Das wissenschaftliche Publikations- und Reputationssystem ist gehackt

Wissenschaftsjournalist Leonid Schneider über Paper Mills, bei denen sich gefälschte wissenschaftliche Papers bestellen und in Journalen veröffentlichen lassen

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Herr Schneider, Sie befassen sich seit vielen Jahren in Ihrem Blog forbetterscience mit Dysfunktionalitäten im Wissenschaftssystem, speziell im Bereich wissenschaftlichen Publizierens. Das Phänomen der Paper Mills stellt eine neue Kuriosität dar. Könnten Sie kurz erklären, was diese Paper Mills denn sind?

Leonid Schneider: Eine Papiermühle ist ein Service Provider, so wie Essay-Mühlen, die Studenten gefakte Aufsätze und ganze Dissertationen verkaufen. Die Kunden der Papiermühlen sind aber Akademiker und Ärzte. Sie bestellen dort als Kunde ein wissenschaftliches Paper, das zu einem Thema ihrer Forschungsrichtung passt. Das Paper wird von Ghostwriters verfasst, mit komplett erfundenen wissenschaftlichen Ergebnissen und komplett erfundenen gefälschten Daten.

So wie es aussieht bieten Papiermühlen einen vollen Service an: Das Paper wird nicht nur geschrieben, sondern sogar beim Journal eingereicht, man macht auch das Peer Review mit, gegebenenfalls liefert man noch mehr erfundene Daten nach. Ob korrupte Journal-Editoren auf der Gehaltsliste der Papiermühle stehen, ist unklar, aber ziemlich wahrscheinlich, denn manche Journals sind ja ganz besonders auffällig betroffen.

Die Mühle nimmt dabei die Identität des gelisteten Autors, also des Kunden, inklusive Geist-Emailadressen, an. Der Kunde muss nichts tun, außer zu zahlen, und bekommt am Ende eine publizierte wissenschaftliche Studie in einem internationalen Journal, ohne irgendwelche Forschung dafür getan zu haben.

Man soll das aber nicht mit Dienstleistern verwechseln, die den Wissenschaftlern lediglich anbieten, das Paper nach Kunden-Vorgaben aus dessen real existierenden Forschungsdaten zu schreiben. Der Kunde reicht das Paper in diesem Fall auch selbst beim Journal ein. Obwohl es sein kann, dass manche Dienstleister ein breiteres Spektrum anbieten ...

Von welchen Quantitäten muss man hier ausgehen?

Leonid Schneider: Da stehen wir erst am Anfang. Aber es wird sehr, sehr viel sein. Vor allem aus China, wo von Ärzten erwartet wird, dass sie Artikel veröffentlichen, wenn sie befördert werden wollen. Alle Ärzte, nicht nur die an Unikliniken, auch die in Provinzkrankenhäusern.

Die vier Kollegen mit den Pseudonymen Smut Clyde, Morty, Tiger BB8 sowie die allseits bekannte Elisabeth Bik, die diese Hunderten von gefaketen Paper aufgedeckt haben (fast 450 konnten einer einzigen Papiermühle zugeordnet werden), haben eine unglaubliche Arbeit geleistet. Eine so unglaubliche Arbeit, dass sogar das Journal Science sich weigert zu glauben, sie alleine hätten sie erbracht.

Die Leistung von Smut Clyde, Morty und Tiger BB8 wurde nämlich von der Science-Redaktion negiert und gar zwei komplett unbeteiligten, aber "respektableren" Personen zugeordnet: einer australischen Professorin und einer Mitarbeiterin des Journals FEBS Letters. Unser Originalartikel wurde absichtlich nicht erwähnt und nicht verlinkt. Damit will ich sagen: Statt produktiver Unterstützung bekommen meine Kollegen und ich eher solche Feindseligkeit zu spüren. Ich hoffe sie haben trotz allem Lust weiter zu machen.

Mühlenbetreiber und die Editoren bei solchen Journals müssen unter einer Decke stecken

In welchen Journalen werden denn besonders häufig Produkte aus Paper Mills als Artikel publiziert?

