US-Funktionseliten auf dem Apokalypse-Trip

Bernie Sanders zur Beendigung seiner Kampagne. Screenshot von Bernie-Sanders-Video

Mit dem Rückzug von Bernie Sanders aus dem Rennen ums Weiße Haus schwinden die Chancen auf eine geordnete Systemtransformation rapide - ein Kommentar

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Der linke US-Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders zieht sich aus dem Vorwahlkampf der Demokraten zurück, um Joe Biden, dem Kandidaten des Parteiestablishments, das Feld zu räumen. Zum Abschied gibt es für den demokratischen Sozialisten ganz viel Lob von all jenen Medien, die zuvor alle Hebel in Bewegung setzten, um ihn zu diskreditieren und zu marginalisieren.

Immer wieder wird betont, dass die Sanders-Kampagne den politischen Diskurs verändert und das politische Koordinatensystem der Vereinigten Staaten nach links verschoben habe. Der Nachrichtensender CNN betonte etwa, dass die gegenwärtige Pandemie die "Kernideen" des Sozialisten, der unter anderem für eine allgemeine Krankenversicherung kämpft, bestätigt habe. Ähnlich argumentierte die New York Times, die kurz nach dem Abgang von Sanders feststellte, dass dieser in sozialpolitischen Fragen schlicht "recht hat".

Wie üblich, kopiert der einfallslose Teil der deutschen "Qualitätspresse" diese Linie. Zeit-Online bezeichnete Bernie Sanders gar als Kämpfer für den Gemeinsinn, womit die bieder-sozialdemokratische Umdeutung des Vermächtnisses des sozialistischen Politikers, der immerhin noch offensiven Klassenkampf propagierte, bereits eingeläutet wurde. Zum Abschied gibt es somit noch ein paar Beleidigungen, wie sie nur opportunistische Sozialdemokraten formulieren können.

Die Wall Street weiß besser einzuschätzen, wer da eigentlich aus dem Weg geräumt wurde: Der Börsenindex Dow Jones verzeichnete einen Kurssprung um rund 700 Punkte, nachdem der Rückzug des linken Präsidentschaftskandidaten bekannt wurde. Im Umfeld des Parteiestablishments der Demokraten knallten ebenfalls die Sektkorken. Ehemalige Mitarbeiter von Hillary Clinton wollten gar spontan eine Onlineparty organisieren, um ihren Sieg zu feiern.

Und auch in der sozialdemokratischen Linken gibt es Stimmen, die einfach glauben, auf der erfolgreichen politischen Arbeit von Sanders in Zukunft aufbauen zu können. Das sozialdemokratische Magazin Jacobin meinte etwa, nur eine Schlacht verloren zu haben, doch man werde aufgrund der Popularität linker Ideen in den jungen Generationen die Zukunft und den Krieg für die soziale Demokratie nach nordischem Muster gewinnen. Das Portal Commondreams veröffentlichte ein Dankschreiben von Klimaschützern an Sanders, in dem dieser dafür gelobt wurde, das Thema stärker in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt zu haben.

Diese Einschätzungen verkennen leider die Dynamik des Krisenprozesses des kapitalistischen Weltsystems, sie fallen in statisches Denken zurück, in Verdinglichung - als ob angesichts der Klimakrise, angesichts eskalierender sozialer Verwerfungen noch Zeit wäre, brav auf den nächsten Urnengang in vier Jahren zu warten. Die Welt befindet sich am Vorabend einer Weltwirtschaftskrise, die Klimakrise droht jetzt vollends außer Kontrolle zu geraten, da viele Kippunkte des Weltklimasystems durch den kapitalistischen Wachstumswahn überschritten werden, sodass ein radikales Umsteuern, wie es Sanders etwa in der Klimafrage propagierte, unverzüglich notwendig wäre. In vier Jahren ist es schlicht zu spät. Es wird vor allem zu spät sein, um den katastrophalen Folgen der Klimakrise effektiv zu begegnen.

Das Team von Technokraten und Lobbyisten hinter dem, was noch von Joe Biden übrig ist, hat schon klargemacht, dass eine eventuelle demokratische Biden-Präsidentschaft kein radikales Umsteuern in der Klimapolitik mit sich bringen werde. Angesichts der rasch voranschreitenden Klimakrise wäre eine Biden-Präsidentschaft ein klimapolitisches Desaster.

