Taugt Corona für eine System-Wende?

Einige Linke träumen schon vom Ende des Kapitalismus, während die FDP die Revolution des Mittelstandes heraufbeschwört. Nichts davon dürfte eintreten, doch vielleicht bietet die aktuelle Gefahr auch eine Chance: Für mehr Demokratie statt weniger

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Mein Eindruck von der deutschen Politik der letzten Jahre deckt sich mit meiner Erinnerung an die letzten Jahre der DDR: Stillstand bis zur Agonie. Die da herrschen - mit wenigen Ausnahmen "weiße alte Männer" - haben jeden Kontakt zur Realität verloren. Sie agieren nicht mehr, sondern reagieren nur noch, und dann meist zu spät und ziemlich hilflos.

Während das in der DDR und anderen Staaten des sozialistischen Lagers wohl an der selbstgesponnenen Filterblase und der Arroganz einer Ideologie lag, die für sich die "historische Wahrheit" und damit Unbesiegbarkeit qua definitione reklamierte, scheint mir diese Hilflosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen in den westlichen Demokratien systemimmanent zu sein. Ein Webfehler der parlamentarischen Demokratien - mit Betonung auf parlamentarisch, also nicht der Demokratie an sich. Die Parteiendemokratie ist strukturiert wie die kapitalistische Wirtschaft, sie basiert auf Konkurrenz. Es geht um Macht, Einfluss, Geld für die eigene Elite, nicht um das Wohl des Volkes, was eine Volksherrschaft (Demokratie) doch als erstes im Auge haben müsste.

Tanz auf der Titanic

Wir fahren seit Jahren auf der Titanic. Ein Hauch von Luxus weht sogar bis in die Unterdecks, und die Kapelle spielt sowieso für alle. Der Job unseres Kapitäns* sollte es sein, Eisbergen vorausschauend auszuweichen. Doch das dankt ihm keiner, weil es im besten Fall gar keiner bemerkt. Der "demokratisch" gegen einen oder mehrere Gegenkandidaten gewählte, aber auch wieder abwählbare Kapitän könnte versucht sein, den Unfall in Kauf zu nehmen, um sich anschließend als Retter zu profilieren. Schwer vorstellbar?

Wem Macht- und Karrieresucht als Motive für solch ein Verbrechen nicht genügen, der werfe einen Blick auf die Eigentumsverhältnisse des Schiffes. Ist es vielleicht schrottreif, aber hoch versichert, also ein Totenschiff? Zwar sind die Eigentümer auch mit an Bord, aber das macht nichts, wenn nur die Rettungsboote für die Passagiere des Oberdecks ausreichen.

Nach diesem Prinzip der willkommenen Katastrophe scheinen mir Politik und Politiker seit vielen Jahren zu funktionieren: Sie verhindern nicht mögliche Unfälle (z.B. Terroranschläge), sondern warten sie fahrlässig ab oder - wenn man mehr oder weniger plausiblen "Verschwörungstheorien" glauben mag - befördern sie sogar durch Wegschauen oder heimliche Unterstützung.

Wie absurd und uneffektiv unsere Parteiendemokratie konstruiert ist, zeigt die folgende Überlegung:

Es gibt für eine politische Partei nichts Schlimmeres als einen klugen, vorausschauenden, ehrlichen, überzeugenden, tatkräftigen und dennoch sympathischen Politiker, der Visionen hat und die Massen begeistern kann - der aber in einer konkurrierenden Partei ist. Der muss mit allen Mitteln kaputtgemacht werden, zur Not mit falschen Anschuldigungen und Verleumdungen.

Wichtige und vernünftige Anträge bekommen im Parlament nur deshalb keine Mehrheit, weil sie von der "falschen" Partei - etwa der Linken - stammen. Seinen abstrusen Höhepunkt fand diese wählerverachtende Parteienkonkurrenz jüngst in Thüringen. Gibt es äquivalent auch in der Wirtschaft: Gefährlich gute Produkte der Konkurrenz werden blockiert und verleumdet, siehe Huawei und Nord Stream.

