Starker Virus - schwache Demokratie

Die Chronologie eines Versagens von Ministern und Parlamenten

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Es begann mit einer Zensur, dem Verbot von Berichten über einen neuen Virus durch die lokale Regierung der Millionenstadt Wuhan. Unterdrückte Meinungsfreiheit, das ist der Liebling aller Diktaturen. Ministerpräsident Xi Jinping hatte das westliche Internet verboten und die Möglichkeiten IT-gestützter Zensur gewaltig ausgeweitet. Warum allerdings die Nachrichten über diesen Virus anfänglich unterdrückt wurden, bleibt unklar. Es muss schon arg realitätsfremder Gehorsam der Provinzregierung gewesen sein, denn eine Twitter-Meldung lässt sich verbieten, die Vermehrungslust eines Virus nicht. So nutzte der Virus die Stadt zum Anwachsen zu einer großen Herde. Inzwischen lesen sich detailliertere Berichte wie in der Süddeutschen Zeitung wie ein Krimi staatlicher Sturheit (in Telepolis siehe: Für die Coronavirus-Pandemie ist die KP-China verantwortlich).

Anfänglich also nicht aufgehalten, brachen die Viren rasch in die Welt auf und testeten die Qualität des politischen Systems, testeten, wer den Virus sofort einsperrt oder - noch besser - aussperrt und wer nicht. Die amtlichen Reaktionen waren außerhalb Chinas sehr unterschiedlich, abhängig von der Qualität des politischen Systems. Deutschland schneidet dabei schlecht ab und deshalb sollten wir nicht nur das Versagen eines Ministers, sondern auch den Blick auf das Grundsätzliche, also das Funktionieren unserer Demokratie insgesamt hinterfragen. Zu groß ist der Abstand zum Klassenbesten Taiwan.

Taiwan, perfekt - und von der WHO negiert

In jedem Fall versagt haben das deutsche parlamentarische System, seine Minister und seine Parlamente. Besonders drastisch ist der Vergleich mit Taiwan. Dessen Regierung handelte sofort und energisch. Man hatte aus der SARS-Epidemie 2002/2003 gelernt und ein eigenes "National Health Command Center", eine Befehlszentrale für gesundheitliche Krisen eingerichtet.

China gab am 31. Dezember letzten Jahres das Auftreten des Virus bekannt und bereits am 3. Januar verhängte Taiwan eine Einreisesperre für Reisende aus der betroffenen Provinz. Der erste Fall trat am 22. Januar auf und wurde sofort konsequent verfolgt, wie auch alle nachfolgenden und isoliert. Mit diesem frühen Beginn gelang es Taiwan, die Zahl der Infizierten klein und das öffentliche Leben aufrecht zu erhalten.

Als allerdings die Weltgesundheitsorganisation WHO am 31. Januar erstmals zu Corona tagte, durfte Taiwan dennoch nicht am Tisch sitzen und von seinen Erfolgen berichten. Denn die chinesische Diktatur strebt bekanntlich eine Annektierung Taiwans an und hatte sich eine Mitgliedschaft Taiwans verbeten(!). Dort hatte gerade die gegenüber China kritische Präsidentin Tsai ihre Wiederwahl in einer allgemein als fair eingestuften Wahl gewonnen. Taiwan wird also wohl noch länger warten müssen, bis die WHO sich traut, den Inselstaat aufzunehmen und der Westen etwas konsequenter im Umgang mit China wird.

Kein Alarmruf in Berlin

Entsprechend fanden Taiwans Erfahrungen nicht den Weg in die Welt, und seine Warnungen waren bei der Lagebeurteilung sowohl der WHO, wie auch in Deutschland nur gerüchteweise präsent. Jens Spahn nannte den Virus am 27. Januar noch "harmloser als eine Grippe", womit er allerdings wohl nur die (falsche) Lagebeurteilung des Tiermediziners Lothar Wieler, dem Direktor des fachlich zuständigen staatlichen Robert Koch Instituts, wiedergab. Fast wie ein Hohn wirkt, dass am gleichen Tag das bayerische Gesundheitsministerium den ersten Corona-Fall in Deutschland bei der Münchner Firma Webasto bekannt gab.

