In Großbritannien wird zu Arbeitsniederlegungen nicht essentieller Jobs aufgerufen

Screenshot vom ShutTheSites-Video

Der Druck auf die Gewerkschaften wächst, Streiks können derzeit nicht organisiert werden, kritisiert wird, dass Baustellen für Luxuswohnungen oder Atomkraftwerke wieder in Betrieb genommen werden

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Am 28. April findet in Großbritannien wieder der "workers memorial day" statt Das ist ein sich jährlich wiederholender Erinnerungstag für alle Menschen die in Ausübung ihres Berufs gestorben sind - oft deswegen, weil Arbeitgeber gesetzlich vorgeschriebene oder nötige Sicherheitsmaßnahmen nicht eingehalten haben. Vor allem für Bauarbeiter hat dieser Tag traditionell große Bedeutung, so wird zum Beispiel all jener gedacht, die in vergangenen Jahrzehnten an den Spätfolgen einer Asbestvergiftung verstorben sind.

Dieses Jahr steht der "Arbeitererinnerungstag" unter den Vorzeichen der Corona-Epidemie und vieles deutet darauf hin, dass man dieses Jahr über die rein symbolische Erinnerung hinausgehen wird. Im Gespräch sind Arbeitsniederlegungen und Proteste. Unter dem Motto "shut the sites" (Schließt die Arbeitsplätze) zirkuliert ein Videoaufruf mit der Forderung, an diesem Tag alle nicht essentiellen Arbeiten einzustellen.

Es ist bereits das zweite Video dieser Art. Schon seit einigen Tagen zirkuliert auf zahlreichen britischen Großbaustellen ein speziell an Bauarbeiter gerichtetes Video, welches bereits 50.000 Mal angeklickt worden sein soll. In diesem wird scharf kritisiert, dass große britische Bauunternehmer ihre Baustellen wieder hochfahren, obwohl es sich hierbei oftmals um nicht essentielle Bauprojekte wie zum Beispiel Luxuswohnungen oder Atomkraftwerke handelt. Dies werde den Tod hunderter Bauarbeiter fordern, da soziale Distanzierung auf den Baustellen nicht einhaltbar sei. Außerdem würden auch andere Beschäftigtengruppen dadurch gefährdet, insbesondere Beschäftigte im Gesundheitswesen, die sich den engen Platz in öffentlichen Verkehrsmitteln nun mit anderen Arbeitern teilen müssen, die zur Arbeit an derzeit nicht essentiellen Arbeitsplätzen genötigt würden.

Tatsächlich sind inzwischen allein im Gesundheits- und Pflegebereich über 100 Personen an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben. Nicht nur in den Krankenhäusern geht aufgrund fehlender Schutzausrüstung für das Personal die Angst um. Laut einer neuen WHO-Studie lebte weltweit die Hälfte aller Corona-Todesopfer in Altenpflegeheimen. Dort fühlt sich das Personal alleingelassen, berichtete die aus Nottingham stammende Parlamentsabgeordnete Nadia Whittome dem BBC-Nachrichtenmagazin "Newsnight".

Whittome hat in der Coronakrise beschlossen, ihren alten Job als Pflegekraft wieder aufzunehmen. "Wir haben Angst und wir glauben nicht daran, dass die Regierung sich um unsere Sicherheit kümmert, weil es nicht genug Schutzausrüstung gibt." Dies liege nicht zuletzt an der Sparpolitik des vergangenen Jahrzehnts, so Whittome weiter. Es ist deshalb kein Wunder, dass sich vermehrt Beschäftigte im Gesundheitswesen der Forderung nach "Schließung der Baustellen" anschließen.

Die Kampagne warnt dabei vor individuellen Aktionen. Viel sinnvoller sei es, sich gemeinsam mit Kollegen zusammenzutun und kollektiv bei Vorarbeitern und Baustellenleitungen vorzusprechen, erklärte der unter Bauarbeitern sehr bekannte Gewerkschaftsaktivist Dave Smith im Rahmen einer Videoveranstaltung. Nur so könne man Repressalien gegen einzelne Arbeiter entgegenwirken, so Smith weiter. Darüber hinaus fordert die Kampagne die volle Lohnfortzahlung für alle Beschäftigten, auch für die über eine Million als Scheinselbständige tätigen Bauarbeiter auf Großbritanniens Baustellen. Nötig sei außerdem ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle.

Die Frage der Lohnfortzahlung bei Kurzarbeit wird auch zunehmend in der britischen Gastronomie Thema. In Kurzarbeit geschickte Beschäftigte erhalten derzeit 80 Prozent ihres Lohnes, nun fordern Beschäftigte von Fast Food- und anderen Gastronomieketten den vollen Lohn. Diese Kampagne wird unter anderem von der Nahrungsmittelgewerkschaft BFAWU organisiert, die in der jüngeren Vergangenheit auch für die historisch ersten Streiks bei britischen McDonalds-Filialen verantwortlich zeichnet. Etwa 100 Aktivisten aus zahlreichen Arbeitsplätzen sollen sich am 21. April an einer Onlinekonferenz zur Planung weiterer Schritte beteiligt haben.

Auch bei der Post rumort es zunehmend. In vielen Depots zahlreicher Städte wie zum Beispiel Liverpool oder Kent kam es in den vergangenen Wochen zu spontanen Arbeitsniederlegungen weil entweder Desinfektionsmittel fehlten oder Manager ihrer Beschäftigten zur Arbeit zwingen wollten obwohl sich Kollegen mit dem Corona-Virus infiziert hatten.

Legale Streiks sind kaum möglich

Rechtlich befinden sich diese Arbeitsniederlegungen in einer Grauzone. Rund 50 von ihnen will der Arbeitsrechtler Gregor Gall inzwischen gezählt haben. Legale Streiks seien in Großbritannien derzeit kaum möglich, so Gall in einen Artikel für die Zeitschrift "Tribune". Tatsächlich sehen britische Antigewerkschaftsgesetze ein umständliches Briefwahlverfahren vor. Die für dieses Verfahren zuständigen Firmen haben die Organisation solcher Briefwahlen jedoch aufgrund Corona eingestellt. Keine briefliche Urabstimmung, kein Streik.

Doch der Druck auf die Gewerkschaftsführer, etwas zu unternehmen, wächst, auch wenn diese vorerst offiziell "nur" zu einer Schweigeminute am 28. April aufrufen. So stellte der Generalsekretär der Großgewerkschaft UNITE unlängst in einem Tweet klar, seine Gewerkschaft unterstütze jeden, der sich weigere, aufgrund einer gesundheitlichen Gefährdung seinen Arbeitsplatz zu betreten. Dies sei auch rechtlich gedeckt. Die Gewerkschaft hat allein im Gesundheitswesen 100.000 Mitglieder. Diese würden zwar nur nach großem Zögern ihre Arbeit niederlegen: "Aber ihre Gewerkschaft wird sie verteidigen, sollten sie sich dafür entscheiden."

"An die Toten erinnern - für die Lebenden kämpfen" ist das traditionelle Motto des "Arbeitererinnerungstages". Es scheint also ob dieses Motto durch Corona eine neue Dringlichkeit erhalten hat.