Bankrott der (Parteien-)Demokratie

Während eine "vernünftige" Regierung vorausschauend handelt, um drohendes Unheil abzuwenden, bedarf unsere Regierung offenbar des schon eingetretenen Unheils, um überhaupt handeln zu können. Dann handelt sie natürlich genauso autoritär - nur eben später - wie die "autoritären" Regimes z.B. in Asien. Vernunft ist immer autoritär. (Nur leider gilt es umgekehrt nicht: Autoritäre Regimes handeln keineswegs immer vernünftig.)

Als im Februar im weit entfernten China der Kampf gegen das Virus mit drastischen Maßnahmen geführt wurde, tönten einige Politiker und Kommentatoren, so etwas wäre "in einer Demokratie" nicht möglich. Sie sind schnell eines Besseren belehrt worden. Aber was sie vielleicht bis heute nicht checkten: Sie hatten diese hochgelobte Demokratie damit für bankrott erklärt. Denn was nützt uns die beste Demokratie, wenn sie nicht in der Lage ist, eine Notlage mindestens genauso gut in den Griff zu bekommen wie ein autoritäres Regime?

Als das Systemversagen überdeutlich wurde, beeilten sich prompt Medien von Wallstreet Online bis Bild, fast ängstlich zu beteuern, der Kapitalismus sei nicht schuld an der Pandemie. Natürlich nicht. Schuld sind - wir. Wir alle.

Nun wird sichtbar, was schon immer im Herzen der kapitalistischen Ideologie schlummerte: "Die Hölle, das sind die anderen." (Sartre) Bisher waren wir nur Konkurrenten um Arbeitsplatz oder Profit, nun sind wir alle Gefährder, weil potenzielle Virusträger. Drastische Strafen drohen bei Missachtung der Abstands- und Ausgehregeln, und die großen Weltzerstörer appellieren an uns kleine Sünder und Super-Spreader, doch unseren Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten: Müll trennen und Masken basteln.

Auf der anderen Seite träumen nicht nur Linke vom Ende des Kapitalismus, zumindest des Neo-Liberalismus. Teilweise ist dies von grenzenloser, aber auch gefährlicher Naivität, wenn der totale wirtschaftliche Zusammenbruch und damit Millionen Opfer der Preis sein sollen. Doch natürlich birgt eine Krise auch Chancen, ja ist vielleicht die einzige Chance für revolutionäre Veränderungen.

Für den FDP-Geschäftsführer Marco Buschmann liegt die "Revolution der Mittelschicht" schon in der Luft. In welche Richtung eine solche "Revolution" einer frustrierten Mittelschicht in der Regel geht, hat Deutschland vor 90 Jahren erlebt. Nach rechts.

Diese Gefahr ist leider viel realer als die Chance zu einer System-Wende, wie wir sie 1989 erlebten. Die politischen Strukturen scheinen genauso verkrustet, doch die dahinter stehenden wirtschaftlichen Mächte, also Banken und Großkonzerne, sind heute, ganz anders als in der DDR, quicklebendig. Ein paar Monate Produktionsausfall können sie locker aus ihren Warenlagern ausgleichen, so, wie sie 1990 die Regale in den Kaufhallen ganz Ostdeutschlands mit Westwaren füllten. Und etwaige finanzielle Verluste werden ja vom Staat - also den Steuerzahlern - beglichen. Bluten wird der Mittelstand, doch schon jetzt gibt es Gewinner, die Milliarden an der Krise verdienten.