Taiwan hatte bereits im Januar alle Exporte von Schutzkleidung verboten. Unsere Regierung dagegen, initiiert durch Außenminister Maas, sandte anfangs sogar Schutzkleidung nach China, vergaß aber, wegen der Bevorratung in Deutschland nachzufragen. Die hatte das Robert-Koch-Institut in seiner anfänglichen Verharmlosung auch nicht angemahnt, obwohl es den großen Bedarf an Schutzkleidung 2016 in seinem eigenen Pandemieplan betont hatte. Auch vom Tragen von Atemschutz-Masken wurde Nicht-Infizierten lange Zeit abgeraten, ganz im Unterschied zu den Erfahrungen in Taiwan.

Erst vor wenigen Tagen hat das Institut nun zugestanden, dass Maskenpflicht in der Öffentlichkeit generell von Nutzen ist. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Da Infizierte oft keine oder nur leichte Symptome und keine Lust auf Quarantäne haben, gibt es viele, die ihre Ansteckung nicht bemerken oder sich nicht eingestehen. Ich kenne jedenfalls etliche, die sich wegen nur leichter Infektion nicht meldeten. Kein Wunder, dass viele Epidemiologen hohen Dunkelziffern vermuten.

Deshalb ist, da sich ja Infizierte in der Öffentlichkeit frei bewegen, Maskenpflicht für alle die richtige Antwort. Wegen dieser Fehleinschätzungen sitzen wir nun mit fast hunderttausend Infizierten vier Wochen in der Isolation, während in Fernost schon wieder Normalität einkehrt. Ein größeres Versagen brachte nur noch Präsident Trump in den USA zustande.

Es gibt eine politische Verantwortung

Das wirft die Frage nach der politischen Verantwortung der Fehleinschätzungen auf. Ich sehe einen Hauptgrund in durchgängig zu geringer Kompetenz der politischen Klasse. Als langjähriger Industrievorstand war für mich die Auswahl und die Ausbildung von Führungskräften immer ein erfolgsbestimmendes Thema. Alle großen Firmen achten auf Kompetenz, auf ausreichend Erfahrung, analytische Begabung und organisatorische Fähigkeiten. Das ist überwiegend erfolgreich, wie die weltweiten Erfolge der deutschen Wirtschaft zeigen. Aber bei der Auswahl der Mandatsträger durch unsere Parteien genügen Popularität und Redetalent - und das Parteibuch. Das ist zu wenig, das muss sich ändern.

Die Parteien sollten sich dazu die in der Wirtschaft üblichen hohen Ansprüche zur eigen machen und mit ihren Kandidatenlisten grundsätzlich Parlamentarier mit Fachkompetenz und Praxisnähe vorschlagen, also Persönlichkeiten, die aus der Mitte der Gesellschaft, aus Wirtschaft, Verwaltung, Verbänden, Sozialwesen, Wissenschaft und Lehre kommen und die ihr Mandat mit breiter beruflicher Erfahrung antreten und diese Kompetenz auch in ihrer Regierungsarbeit umsetzen.

Bei uns sind die Wahllisten dominiert von Wiederwahl-Kandidaten, also Berufspolitikern, die kaum Berufserfahrung im normalen bürgerlichen Leben haben. Zudem werden Ministerämter als Verschiebebahnhof oder als Karriereleiter zur Kanzlerschaft missbraucht - jeder kann alles - und durch den Proporz von Koalitions-Verhandlungen bestimmt. Kompetenz, Eignung für Parlament und Ministeramt stehen nicht im Vordergrund.

Gerade die Besetzung des Gesundheitsministeriums ist da symptomatisch. Als in Fernost die SARS-Epidemie wütete und Taiwan seine Krisenbehörde einrichtete, war bei uns Ulla Schmidt Gesundheitsministerin, Studienrätin und immerhin mit Behinderten erfahren, aber mit der Beurteilung der Gefahren einer Virus-Pandemie offensichtlich überfordert. Ein Pandemieplan entstand nicht, trotz etlicher Warnungen von Virologen. Auch die Qualifikation von Jens Spahn als Bankkaufmann passt nur schlecht zu diesem Ministerium. Obwohl es immer Ärzte in den Parlamenten gab, sind alle Gesundheitsminister der letzten 20 Jahre nicht vom Fach und mit nur geringer Erfahrung im Gesundheitswesen ausgestattet.

