"Als wäre man in einem falschen Film"

Susanne Holst. Bild: Katja Zimmermann

Die Ärztin und ARD-Fernsehmoderatorin Susanne Holst über die Redaktionsarbeit während der Pandemie und wie man den Alltag im Shutdown bewältigt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dr. Susanne Holst praktizierte vor ihrer Fernseh-Karriere auch als Ärztin in Hamburg. Die Medizinjournalistin war Redakteurin und Moderatorin bei Sat.1 und konzipierte dann auch dort unter anderem das Gesundheitsmagazin "Bleib gesund". Nach weiteren Sendungskonzeptionen und -moderationen beim Bayerischen Rundfunk, bei tm3 und beim NDR, gehört sie seit 2001 zu den Moderatorinnen von Tagesschau und Tagesthemen (2004-2012). Seit 2014 läuft zudem direkt vor der 20.00 Uhr-Tagesschau ihre wöchentliche Minidoku "Wissen vor Acht - Mensch". Die Medizinerin hat sich in vielen Büchern vor allem mit Diabetes (u.a. 2008 be Rowohlt "Klug essen, gesund bleiben"), Rheuma, Schlafgesundheit, Depressionen und chronifizierten Schmerzn beschäftigt. Das Gespräch wurde Ende März geführt.

Wie schwierig ist die Arbeit momentan in einer Redaktion wie der Tagesschau, in der es um Minuten geht?

Susanne Holst: Wir sind ein großes und sehr eingespieltes Team bei der Tagesschau. Über dramatische und dynamische Entwicklungen zu berichten, gehört für uns zum Geschäft. Gleichwohl ist die Corona-Pandemie für Redakteure, die Reporter, für die Kollegen in der Technik und Maske eine Riesenherausforderung. Weniger, was die Berichterstattung als solche angeht, das können wir hervorragend. Vielmehr geht es jetzt unter den gegenwärtigen Umständen auch in unserem Team darum, für größtmögliche Sicherheit aller Mitarbeiter/innen zu sorgen.

Ich erlebe in diesen Tagen eine besondere Atmosphäre in der Redaktion. Durch unsere Arbeit sind wir einerseits extrem nah dran an den aktuellen Entwicklungen, jeder erlebt den Ernst der Lage zu jeder Stunde nachrichtentechnisch hautnah - gleichzeitig empfinden wir alle eine Art innere Fassungslosigkeit angesichts dieser weltweiten, nie dagewesenen Herausforderung. Als wäre man in einem falschen Film.

Oder in einem nun realen Dokumentarfilm … Können Redaktionen wie die der ARD Aktuell das Arbeitsvolumen zur Zeit überhaupt schultern?

Susanne Holst: Wir werden von einer Kombination herausgefordert, die nicht aus Pappe ist: Eine unverändert hohe Qualität der Berichterstattung, mit persönlicher Betroffenheit und zeitlich völlig unklarer Perspektive unter einen Hut zu bekommen - gesundheitlich, psychisch, wirtschaftlich und familiär.

Aber beeinflussen denn auch neue News-Lagen Sie sogar noch während der Sendungen?

Susanne Holst: Alles andere wäre unprofessionell. "Redaktionsschluss ist das Ende der Sendung", lautet eine alte Redaktionsregel. Das bedeutet: Alles mit Nachrichtenwert, das während der laufenden Sendung passiert, wird auch vermeldet oder gegebenenfalls in einem Korrespondentengespräch thematisiert. Unsere Redaktion ist da enorm eingespielt. Als Moderatorin bin ich immer wieder beeindruckt, was da alles möglich gemacht und noch in die Sendung "gehoben" wird. Eben noch eine Eilmeldung in den Nachrichtenagenturen, schon - nach Prüfung - in der Sendung. Großartig!

Für Sie als Ärztin - gehen Sie da noch einmal anders ran?

