Trabantenstädte: "Das Geld reicht nicht"

Bild "Clichy sous Bois": Marianna / CC-BY-SA-3.0 / Grafik: TP

Der Corona-Ausnahmezustand in Frankreich trifft die Banlieues mit besonderer Härte

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Die Schlange vor der Essensausgabe in Clichy-sous-Bois sei am Mittwochvormittag vergangener Woche um 11 Uhr bereits 300 Meter lang gewesen. Es war die dritte Essensausgabe der Stiftung Abbé Pierre innerhalb von acht Tagen. Am ersten Tag kamen 190 Personen, am zweiten 490 und am dritten 750, berichtet die Reporterin von Le Monde.

Die Folgerung, die sich dazu aufdrängt, wird niemanden überraschen. "Die Ausgangsbeschränkungen haben die Lage in den benachteiligten Wohngegenden beträchtlich erschwert." So lautet auch der Titel eines Aufrufs, der am selben Tag wie die Reportage erschienen ist. Darin warnen "Präventionsspezialisten" aus dem sozialen Bereich davor, dass dem Staat und den Medien in ein paar Wochen "etwas um die Ohren fliegen könnte", das sie bislang mit großer Gleichgültigkeit behandeln.

Umschrieben wird der explosive Stoff mit "sozialen Bindungen". Diese würden durch die aktuelle Krise innerhalb der Einwohnerschaft der benachteiligten Zonen derart geschwächt, dass das Risiko einer Entladung von Spannungen wachse.

Clichy-sous-Bois und der Abstand

Solche Warnungen gibt es regelmäßig. Immer wenn es in Frankreich sozial kritisch wird, schaut man auf die Banlieues, bzw. Trabantenstädte. Clichy-sous-Bois ist einer der bekanntesten Vororte. 2005 brachen dort Unruhen aus, die sich über mehrere Orte ausdehnten und Schlagzeilen über Frankreichs Grenzen hinaus machten: Aufruhr in den Städten. Der soziale Zündstoff kann tatsächlich hochgehen, wie sich auch seither immer wieder zeigte.

Eine Zeitlang wurde administrativ von "sensiblen oder problematischen Zonen" gesprochen. Derzeit werden die Orte, die die wirtschaftlichen Wohlstandsversprechungen nicht erreichen, "quartier prioritaire de la politique de la ville" (QPV) genannt. 1.514 sind als solche QPV registriert.

Der Begriff ist, wie sich angesichts der Corona-Krise erneut zeigt, ein doppelter Schwindel. Die Trabantenstädte mit der "sozio-ökonomisch benachteiligten" Einwohnerschaft haben bei weitem nicht die politischen Priorität, die der Begriff suggeriert, und die Probleme, die im neuen administrativen Begriff nicht mehr auftauchen, sind nicht verschwunden.

Ob die Ausgangsbeschränkungen in Frankreich das Klima in den Banlieues derart aufladen, dass es erneut zu Ausschreitungen kommt, ist schwer einzuschätzen. Deutlich wird aus den genannten Texten der Le Monde ein großer Abstand zum Alltag vieler anderer, die in den Medien den Ton angeben. Die Problemlagen sind Welten von dem entfernt, was die großen Medien in Frankreich wie auch in Deutschland an Befindlichkeiten in "Corona-Tagebüchern" als Ausschnitte aus einer Wohlstandswelt präsentieren.

Die Vergessenen

Die Welt der "Quartiers populaires" (Unterklassen-Wohnviertel) kommt kaum in der größeren französischen Medienöffentlichkeit vor. Sie wird zur Seite geschoben wie vor den Gelbwesten-Protesten die Welt der schlecht verdienenden Angestellten und Freiberufler aus der Peripherie. Die anderen Vergessenen, die Mitarbeiter im Gesundheitswesen, sind durch die Corona-Epidemie etwas nach vorne gerückt zumindest für eine gewisse Zeit. Die Banlieues bleiben draußen.

Bezeichnend ist, dass der französische Präsident Macron schon am Anfang seiner Amtszeit die Veröffentlichung eines lang angekündigten Regierungsberichts über die Banlieues erst hinausschob und dann gänzlich in der Schublade verschwinden ließ. Es gibt im Rahmen dessen, wie Macron seine Wirtschaftspolitik absteckt, kein "Erfolgsrezept", mit dem er punkten könnte.

"Das Geld reicht nicht", ist ein Kernsatz in der Le Monde-Reportage, wo ein paar Stimmen aus unterschiedlichen Quartiers populaires gesammelt werden. 150 Euro mehr im Monat plus 100 Euro pro Kind hat Macron in seiner Fernsehansprache am 13.März als außergewöhnliche Hilfe für Familien in finanziell-ärmlichen Verhältnissen versprochen.

Doch sind diese Hilfen an administrative Bedingungen geknüpft, die viele Familien nicht erfüllen, so eine weitere Quintessenz aus Berichten zur Lage der Quartiers populaires zu Zeiten der Corona-Epidemie. Die Arbeitslosigkeit, ohnehin schon überdurchschnittlich hoch vor Ausbruch der Epidemie, hat sich durch die Schließung der Gastronomie, der Hotels und anderer Dienstleistungsbetriebe in einem Maße verschärft, für das es noch gar keine Zahlen gibt. Aber dass die Lage katastrophal ist, daran gibt es keinen Zweifel.

Auf Ersparnisse dürften die wenigsten zurückgreifen können. Arbeiten im "informellen Bereich", Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit, sicherten bis zum Corona-Stopp das Überleben, tauchen aber in offiziellen Statistiken nicht auf.

"Kontakt zu 40 Prozent der Schüler verloren"

Ebenso wenig wie in den offiziellen Planungen zur "Schule zuhause" auftaucht, dass es Haushalte gibt, in denen sich vier Kinder und zwei Erwachsene einen Computer mit schlechter Netzverbindung teilen müssen. Die Erfahrungsberichte, die Ausschnitte aus der vergessenen Peripherie übermitteln, erzählen von Frustration und Bitterkeit, weil es unter diesen Bedingungen auch die guten Schüler, die sich über den Bildungsweg Chancen auf eine bessere Zukunft versprochen haben, schwerer haben, beim online-Unterricht mitzuhalten.

Die Schulpflicht hat auch dafür gesorgt, dass die Eltern wissen, wo sich die Kinder aufhalten. Das sei unter den gegenwärtigen Bedingungen anders. Eine Lehrerin aus dem Norden Paris wird damit zitiert, dass sie den Kontakt zu 40 Prozent ihrer Schüler verloren hat. Mit der Schließung der Schulen entfällt auch das Kantinenessen für die Schüler.

Genaue Zahlen über covid-19-Erkrankungen in den Problemzonen werden nicht berichtet; sie bleiben in Statistiken verborgen. In Berichten werden als Phänomene herausgestellt: einmal das junge Durchschnittsalter, dem allerdings hinzugefügt wird, dass es zugleich auch überdurchschnittlich viele Alte über 75 Jahre gebe und Personen, die wegen ihrer Vorerkrankungen besonderen Risiken ausgesetzt sind.

Wenig bekannt ist auch, wie es sich mit der häuslichen Gewalt verhält. Die Büros der sozialen Dienste sind ebenfalls geschlossen. Man sei mehr denn je "aus dem Spiel", fasst eine andere Frau aus Marseille die Lage zusammen.