Auch wenn die Parteien-Demokratie nach dem Muster der kapitalistischen Konkurrenz gestrickt sein mag, heißt das noch lange nicht, dass Kapitalismus die Demokratie wirklich braucht. Das zeigt nicht nur 1933, sondern eine Mehrzahl an diktatorisch-kapitalistischen Regimes in der Welt. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Luxus, den sich nur die reichsten Länder leisten. Was heißt: Der kommenden Wirtschaftskrise fällt im Zweifelsfall nicht der Kapitalismus zum Opfer, sondern die Demokratie. Und eigentlich stecken wir in dieser Entwicklung schon lange drin.

Willkommene Katastrophen

Schon einmal, am 11.9.2001, war es ein "Unfall", ein angeblich völlig überraschendes, von außen kommendes Unheil, das Angst und Schrecken verbreitete und es erlaubte, Anti-Terror-Gesetze durchzuwinken, Vergeltungsmaßnahmen und Drohnenmorde anzuordnen und schließlich Kriege zu beginnen, alles fast unwidersprochen. Die Terroranschläge waren real und furchtbar, aber doch nur Nadelstiche im Vergleich zu dem Terror, den die USA und Verbündete als Vergeltung über die angeblichen Unterstützer ausschütteten. Innenpolitisch dient die Terrorgefahr bis heute zur Begründung für Vorratsdatenspeicherung, Abhörung und Videoüberwachung. Nun kommen Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen und möglicherweise Personentracking dazu.

Es heißt ja, dass alle diese Beschränkungen wieder aufgehoben werden, wenn die Gefahr vorüber ist. Ich zweifle gar nicht daran, dass solche Beteuerungen oft ehrlich gemeint sind. Doch wann kommt das nächste Virus? Könnte es sein, dass die Virengefahr zu einer ebenso (nein, stärkeren!) ständigen Bedrohung wird wie die dauer-beschworene Terrorgefahr nach 9/11? Es gibt Spekulationen, das Corona-Virus sei menschengemacht. Das ist höchstwahrscheinlich falsch, aber die prinzipielle Möglichkeit, Viren maßzuschneidern und als Waffe einzusetzen, rückt mit den Fortschritten der Gentechnik näher und näher - wenn es sie nicht bereits gibt.

Direkte Demokratie

Eine Gesellschaft, die nach dem Terror-Angst-Virus nun mit dem Corona-Angst-Virus infiziert wird, muss ihre demokratischen Errungenschaften besonders gut schützen. Diese Aufgabe ist bei den konkurrierenden Parteien der parlamentarischen, "repräsentativen" Demokratie, die der eigenen Macht zuliebe aus Angst Profit schlagen, denkbar schlecht aufgehoben.

Ihr Versagen bei der Corona-Vorsorge, noch mehr bei der Klima-Vorsorge, sollte Grund genug sein, sie durch eine direkte Demokratie zu ersetzen. Die Chance dafür gab es zweimal, 1948, als das Grundgesetz beschlossen wurde, und 1990, als eine gemeinsame Verfassung bei der Vereinigung möglich und eigentlich vorgeschrieben war. Beide Male wurde diese Chance vertan.

Die Privatisierungen und Sparmaßnahmen bei Krankenhäusern und Pflege, in Bildung und Erziehung hätten sicherlich keine Mehrheit gefunden, wenn man das Volk befragt hätte. Wir wären heute besser gegen eine Pandemie gewappnet. Das Volk ist oft klüger als seine Vertreter, zumindest, wenn es nicht vorsätzlich verdummt und in die Irre geführt wird.

Die Corona-Krise wird das kapitalistische Wirtschaftssystem nicht abschaffen, sondern eher dabei helfen, es - auf Kosten des Mittelstandes und der Arbeiter - auf die nächste Stufe von Kapitalkonzentration und Produktionseffizienz zu hieven. Doch sie bietet vielleicht die Chance, das politische System zugunsten einer besseren Beteiligung der am meisten Betroffenen zu ändern und die sozialen Folgen dadurch abzumildern. Job des Käpt’ns ist es wie gesagt, den Eisbergen auszuweichen. Doch wir wollen bestimmen, wohin die Reise geht.