Jenseits von Gesundheitsnotstand und Verschwörungswahnsinn

Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz. Archivbild: Ansgar Koreng / CC BY-SA 3.0 (DE)

Die Entwicklung eines Künstlerprotests am Rosa-Luxemburg-Platz zeigt, dass verbale Abgrenzung nicht ausreicht, um Rechte von Protesten gegen den autoritären Staat fernzuhalten

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"Es herrscht Willkür in Schland. Die Polizei versucht mit massiver Präsenz weniger das Kontaktverbot zu kontrollieren, als den öffentlichen Raum zu leeren", so beschrieb Thomas Moser an dieser Stelle (Wenn Demonstranten zu "Gefährdern" erklärt werden) die staatliche Reaktion auf die erste "Hygienedemonstration" der Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand am 28. März. Vier Wochen später heißt es in dem antifaschistischen Online-Magazin Blick nach rechts:

Eine Allianz aus Rechtsextremisten, Verschwörungsgläubigen, Rechtsesoterikern, "Reichsbürgern" und Impfgegnern geht angesichts der Corona-Krise auf die Straße, angeblich um für den Erhalt des Grundgesetzes zu demonstrieren. Vieles erinnert an Querfront-Bestrebungen zu Zeiten der "Mahnwachen-Bewegung" 2014. Epizentrum der neuen Proteste aus dem unübersichtlichen Spektrum zwischen Links- und Rechtsaußen ist der Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Hier versammeln sich seit vier Samstagen immer hunderte Menschen.

Michael Klarmann, Blick nach rechts

Mit Bartleby gegen autoritären Staat?

Wie konnte es passieren, dass innerhalb weniger Wochen aus einer Kundgebung gegen autoritäre Staatlichkeit eine rechtsoffene Veranstaltung geworden ist?

Der Text des Aufrufs stützte sich auf das Grundgesetz und enthielt klassisch liberale Forderungen nach Transparenz und Partizipation. So wurde im Aufruf "Gestaltung der neuen Wirtschaftsregeln durch die Menschen selbst, mit 2 Meter Abstand, Mundschutz und Grundgesetz" gefordert. Die Initiative für einen ersten Protest nach zwei Wochen Corona-Notstand ergriffen Kulturlinke.

Anselm Lenz und Hendrik Sodenkamp, die für den Aufruf verantwortlich zeichneten, waren in der Künstlergruppe Haus Bartleby aktiv, für die sich die Romanfigur von Hermann Melville Bartleby als Namensgeber wählte .

"Sag alles ab - Plädoyer für den lebenslangen Generalstreik" lautete der Titel einer Nautilus-Flugschrift vom Haus Bartleby, in der auch Lenz und Sodenkamp Texte veröffentlichten. In den programmatischen Titeln klang eine kulturanarchistische Politikverweigerung an, die sich der Elemente des Dadaismus und des Situationalismus bediente.

Das zeigten auch die Kunstaktionen, mit denen das Haus Bartleby bekannt wurde, unter anderem die Absageagentur. Aktuelle Zeitungen mit Stellenanzeigen lagen aus und die Teilnehmer der Installation konnten auf einem in einem kleinen Büro bereitgestellten Computer eine Mail an die Firmen schicken, in der sie mitteilten, dass sie sich auf die angebotenen Stellen nicht bewerben bzw. absagen wollen.

Einen Querschnitt der Arbeit von Haus Bartleby war 2017 in einer Ausstellung im Kulturverein Neukölln zu sehen. Dazu gab es ein ambitioniertes Programm an Diskussionsveranstaltungen mit Menschen aus dem Kultur- und Politikbereich. Später engagierten sich Lenz und Sodenkamp bei der Besetzungsaktion der Berliner Volksbühne. Auch dort wurde mit Darstellungsformen jenseits der klassischen linken Politgruppen experimentiert.

Mit Grundgesetz und Zollstock

Daher war es sicher kein Zufall, dass Lenz und Sodenkamp Teil einer Initiative waren, die am 28.3. zu Protesten am Rosa-Luxemburg-Platz aufrief. Was läge auch näher, als vor dem in Corona-Zeiten geschlossenen Theater eine Bühne für Experimente aufzutun, wie es bereits die Volksbühnen-Besetzer nach ihrer Räumung aus der Volksbühne gemacht haben?

Mit Zollstock und Grundgesetz gingen sie in einer Zeit auf die Straße, als alle öffentlichen Versammlungen generell verboten waren und in der Regel auch von der Polizei aufgelöst wurde. Das war am 28. März auch am Rosa-Luxemburg-Platz geschehen, wie Thomas Moser berichtete. Doch wie kam es dann, dass wenige Wochen später Rechte verschiedener Couleur, die mit den kulturrevolutionären Intentionen der Organisatoren überhaupt nichts zu tun haben. Das steht auch in dem Artikel von Blick nach rechts:

Gleichwohl teilen im rechten Spektrum nicht alle die Faszination der "Kollegen" und Teilnehmer für diese Versammlung. Der AfD-nahe Video-Aktivist Oliver Flesch höhnte auf seinem Telegram-Kanal: "Querfront um jeden Preis? Niemals! Falls einer […] auf der Demo in Berlin war: Ihr wisst schon, dass diese Demo-Reihe von Kommunisten organisiert wird, die sich ‚Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand‘ nennen? Fragt die Jungs vom KDW doch mal, was sie von der AfD halten, von ihrem Heimatland, und wie sie zur kulturfremden Masseneinwanderung stehen.

Michael Klarmann, Blick nach rechts

Ein Grund könnte gewesen sein, dass die Proteste von Anfang an unter dem Banner der Verteidigung des Grundgesetzes standen und soziale Forderungen völlig ausgeblendet wurden. So wurde im Aufruf mit keinem Wort erwähnt, dass am 28. März, als die erste Aktion an der Volksbühne stattfand, ein Europäischer Mietenaktionstag geplant war, der weitgehend ins Internet verlegt werden musste.

Ein weiteres Problem war, dass Ende März noch fast jede kritische Hinterfragung des Gesundheitsnotstands in einem großen Teil der Medien nicht möglich war. Dafür sprangen dann Medien wie Ken FM in die Bresche. Das war sicher ein Grund dafür, dass nicht staats- und machtkritische Linke und avantgardistische Künstler, sondern diverse Rechte sowie Anhänger von Verschwörungsvorstellungen von den Protesten angezogen wurden.