Leonid Schneider: Meine Kollegen haben als besonders problematisch folgende Journals überführt: Journal of Cellular Biochemistry (Wiley) mit 52 Papers, Biomedicine & Pharmacotherapy (Elsevier) mit 46 Papers und Artificial Cells Nanomedicine and Biotechnology (Taylor & Francis) mit 76 Papers. Viele andere sind auch betroffen, interessant ist auch der Fall des Italienischen European Review for Medical and Pharmacological Sciences (Verduci Editore). Die haben massenweise Papers von Papiermühlen angenommen. Es ist ziemlich klar, dass die Mühlenbetreiber und die Editoren bei solchen Journals unter einer Decke stecken müssen. Eine Liste findet sich online und kann eingesehen werden.

Allgemein sind es eher unauffällige Journals mit einem nicht zu hohen Impact Factor, der aber hoch genug ist, um den Kunden die Beförderung oder einen Gehaltsbonus zu sichern. Da gibt es sehr viele zur Auswahl und die Papiermühlen finden immer einen willigen Partner. Vor allem, wenn es ein Open Access Journal ist, bei dem das Geld vom "Autor" direkt zum Verlag fließt.

Es handelt sich bei also in der Regel nicht um sogenannte Predatory oder Fake Journals?

Leonid Schneider: Nein, überhaupt nicht. Andererseits müssen wir unsere Definition von Predatory Journal überdenken. Denn inzwischen stellte sich heraus, dass auch Predatory Journals eine Art Peer Review betreiben, mit echten Wissenschaftlern als Peer Reviewer. Wie meine Kollegen aufdeckten, können scheinbar seriöse Journals bei Wiley, Elsevier und Taylor & Francis in Wirklichkeit Predatory Journals sein, bei denen redaktionelle Aufsicht und Peer Review reine Fassade sind.

Wie gelingt es, die Publikationen aus Paper Mills als deren Produkte zu entlarven?

Leonid Schneider: Die Kollegen haben halt ein Supertalent dafür, Duplikationen aufzudecken. Und die sehen dann, dass verdächtig ähnliche, fabriziert aussehende Western Blots oder FACS Plots (ganz grob gesagt, Antikörper-basierte Analysen der Protein-Expression/Modifikation) immer wieder in verschiedenen Paper auftauchen. Das heißt dann: Alle diese Paper stammen von der gleichen Papiermühle ab. Dann suchen sie nach mehr Paper im gleichen Journal oder sie setzen andere Suchkriterien ein, um weitere verdächtige Publikationen aufzuspüren.

"Woher wissen wir, dass es überhaupt ein Peer Review gab?"

Warum schaffen es die Vielzahl der Artikel aus Paper Mills denn überhaupt durch die Peer Review?

Leonid Schneider: Woher wissen wir, dass es überhaupt ein Peer Review gab? Oder dass dieses nicht getürkt wurde, indem Autoren oder die Papiermühle unter Verwendung falscher Emailadressen das Paper selbst begutachteten (Fake Peer Review)? Wenn man einen korrupten Editor in einem gierigen Open Access Journal hat, dann läuft es wie am Fließband. In einigen Journals gab es allerdings doch Peer Reviews, es sind dann diejenigen, in denen recht wenige solcher Papiermühlen-Produkte zu finden waren. Da hat die Papiermühle auf die Reviewer-Kommentare reagiert und irgendwelche Daten nachfabriziert. Solche Fälle haben meine Kollegen ebenfalls gefunden.

Wie reagieren die Journale bzw. deren Editoren, wenn sie mit den fabrizierten Ergebnissen konfrontiert werden?

Leonid Schneider: Manche sind schockiert und wollen sofort hart durchgreifen, mit Retractions und gar Sperre für alle chinesischen Autoren, was ich nicht als fair empfinde. Manche andere stecken doch mit drin oder wollen die geschäftsschädigende Affäre schnell vergessen machen. Elsevier hat mir übrigens nie geantwortet.

Welche Konsequenzen haben Ihrer Meinung nach Autorinnen und Autoren zu befürchten, die ihre Artikel von Paper Mills produzieren lassen, wenn der ganze Schwindel auffliegt?

