Falsche Politik: "Zwangsrekrutierung von Pflegepersonal"

Das Epidemie-Gesetz in NRW setzt sich über Grundrechte hinweg. Landeschef Laschet agiert nach einer bequemen Schablone, wie sie die Corona-Krise zur Verfügung stellt. Kommentar

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Die Kurve der neu entdeckten Ansteckungen geht zurück, Entwarnung wird vom Robert-Koch-Institut nicht gegeben. "Das wäre verfrüht, müssen die nächsten Tage abwarten, ob sich daraus ein Trend ableitet", so RKI-Chef Lothar Wieler.

Allerdings ist der Moment günstig, um die Erregungskurven zur Corona-Krise herunterzufahren, ohne das Virus im persönlichen Verhalten zu verharmlosen. Aber es geht auch um eine andere Dimension. "Ich will nicht die Hoffnung verlieren, dass wir nach dem Abflauen der Epidemie wieder zum demokratischen Alltag zurückkehren", so Juli Zeh im SZ-Interview (leider mit Zahlschranke).

Der Schriftstellerin und Juristin bereitet der Eindruck Sorge, dass drakonische Verordnungen aus einer Kopflosigkeit heraus verhängt wurden, um den Eindruck von Stärke zu vermitteln. "Als müsste und könnte man jetzt alles, was sonst gilt, schnell mal über Bord werfen, weil man irgendwie nicht weiß, wie man es sonst machen soll."

"Erlaubnis zur Zwangsrekrutierung von Pflegekräften"

Ein triftiges Beispiel dafür ist das "Epidemie-Gesetz", das die NRW-Regierung am 1. April gerne rasch im Eilverfahren durch den Landtag gebracht hätte. Der zum Abnicken in Krisenzeiten geeignete Titel des Gesetzes zur "konsequenten und solidarischen Bewältigung der Covid-19-Pandemie" sollte ohne Expertenanhörung und ohne Ausschussberatung debattiert werden. Doch gab es Druck dagegen.

Es findet sich in Paragraf 15 des im geplanten Epidemie-Gesetzes eine Erlaubnis zur Zwangsrekrutierung von Pflegekräften:

§ 15
Verpflichtung zum Einsatz medizinischen und pflegerischen Personals

(1) Die zuständigen Behörden nach § 3 können von Personen, die zur Ausübung der Heilkunde befugt sind oder über eine abgeschlossene Ausbildung in der Pflege, im Rettungsdienst oder in einem anderen Gesundheitsberuf verfügen, die Erbringung von Dienst-, Sach- und Werkleistungen verlangen, soweit das zur Bewältigung der epidemischen Lage nach § 11 dringend erforderlich und angemessen ist. Die Behörden können jede Person nach Satz 1 unter gleichen Voraussetzungen auch zur Erbringung von Dienst-, Sach- und Werkleistungen an Einrichtungen der medizinischen oder pflegerischen Versorgung zuweisen und verpflichten.

Gesetzesentwurf NRW

Die Kritik wuchs, auf den Druck hin wurde der Fahrplan zur Verabschiedung des Gesetzes geändert. Nach "zähem Ringen der Parteien" wurde eine Anhörung von Sachverständigen angesetzt, die am gestrigen Montag stattfand. Die Rechtsexperten äußerten Bedenken gegen das Gesetzesvorhaben der schwarz-gelben Koalition unter Regierungschef Armin Laschet.

Bemängelt wurde "insbesondere das Fehlen einer Befristung und die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Zwangsverpflichtung von ärztlichem und pflegerischem Personal zum Dienst in Kliniken".

Zwei Staatsrechtslehrer vertraten sogar die Auffassung, die vorgesehenen Zwangsverpflichtungen zum Einsatz in der Corona-Krise seien verfassungswidrig, berichtet die Westdeutsche Zeitung (WZ). Namen nannte sie nicht; der Bericht von evangelisch.de ist etwas ausführlicher und die NRW-SPD schließt sich dem Vorwurf "verfassungswidrig" an.

Übermittelt wird die Empfehlung der meisten Sachverständigen, "gravierende Entscheidungen über einen epidemischen Notstand nicht in die Hand des Gesundheitsministers zu legen, sondern dem Parlament zu überlassen" (WZ).

Laschet: Keine Rede von Korrekturen

Was bedeuten die Vorgaben für die Abstimmung im NRW-Landtag, die für kommenden Donnerstag angesetzt ist? Bei seiner heutigen Pressekonferenz gab sich der CDU-Regierungschef Armin Laschet "zurückhaltend entschlossen", er versuchte den Kunstschritt, keinen Rückzieher zu machen - was seinem Profil als gehandelter Kanzlerkandidat schaden würde - und zugleich sich nicht so sehr zu verpflichten, dass ihm die Kritik am Gesetzesvorhaben ("nicht verfassungskonform" später nicht auf die Füße fällt.

Er betonte, dass der Gesetzentwurf "konsensual" und "verfassungsmäßig" verabschiedet werden soll. Von Korrekturen sprach er nicht. Es sei nun eine Sache der Fraktionen, eine gemeinsame Lösung zu finden, um "handlungsfähig" zu bleiben. Er berief sich auf das Bundesinfektionsgesetz, das den Rahmen für Ländergesetze gebe.