Susanne Holst: Experten rechnen seit Jahren damit, dass das Influenza-Virus (die echte Grippe) eine große Mutation erleben wird, einen sogenannten "Antigen-Shift", in dessen Folge das veränderte Influenza-Virus bei seiner Reise um die Welt auf eine komplett ungeschützte Menschheit treffen würde, mit verheerenden Krankheitsfolgen. Keiner wäre ausreichend immunisiert. Die jährlichen Grippeimpfungen, die die kleinen Minimutationen des Virus abdecken sollen, wären unwirksam. Seit vielen Jahren, basierend auf Erfahrungen der Vergangenheit, gilt eine solche große genetische Veränderung als "überfällig". Somit ist mir das gegenwärtige Szenario nicht völlig fremd. Jetzt handelt es sich allerdings um das neue Coronavirus, das unsere Gesundheit gefährdet und zudem die Weltwirtschaft erschüttert. Das Leben, das wir bisher führten, wirkt wie eingefroren.

In der aktuellen Lage geht es ja nun um medizinische Details, um Leben und Tod: Führen Sie Interviews oder Schalten mit Korrespondenten jetzt anders als etwa zu nicht so belasteten Themen?

Susanne Holst: In den telefonischen Vorgesprächen klingt die persönliche Betroffenheit angesichts der Entwicklungen bei vielen Kollegen durch, auf dem Bildschirm bleibt das außen vor: Neutrale Berichterstattung ist das Gebot der Stunde. Entwicklungen benennen und einordnen, Sachverhalte erklären, neueste Zahlen analysieren, ganz pragmatisch - das zeichnet generell guten Nachrichtenjournalismus aus. Daran halten wir uns. Für persönliche Einschätzungen, Erfahrungsberichte, Anregungen oder Kritik gibt es in der ARD andere kompetente Sendeformate.

Größtmögliche Distanzierung in der Redaktion

Gibt es denn eigentlich in der ARD Aktuell-Redaktion selber in Hamburg besondere Vorkehrungen zum Schutz?

Susanne Holst: Selbstverständlich! Hinter jeder Kollegin und jedem Kollegen stehen Kinder, Ehepartner, Großeltern, die wir durch unser Verhalten schützen müssen. Für ein solch großes Team wie das von ARD-Aktuell, das sind mehr als 300 Mitarbeiter, in mehreren Schichten und einem Großraumbüro, ist das eine große Herausforderung, die kreativ und effizient gelöst wurde. Inzwischen arbeitet ein Großteil der Kolleginnen und Kollegen phasenweise im Homefffice.

Im Nachrichtenhaus produzieren wir in zwei Teams, die in persona nicht mit einander in Kontakt kommen - gleichwohl gut vernetzt sind. Das zweite Team betritt das Haus erst, wenn die erste Mannschaft es nach Schichtende verlassen hat. Die Teams nutzen darüber hinaus unterschiedliche sanitäre Räumlichkeiten. So wird eine größtmögliche Distanzierung gewahrt. Im Küchenbereich etwa dürfen sich maximal 4 Personen zur gleichen Zeit aufhalten. Die Türen stehen offen, damit keine Klinken mehr benutzt werden müssen. Unsere Chefredaktion informiert uns täglich über neue Entwicklungen und Maßnahmen. Diese können sich jederzeit ändern, da ist viel im Fluss. Auch die Maskenbildner/-innen arbeiten übrigens längst mit Mundschutz und Schutzhandschuhen.

In Hamburg sind einige Bezirke fast wie verwaist. Welches Gefühl haben Sie als Ärztin, als Journalistin, als Hamburgerin, als Mutter, wenn Sie das alles erleben? Angesichts der fast schon surrealen Ereignisse - welches sind Ihre Emotionen, um trotzdem professionell zu bleiben?

Susanne Holst: Dass ich jetzt morgens mit dem Auto flugs zum Arbeitsplatz komme, ohne schwerfälligen Verkehr, Staus und Baustellen - das habe ich als erstes wahrgenommen. Auch ein Parkplatz ist schnell gefunden - irgendwie ein Sonntagsgefühl! Dazu die aufblühende Natur in Frühlingslaune. Aber die Menschen fehlen, wo sind die Kinder? Wie geht es den Kindern? Spielplätze mit Schutzbändern abgetrennt, geschlossene Geschäfte, verwaiste Bushaltestellen - das öffentliche Leben steht still. Bedrückend.