Mit einer Ausnahme: Dr. med. Rösler, Gesundheitsminister 2009 bis 2011. Die fünfjährige Überarbeitung der Risiko-Analyse des Innenministeriums stand an und er war es, der endlich die Pandemie in diese Planungsbasis der Bundesregierung für Katastrophenschutz aufnehmen ließ, zehn Jahre nach SARS und der Gründung der Epidemie-Behörde in Taiwan. Sein Pandemieplan ging dann als Teil der "Risikoanalyse" des Innenministeriums im Januar 2013 an alle Bundestagsabgeordneten. Rösler war da bereits Wirtschaftsminister und dürfte das Thema aus den Augen verloren haben. Denn die in der Studie angemahnte Aktivität von Bund und Ländern blieb aus. Röslers Nachfolger war Daniel Bahr/FDP, wieder primär Bankkaufmann, zwar mit einem Zusatzstudium in Krankenhaus-Management, aber dennoch wohl an der Studie uninteressiert.

Routinemäßig nach fünf Jahren wurde die Risikoanalyse 2017 überarbeitet, nun unter dem Rechtsanwalt Hermann Gröhe. Trotz noch deutlicheren Hinweisen insbesondere auf die Rolle des enormen Bedarfs an Schutzkleidung blieb auch diese an alle Abgeordneten verteilte Studie - kürzlich in Telepolis genauer beschrieben - ohne Reaktion. Das Unglück nahm seinen Lauf. Keine vorbeugende Warnung an die Länder und Kommunen und keine vorbeugende Warnung an die Wirtschaft, für ausreichend Vorräte und lokale Produktion zu sorgen. Während dessen Amtszeit wurde übrigens auch Professor Lothar Wieler zum Direktor des Robert Koch Instituts ernannt, ein Tiermediziner, kein Epidemologe und Virologe der Humanmedizin, was in sich auch Fragen aufwirft. Zurück zur Versorgungsfrage. Die betrifft das Wirtschaftsministerium.

Selbstverwaltung der Wirtschaft funktioniert

Wer eine wie wild sich nach Fernost verlagernde Industrie wieder einfangen will, muss ihr Auflagen machen, also Vorgaben, wie viel der Produktion in Europa und wie viel als Katastrophenvorhalt gesichert sein muss. Das können die zuständigen Wirtschaftsverbände in Selbstverwaltung mit den einzelnen Firmen umsetzen, eine Gesetzesvorlage vorausgesetzt. Bei Treibstoffen ist das beispielsweise durchaus üblich.

Aber diese Aufforderung des Wirtschaftsministeriums an die Verbände der Medizintechnik und des Gesundheitswesens unterblieb. Wie ich aus meiner langjährigen Zuständigkeit für Bildgebende Systeme bei Siemens Med weiß, sorgt bei teuren Ausrüstungen der Vertrieb der jeweiligen Firmen von sich aus für eine gute Flächendeckung, so auch bei den teuren Einrichtungen für die Intensivpflege und deren Atemgeräte. Hier stimmt die Versorgung. Die Massenware der Schutzkleidung dagegen auch für erhöhten Bedarf zu bevorraten, hätte mit einer entsprechenden Anordnung des Wirtschaftsministeriums eingefordert werden müssen, auch mit einem Kontingent aus heimischer Produktion. Das unterblieb, mit einer jetzt katastrophalen und teils lebensbedrohenden Unterversorgung des Gesundheitswesens.