[Einfügung: Das Infektionsgesetz "zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite" wurde vom Bund am am 24. März beschlossen. Zwar war Zwangsrekrutierung auch vorgesehen, wurde aber wieder zurückgenommen. Manche Länder spitzten das zu oder versuchen es. Bayern preschte als Bundesland gleich vor, um Demokratie und Grundrechte im Zeichen des Gesundheitsnotstands auszuhebeln, die Opposition konnte nur ein paar Spitzen brechen: Bayern: Gesundheits- oder Ermächtigungsgesetz in Rekordzeit durchgepeitscht. Die Zwangsrekrutierung blieb: Gesundheitsnotstand: "Jede geeignete Person" soll zur "Erbringung von Leistungen" herangezogen werden können).]

Laschets unverbindliche Rhetorik bei der Pressekonferenz stand auffällig im Gegensatz zu den vielen Fragen und zur Empörung, die der Gesetzesentwurf ausgelöst hat. Er tat so, als ob es das gar nicht gebe. Die Fragen der Journalisten zielten auch gleich auf das Problem ab. Sie waren nicht hartnäckig, zeigten aber immerhin an, dass der Gesetzesentwurf, der eklatant in Grundrechte wie dem der persönlichen Freiheit und der Berufsausübung eingreift, nicht einfach hingenommen wird. Es waren die ersten Fragen, die Laschet gestellt wurden.

Die Art, wie Laschet mit unbequemen Fragestellungen umgeht, um die Handlungsfähigkeit der Exekutive zu erhalten und sein Profil als krisenfester Politiker, zeugt nicht gerade von einer Haltung, die sich auf unbequeme Schwierigkeiten einlassen kann. Sein Auftritt, der wie schon frührere darum bemüht ist, die Anmutung eines überlegten Entscheiders zu übermitteln, lässt eher vermuten, dass er Schwierigkeiten aus dem Weg geht.

Davon gibt es genug. Denn die Notwendigkeit, die die NRW-Regierung offenbar mit einer "Zwangsrekrutierung" von Pflegepersonal beheben will, ist nicht das Ergebnis der Sars-CoV-19-Pandemie, sondern von vorhergehenden politischen Entscheidungen - freilich nicht nur im Land (siehe: Spahn wünscht sich mehr Mut bei Debatte um Krankenhausschließungen). Covid-19 legt das Elend der politischen Führung nur auf eine Weise auf den Tisch, wie es sich die Anhänger von Bertelsmann-Forderungen ("weniger Krankenhäuser") nicht hätten träumen lassen.

Doch seit das Coronavirus aufgetaucht ist, scheint alles anders zu sein, so Die Zeit, die einen Landrat zitiert: "Dieselben Politiker und Interessenvertreter, die bis vor Kurzem Schließungen verlangt haben, fordern jetzt eine Ausweitung der Kapazitäten."

Logik von Betriebswirtschaftlern: Gründe des Pflegenotstands

Der Pflegenotstand hat Gründe, die sich schon seit Jahren abzeichnen. Die Logik der Betriebswirtschaftler, die für Krankenhäusern ein ähnliches Zeitschema anlegten wie für die "Just-in Time-Produktion" in der Realwirtschaft, war lange unangefochtene Maßgabe. Als ob man Genesung so produzieren könne wie eine Ware und Zeit nicht ein außerordentlich wichtiger, schwer im Voraus zu berechnender Faktor für die Gesundung wäre.

In Überstunden, Unterbesetzung und damit einhergehenden hochgesteigertem, deplatziertem Effizenzdruck, der aufs Betriebsklima geht, mit denen Pflegerinnen und Pfleger ihren Ausstieg begründen. Die Androhung einer "Zwangsrekrutierung" liefert diesem Trend gegenüber keine neuen Impulse zu einer "intrinsischen Motivation", sondern wirkt eher abschreckend. Der Krisenbewältigungsansatz, mit Schockzahlen, Angst, Zwang und Strafandrohungen zu operieren, findet schnell seine Grenzen.

Dass das schwedische Modell, das auf vernünftiges, intrinsisch motiviertes Handeln der einzelnen Bürger setzt, so viele Befürworter hat, sollte nebenbei gesagt - jenseits der Vernunft der Epidemiologen und ihrer nachvollziehbaren Forderungen, die auf den Schutz der Gemeinschaft zielen -, wenn es ums politische Handeln geht, zu denken geben und berücksichtigt werden.

Liest man Texte und Bücher, die zur Finanzkrise der Jahre 2008/2009 verfasst wurden, so erstaunt heute die dort fortlaufend anzutreffende Einsicht, dass aber jetzt auf keinen Fall mehr so weitergemacht werden kann wie vor der Krise. Wer sich fragt, was davon an spürbaren wirtschaftspolitischen Konsequenzen, die auf gemeinschaftlichen Nutzen ausgerichtet sind, übrig blieb, muss lange nachdenken und kommt dann zu keinem guten Ergebnis.

So kann man gegen diese Erfahrungswerte nur darauf drängen, dass die Wertschätzung des Pflegepersonals, die gerade billig verteilt wird, sich auch wirklich in einer Neuausrichtung der Arbeitsverhältnisse zeigt. Die "Zwangsrekrutierung" ist Zeichen eines Notstands, den eine unbarmherzige, auf Erfolgszahlen ausgerichtete Politik herbeigeführt hat. Ob sich daran etwas ändert?