Diese Krise müssen wir als Gesellschaft schultern. Solidarisch, pragmatisch und optimistisch. Schon unserer Kinder wegen, denen wir als Eltern die Welt erklären müssen. Sicher bringt diese Zeit uns auch neue Einsichten, mehr Demut und Dankbarkeit dem Leben gegenüber. Nutzen wir sie fürs innere und äußere Sortieren. Ja, wir müssen auf körperliche Distanz gehen. Aber irgendwann werden wir wieder gemeinsam das Ende der Corona-Pandemie feiern. Wäre nur schön zu wissen, wann genau.

"Gönnen Sie sich einen Sabbat-Tag pro Woche"

Sie sind als Medizinjournalistin auch im Bereich Prävention tätig - welches sind akut Ihre Ratschläge an die Menschen?

Susanne Holst: Aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen müssen nun viele Menschen von eben auf jetzt zuhause bleiben, von dort aus arbeiten und dann auch noch ihre Kinder rund um die Uhr betreuen - ohne zu wissen, wie lange dies andauern wird. Eine erzwungene Freizeit, die für viele auch mit wirtschaftlichen Einbußen einhergeht. Ein enormer Stress. Das verordnete Zusammenrücken kann im günstigsten Fall bereichernd sein, man hat mehr Zeit für einander, erlebt sich und die Familie neu, steigt aus dem Hamsterrad aus - dieser Zustand kann aber auch gewaltig an den Nerven zerren. Familienexperten befürchten sogar eine Zunahme häuslicher Gewalt.

Wenn man mit Polizeilichen Kriminalpsychologen spricht, können diese empirisch nachweisen, dass zu Weihnachten die meisten Einsätze wegen häuslicher Gewalt erfolgen, sowohl in Deutschland als auch in Österreich ...

Susanne Holst: Also unbedingt vorbeugen, bevor Ihnen die Decke auf den Kopf fällt. Schaffen Sie sich auch zuhause eine verlässliche Tagesstruktur, die Sie einhalten. Neben gemeinsamen Zeiten unbedingt auch Solo-Zeitfenster einplanen, nur für sich. Nutzen Sie die Zeit für Liegengebliebenes und Aufgeschobenes: Schränke ausmisten, Bilder malen, Kochkurs online besuchen oder - endlich - täglich meditieren. Gönnen Sie sich einen Sabbat-Tag pro Woche: …

Sabbat ist immer gut ...

Susanne Holst: … keine Nachrichten, keine Medien, kein wie-auch-immer online sein! Das hilft gegen den Lagerkoller. Unbedingt das Immunsystem stärken, u. a. regelmäßig an die frische Luft gehen - unter Einhaltung der neuen Regeln -, Räume gut lüften, ausreichend schlafen, darmgesund ernähren - viel frisches Obst, Gemüse, Ballaststoffe und möglichst Stress vermeiden. Ich weiß, das fällt vielen schwer, es ist aber gerade jetzt immens wichtig.

Auch ein Fitnessmagazin moderierten Sie einmal. Ist der akute Zustand der Gesellschaft eigentlich nicht auch eine Bedrohung z.B. für die Herz-Kreislauf-Gesundheit in noch unabsehbaren Ausmaßen? Zum Beispiel Fitness-Studios sind ja zu … Auf Gran Canaria, berichtete mir jemand, dürfe man nicht mehr am Strand joggen, weil vor den Haustüren tatsächlich Militär steht

Susanne Holst: Joggingrunden, maximal zu zweit, sind weiterhin erlaubt. Glücklicherweise, denn ohne Sport und Bewegung an der frischen Luft geht es natürlich nicht. Die Fitness-Studios sind dicht, jetzt kann man kreativ werden. Es gibt doch auch jede Menge Apps und Online-Angebote, die einem helfen, fit zu bleiben. Ich mache mir um die Herz-Kreislauf-Gesundheit keine allzu großen Sorgen. Wo ein Wille nach Bewegung ist, ist auch ein Weg. Am besten draußen an der frischen Luft! Ob Laufen, Walken oder Radfahren - körperliche Bewegung fördert auch das psychische Wohlbefinden. Je schlechter man sich fühlt, desto mehr profitiert auch die Stimmungslage von der Bewegung. Sport in freier Natur baut Stress ab und stärkt - wie gesagt - das Immunsystem. Und das können wir derzeit alle gut gebrauchen.

