dieser Übersehenen haben. Und grenzenlose Solidarität leben und vom Staat einfordern.

Ko-Immunismus

Der Bonner Philosoph Markus Gabriel formuliert brillant: "Wir brauchen keinen Kommunismus, sondern einen Ko-Immunismus. Dazu müssen wir uns gegen geistiges Gift impfen, das uns in Nationalkulturen, Rassen, Altersgruppen und Klassen einteilt, die gegeneinander in Konkurrenz treten. (…) Nach der virologischen Pandemie brauchen wir eine metaphysische Pan-Demie, eine Versammlung aller Völker unter dem uns alle umfassenden Dach des Himmels, dem wir niemals entrinnen werden. Wir sind und bleiben auf der Erde, wir sind und bleiben sterblich und fragil. Werden wir also Erdenbürger, Kosmopoliten einer metaphysischen Pandemie. Alles andere wird uns vernichten und kein Virologe wird uns retten."

Es geht um die soziale Frage

Grenzenlose Solidarität, die ganz bewusst alle Menschen umfasst, führt schlussendlich gerade im Hinblick auf die Zeit nach der Pandemie zu einem zentralen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Thema zurück, das zu lange von der Bühne der politischen Aufmerksamkeit verschwunden ist: die soziale Frage. Denn nur eine Gesellschaft, die über eine moderate Ungleichheit verfügt, ist eine solidarische Gesellschaft.

"Der Neoliberalismus betrachtet den Wettbewerb als das bestimmende Merkmal der menschlichen Beziehungen", stellte der Guardian-Journalist George Monbiot fest. In Zeiten der Pandemie aber sollten wir von liebgewonnenen Leistätzen des Neoliberalismus Abschied nehmen und eine neue solidarische Gesellschaft weltweit aufbauen, die das Verhältnis zwischen Menschen und schlussendlich auch zwischen Nationen nicht mehr durch Konkurrenz definiert, sondern durch Solidarität.

Somit wird Covid-19 zum Test, ob wir in einem dauerhaften neoliberalen Wettbewerb leben wollen, der stets nach Siegern giert und Verlierer fordert (und in Zeiten einer Pandemie zwangsläufig die Anzahl der zu beklagenden Toten erhöhen wird) oder ob sich die Menschen als lernfähig erweisen und die Forderung der Zeit verstehen: grenzenlose Soldarität.

Welches beeindruckende Potential Menschen an Solidarität haben können, zeigt ein Beispiel aus Großbritannien. Nur wenige Stunden nachdem die britische Regierung die Bevölkerung um freiwillige Mitarbeit im Gesundheitsdienst gebeten hatte, meldeten sich 158.000 Briten. Insgesamt wurden es dann mehr als eine halbe Millionen freiwillige Helfer.

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen".

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