Sanders war die letzte Chance, den kommenden sozialen Umbruch in den USA vielleicht doch in geordneten Bahnen zu bewältigen

Die bittere Wahrheit lautet somit, dass Sanders eigentlich den letzten Hoffnungsschimmer bildete, die unausweichliche Systemtransformation, die sich schlicht aus der Systemkrise des Kapitals ergibt, noch in einigermaßen geordneten Bahnen verlaufen zu lassen. Dies gerade nicht, weil seine sozialistische Politik erfolgreich gewesen wäre, die eigentlich auf die anachronistische Wiederherstellung des fordistischen Sozialstaates bei gleichzeitiger ökologischer Erneuerung des Kapitalismus im Rahmen eines Green New Deal abzielte. Dieser linke Sozialdemokratismus hätte aber zumindest eine Ausgangsbasis geliefert für einen Prozess bewusst organisierter sozialer Transformation. Auch gerade deswegen, weil es Sanders ernst meinte mit seinem demokratischen Sozialismus, weil er kein Opportunist war, weil es in Krisenzeiten durchaus ankommen kann auf Personen in Schlüsselpositionen.

Sanders war bereits ein Kompromiss, er war die letzte Chance, den kommenden sozialen Umbruch in den Vereinigen Staaten eventuell doch in geordneten Bahnen zu bewältigen. Diese Chance scheint verstrichen zu sein. Die Biden-Kampagne hingegen verspricht den Wählern eine Rückkehr zur Normalität, was sich angesichts der gewärtigen Krise bereits voll blamiert. Das Festhalten an dem, was zerfällt, stellt den kürzesten Weg dar, um im sich im Mad-Max-Land wiederzufinden.

Das Bemühen der US-Funktionseliten, am Bestehenden festzuhalten, bildet angesichts der manifesten ökologischen wie ökonomischen Entwicklungsschranken, an die das Kapital stößt, das perfekte Rezept für ein komplettes sozioökonomisches Desaster im Innern, wie für einen chaotischen, katastrophalen Zusammenbruch der US-Hegemonie auf globaler Ebene. Vielleicht wird man in wenigen Jahren die Leistung der Nomenklatura des real existierenden Sozialismus bei dessen Abwicklung in den 90er Jahren zu würdigen wissen, die - allen lokalen Konflikten zum Trotz - eben ohne Großkriege verlief.

Wer steht noch hinter der Politatrappe Joe Biden, die ohnehin bald durch irgendeinen kapitalhörigen Technokraten ausgetauscht wird? Es sind kapitalistische Funktionseliten, die sich selber schon auf dem Apokalypse-Trip befinden, die eben der krisengebeutelten kapitalistischen Vergesellschaftung zutiefst misstrauen, die sie nach oben spülte.

Der kostspielige Bau von Katastrophenbunkern, der Aufkauf von Immobilien in Fluchtorten wie Neuseeland - sie haben gerade in jenen Kreisen Konjunktur, die den sozialistischen Reformer Sanders mit aller Macht verhinderten. Der Amazon-Oligarch Jeff Bezos etwa, dessen "Washington Post" die Sanders-Kampagne beständig attackierte, weil dieser eine Reichensteuer einzuführen gedachte, will den Mond erobern. Elon Musk, den Egomanen hinter Tesla und SpaceX, zieht es auf den Mars.

Lieber tot als rot - unter dieser Devise, die eigentlich nur die krisenbedingten Selbstzerstörungstendenzen des Kapitals exekutiert, scheint die US-Oligarchie in der gegenwärtigen Vorwahl gehandelt zu haben, die den US-Wählern nun wirklich keine Wahl mehr lässt. Es bleibt nur noch die Hoffnung auf die progressive Gestaltung sozialer Kipppunkte, die in Wechselwirkung mit den kommenden Krisenschüben auftreten werden.

Was von Sanders nach seinem Scheitern letztendlich bleibt, ist ein schales Vermächtnis: ein dröger, anachronistischer Hyper-Sozialdemokratismus, der sich insbesondere in der deutschen Linken unter Eindruck des US-Wahlkampfes und einer möglichen Regierungsbeteiligung in Berlin breit macht. Hieraus resultiert eine verkürzte Kapitalismuskritik, die selbst angesichts der manifesten Systemkrise des Kapitals, angesichts der eskalierenden Klimakrise überall nur Verteilungsfragen und Klassenkampf sehen will, ohne die sich daraus ergebende Überlebensnotwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus ernsthaft zu thematisieren. Der Sandersche demokratische Sozialismus ohne Bernie Sanders ist folglich sperrangelweit offen für Opportunismus und eine künftige Rolle als Subjekt kapitalistischer Krisenverwaltung.

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