Leonid Schneider: Naja, in China kann es harte Konsequenzen geben, aber nur wenn man erwischt und öffentlich vorgeführt wird. Aber das gilt nicht für alle Aufgeflogenen. Hochgestellte Leute kommen gut davon, man findet immer den "wahren" Schuldigen, der auch noch gesteht.

In der Hinsicht warten wir gespannt, wie sich die Xuetao Cao Affäre entwickelt. Da entdeckten Elisabeth Bik und meine anderen Kollegen, die selben übrigens, dass einer der größten Stars der immunologischen Forschung in China selbst für circa 60 Publikationen mit zum Teil krass gefälschten Daten verantwortlich zeichnete. Die Ironie: Xuetao Cao, übrigens ist er auch Leopoldina-Mitglied, wurde von der Kommunistischen Partei zum obersten Forschungsintegritäts-Beauftragten ernannt.

"Unser wissenschaftliches System und das Verlagswesen sind korrupt und verrottet"

Sind die Ursachen für die Anspruchnahme der Paper Mills auch im Gratifikationssystem der Wissenschaft zu suchen?

Leonid Schneider: Klar. Unser wissenschaftliches System und das Verlagswesen sind so korrupt und verrottet, dass die Chinesen es einfach gehackt haben. Geschieht uns recht. Niemand liest doch die Papers, schon gar nicht kritisch. Datenfälschung ist oft Normalzustand, solange man das Ziel erreicht und das Paper in ein hochgeranktes Journal einschmuggelt. Wissenschaftler verschenken Zitationen und gar Autorenschaften an wichtige Kollegen, um sich einzuschleimen oder weil diese Kollegen sie dazu zwingen. Und dann gratuliert man sich zur Anzahl der Papers, zum Zitationsindex und zum Impact Factor. Schauen Sie sich doch die Wikipedia-Profile unserer Akademiker an. Woher wissen wir, dass deutsche und US-Ärzte sich keine Papiermühlen-Produkte kaufen?

China, in dem die Nutzung der Mills weit verbreitet scheint, rückt nun von der Praxis ab, Forscherinnen und Forschern Boni für Publikationen zu zahlen, wenn diese in hochgerankten Zeitschriften erscheinen. Welche Effekte erwarten Sie hiervon?

Leonid Schneider: Hört sich gut an, aber die chinesische Regierung weiß immer, was man sagen muss, um den Westen zu beeindrucken. Gleichzeitig wird Traditionelle Chinesische Medizin, TCM, gepusht, weil der Parteichef Xi Jinping so ein Fan davon ist.

Auch jetzt bei der Coronavirus-Epidemie: China hat ganze Universitäten, die sich nur mit TCM befassen. Wenn die Partei von oben verordnet, TCM als wirksame Heilmethode wissenschaftlich zu belegen, wie soll das bitte gehen? Nur mit Betrug. Entweder man fälscht selbst oder man kauft ein Paper bei einer Papiermühle. Elisabeth hat sogar berichtet, dass ein lächerliches TCM-Coronavirus-Heilungs-Paper ein anderes unglaubwürdiges TCM-Coronavirus-Heilungs-Paper plagiiert hat. Das TCM-Rezept wurde aber geändert, angepasst an das, was die chinesische Führung amtlich als die Coronavirus-Therapie verordnet hat. Veröffentlicht wurde dieses angeblich "peer reviewed" "Meisterwerk" bei Elsevier. Man soll also vorsichtig mit Partei-Ansagen sein.

Von China nach Deutschland: Wie nehmen Sie die Situation hier wahr?

Leonid Schneider: Siehe oben. Auch deutsche Uniklinik-Ärzte müssen irgendwas irgendwo und auch viel publizieren, um befördert zu werden. Oft sind es Plagiate oder Fälschungen. Vielleicht auch Papiermühlen-Dienste?

Welche Schritte wären Ihrer meiner Meinung nötig, um die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Publikationen, nicht nur im Kontext der Paper Mills, wieder zu steigern?

Leonid Schneider: Ich bin für ein absolutes Preprint-Mandat. Das hat viele Vorteile, ich habe das auch online diskutiert. Von da an kann es sich nur zum Besseren wenden. Aber stattdessen wollen wir mit dem Plan S solche betrügerischen Open Access Journals auch noch fördern.