Ein Systemdefizit unserer Demokratie

Es scheint mir nun offensichtlich, dass all diese Unterlassungen der Regierung auch ein Versagen der Qualität unseres Regierungsprinzips sind. Zu viele unsere Abgeordneten sind lebenslang in der Politik, sind Berufspolitiker und mit dem Fokus auf Wiederwahl und Popularität belastet, statt der Konzentration auf ihre Aufgaben. Ob Pandemie, Klimawandel oder klassische Verwaltungsaufgaben, regelmäßig stoßen wir auf mangelnde Aktion der Regierung und auf ausgeprägte Lobbyhörigkeit unserer Abgeordneten. Wir brauchen eine neue Philosophie für die Qualifikation unserer Abgeordneten, beginnend bei der Aufstellung der Kandidatenlisten.

Es geht dabei nicht nur um diese Pandemie, auch bei Klimawandel, klassischen Verwaltungsaufgaben und erst recht bei den bekannten Wirtschaftsexzessen hat sich die aktuelle Regierungsform als meist zu schwach erwiesen. Die heute mangelnde Attraktivität der politischen Laufbahn gab dem Berufsbild des Berufspolitikers zu viel Aufwind. Nun nur den Chef des Robert Koch Instituts zu tauschen genügt nicht. Und der nach dem Abklingen der Epidemie überfällige Untersuchungsausschuss auch nicht. Unsere Philosophie, wie Parlamente und Ministerien und wichtige Behörden besetzt werden, muss sich ändern.

Nur die größte Partei kann das naturgemäß schaffen, es sei denn, es gibt eine echten Bürgeraufstand für eine neue Demokratie. Es ist zu hoffen, dass deshalb der zukünftige Parteivorsitzende der CDU diese Schwächen zum Anlass nimmt, um für höhere Kompetenz der Parlamente und der Ministerernennungen zu sorgen. Die erste Verantwortung dafür liegt bei den Parteien.

Mein Vorschlag wäre, dass die Parteien zukünftig auf eine gute Mischung der unterschiedlichen Berufsgruppen und Kompetenzen achten müssen und im Gegenzug das Direktmandat entfällt. Denn befreit vom Regionalbezug, können leichter Wahllisten mit Kandidaten mit Wirtschaftserfahrung, mit Erfahrung in sozialen Verbänden, in der Wissenschaft, der Bundeswehr und auch in Bildung und Lehre aufgestellt werden. Die Aufhebung des Direktmandats ist schon länger in Diskussion, weil es zu einer teuren Aufblähung des Bundestags führte. In der aktuellen Diskussion der Reform des Wahlrechts geht es also um mehr, als nur um die Verkleinerung des Bundestags. Es geht um unsere Stärkung als Demokratie.

Es gibt eine übergeordnete politische Verantwortung

Jede Treppe wird von oben gekehrt. Politisch verantwortlich für die aktuellen Probleme Deutschlands im Vergleich mit Ostasien ist letztlich die Bundeskanzlerin, deren Schwäche in Verwaltungsfragen und bei Ministerernennungen sich durch die vierzehn Jahre ihrer Regierungszeit zieht. Zwei Wochen Isolation im Home-Office haben sicher Nachdenklichkeit erzeugt und hoffentlich klargemacht, dass gerade die neue Popularität nun einen baldigen Rücktritt nahegelegt. Die Reform des Wahlsystems ist ein überparteiliches Thema, das wir nutzen sollten, um unser politisches System konsequent zu überarbeiten.

Dr. Peter H. Grassmann studierte Physik in München, promovierte dort bei Werner Heisenberg und ging ans MIT. Bei Siemens baute er die heute milliardenschwere Sparte der Bildgebenden Systeme auf. Als Vorsitzender von Carl Zeiss (bis 2001) sanierte er das Stiftungsunternehmen in Jena zusammen mit Lothar Späth. Er ist Kritiker einer radikalen Marktwirtschaft und fordert mehr Fairness und Nachhaltigkeit. Grassmann erhielt zahlreiche Auszeichnungen und engagiert sich bei der Münchner Umwelt-Akademie, bei "Mehr Demokratie e.V.", der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Gesellschaft und dem Senat der Wirtschaft.

Von Peter Grassmann ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Zähmt die Wirtschaft! Ohne bürgerliche Einmischung werden wir die Gier nicht stoppen".