Frankreich: Gewaltausschreitungen in den französischen Trabantenstädten

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Polizeigewalt, Viertelgewalt und Hunger. Der Staat schafft es nicht, die schlechter gestellten Haushalte mit dem Nötigsten zu versorgen

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Es gab Gewaltausschreitungen in den französischen Trabantenstädten. Die Liste der Orte, wo Trouble gemeldet wurde, wird sehr lang, wenn man unterschiedliche Berichte heranzieht. Das öffentliche Interesse daran verschwindet allerdings, sobald nichts Spektakuläres mehr gemeldet wird. Jetzt heißt es, dass sich die Lage wieder beruhigt habe, die Vorfälle seien geringfügig gewesen, "mineur".

Natürlich ist Innenminister Castaner daran gelegen, dass sich aus den Vorfällen in den Banlieues, im Großraum Paris und in der Peripherie von Toulouse keine zusätzlichen Problemherde entwickeln. So kam er zwar nicht umhin, sich zu den "kleineren Unruhen" zu äußern, das immerhin schon, wichtig war ihm dabei, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die republikanische Ordnung nicht in Gefahr sei.

200.000 Kontrollen in Seine-Sainte-Denis

Über 200.000 Polizeikontrollen haben allein im Département Seine-Sainte-Denis ("93") die "republikanische Ordnung aufrechterhalten", mehr als doppelt so viele wie im Landesdurchschnitt, erklärte Castaner. Nun führt genau das zu einem Problem, das regelmäßig für Zündstoff in den quartiers sorgt. Denn das Verhalten und das Vorgehen der Polizei steht nicht zufällig meist am Anfang einer Kette von Ereignissen, die sich zu Unruhen auswachsen.

So auch diesmal. Ein Motorradfahrer wurde in der Nacht des 19. April in Villeneuve-la-Garenne (Hauts-de-Seine) schwer an seinem rechten Bein verletzt, weil er damit gegen eine plötzlich geöffnete Tür eines zivilen Polizeiautos prallte. Die Darstellungen des Vorfalls unterscheiden sich je nach Perspektive. Für die Polizei war es ein Unfall bei einer Kontrolle, die aus ihrer Sicht völlig gerechtfertigt war, weil der Mann zu schnell fuhr, ohne Helm und er war, wie Medien später nachtrugen, polizeibekannt.

"Absichtliche Polizeigewalt"

Als er das Fahrzeug der Zivilstreife an einer roten Ampel passieren wollte, wurde die Türe geöffnet. Danach kam es zu ersten Streitigkeiten mit einer Gruppe von 50 Personen, die sich am Unfallort einfanden. Der Mann wurde vom Notarzt in eine Intensivstation gebracht. Aus dem Krankenhaus übermittelte er ein Video, in dem er zur Ruhe aufrief. Es sieht so aus, als ob er bleibenden Schäden an seinem Bein davonträgt.

Es gibt auch eine andere Sichtweise, die auch in gewöhnlichen Medien erwähnt wird. Sie geht von einer Absicht der Polizisten aus. Die Tür des Polizeiwagens, der für den Motorradfahrer nicht als solcher zu erkennen war, sei urplötzlich geöffnet worden, um ihn zum abrupten Bremsmanöver zu bringen, der einen Sturz miteinkalkulierte.

Diese Version kann angesichts der vielen gefilmten Demonstrationen brutaler Polizeigewalt, die bei Gelbwestenprotesten wie auch bei Sozialprotesten, die von Gewerkschaften organisiert waren, zu Tage kamen, bis sich auch die Leitmedien nicht mehr davor verschließen konnten, nicht ohne weiteres abgetan werden. Sebastian Roché, Leiter beim nationalen Forschungszentrum CNRS, warnte angesichts der systemischen Entwicklungen des Verhaltens der Polizei kürzlich vor "südamerikanischen Verhältnissen".

Dazu gibt es auch allerhand Erfahrungsberichte über skandalöses Verhalten der Polizei in den "Problemvierteln". Seit vielen Jahren schon.

Was an Polizeigewalt gegen Demonstranten im letzten Jahr dokumentiert wurde, bestätigte die Erfahrung vieler Banlieue-Bewohner, wie dies in zahlreichen Berichten 2019 zu lesen war. Mitunter wurde das als eine Begründung genannt, warum sich die Bewohner der Trabantenstädte nur spärlich und zögerlich den Gelbwesten-Protesten anschlossen.

Sie würden sich damit auf einen "Bühne" begeben, die es den Vertretern der Exekutive und der Regierung leichtmachen würde, mit Härte vorzugehen und die sozialen Proteste als Aktion Gewalttätiger zu diffamieren (was letztlich auch ohne die Teilnahme der "üblichen Verdächtigen" aus den quartiers so praktiziert wurde).

Reaktionen

Bei Twitter- und Facebook-Mitteilungen zum "Vorfall" mit dem Motorradfahrer, die sich rasch verbreiteten, lag der Fokus vor allem auf dem Verhalten der Polizei (politisch aus anderer Perspektive hier), es war der nächste Beweis für deren obrigkeitsstaatliches, repressives Verhalten. Es folgten drei lautstarke Nächte mit Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Bewohnern diverser Banlieues.

Ein Video der Webseite Nantes revoltée wie Bewohner mit Feuerwerkskörpern gegen die Polizei vorgehen. Der Beitrag der Webseite zählt Villeneuve-la-Garenne, Suresnes, Aulnay-sous-bois, Saint-Denis, Meudon, Nanterre, Clichy-sous-Bois als Orte auf, wo Ähnliches stattgefunden haben soll. Berichtet wird auch von "révoltes urbaines" in Lille, Roubaix, in Yvelines, Strasbourg und Toulouse. Der Figaro ergänzt Suresnes, Nanterre und Fontenay-sous-Bois.

Dazu kommen aktuelle Berichte von neuen gewalttätigen Polizeiaktionen in den quartiers populaires, was manchmal mit Unterschichtsvierteln übersetzt wird, in Gennevilliers bei Paris.

Das Ganzen ist wird wie immer von einer Ebene der politischen Erzählung überlagert. Innenminister Castaner erklärte die Ausschreitungen, die er nicht allzu hoch bewerten wollte, mit der langen Dauer der Ausgangsbeschränkungen infolge der Corona-Epidemie.

Im rechtskonservativen Figaro hielt ihm eine Essayistin vor, dass er damit apologetisch vorgehe und die Aktionen entschuldige, in Wirklichkeit würden die gewalttätigen voyous (Lumpen, Gauner) und caïds (Bandenführer) die Gelegenheit der außerordentlichen Situation nutzen, um ihre Macht auszuspielen. Erzählt wird diese Story von Céline Pina, einer Journalistin, die sich als "Islam-Kritikerin" Profil verschafft.

Wer sich ein Video der Feuerwerkskörper-Aktionen anschaut, sieht Gewalt, die nicht von Polizisten stammt. Auch das gehört zum Gesamtbild.