"Die Corona-Krise bringt jede Menge Veränderungsdruck von außen"

Wenn Sie in diesen Tagen ein Vortrag zum Business-Coaching halten würden, welches wären Ihre Tipps, um solche Situationen im Alltag zu bewältigen?

Susanne Holst: Behalten Sie einen kühlen Kopf und machen Sie eine Bestandsaufnahme. Besinnen Sie sich auf Ihre Kompetenzen. Haben Sie Vertrauen in Ihre Kreativität, auch neue Wege entwickeln zu können. Nutzen Sie das innovative Potential in Ihrem Team. Eine klare Kommunikation ist jetzt unerlässlich. Und: Lassen Sie sich unterstützen! Manchmal hilft ein Blick von außen, um selbst klarer sehen zu können. Vielleicht stehen Sie am Ende besser da als zuvor!

"Soziale Distanz" auch mal zu sich selber quasi … Getreu des iranischen Sprichworts: Wo die Nacht am dunkelsten, da ist der Tag noch nicht verloren. Sie haben sich auch schon mit der "Psychologie der Veränderung" beschäftigt. Was hieße das in diesen Tagen?

Susanne Holst: Es gibt zwei Impulse, die Veränderung anstoßen: einmal von innen - ich möchte mich verändern, weil ich mich in diesem oder jenem Bereich weiter entwickeln möchte. Und dann von außen: Ich muss mich verändern, weil die Umstände es erfordern, weil ich so wie bisher nicht weiter machen kann. Die Corona-Krise bringt jede Menge Veränderungsdruck von außen. Gerade in einer Gesellschaft, die das Höher, Schneller, Weiter feiert. In der Restaurantbesuche, After-work-Partys und Rundum-Kitabetreuung zum Standard gehören, Besuche im Fußballstadion ein Muss sind, Shoppingtouren und eine multi-kulturelle Szene zum guten Ton gehören.

Wenn das auf einmal nicht mehr möglich ist, auf gefühlt unabsehbare Dauer, dann kann ich entweder in ein Loch fallen und mich tagtäglich bedauern oder aber mich innerlich derart auf die neue Situation einstellen (also verändern), dass ich mich mit ihr arrangieren und vielleicht sogar einen Gewinn daraus ziehen kann - als Privatperson oder als Unternehmer. Dafür kann ich innere Ressourcen mobilisieren, die vielleicht lange im Hintergrund gehalten wurden: Anteile in mir, die das Unausweichliche annehmen und das Beste daraus machen mögen - die Tugenden, wie Demut dem Leben gegenüber spüren können, sich wieder an kleinen Dingen erfreuen, die einem im normalen Turbo-Alltag durch die Lappen gehen. Innere Anteile, die die aktuelle starke Einschränkung, den Verlust des sozialen Lebens, wie wir es kennen, nicht allein als Begrenzung erfahren, sondern darin auch eine Chance für neue Erkenntnisse, berührende Erlebnisse der Zusammengehörigkeit, sehen. Und die am Ende dieser Krise die richtigen Konsequenzen aus dem Erlebten ziehen werden.

Es liegt in der Natur der Dinge, dass diese Veränderung nicht jedem und schon gar nicht per Knopfdruck gelingen. Manche reagieren zunächst mit Panik auf die unbekannte, bedrohliche Situation, andere verleugnen sie, feiern Corona-Partys oder suchen alternative Erklärungsmodelle für die Geschehnisse, die unseren Erfahrungshorizont überschreiten, etwa in Form von Verschwörungstheorien.

Verschwörungstheorien sind ja mittlerweile auch in Pharmazie- und Ernährungsdebatten sehr präsent. Vielleicht noch einmal zurück zur Ernährungsgesundheit … Von Ihrer Tagesschau-Kollegin Judith Rakers ist bekannt, dass sie sich asiatisch in die Redaktion liefern lässt und Chef Jan Hofer trinkt wohl sehr gerne viel Kaffee - was bevorzugen Sie in diesen Tagen, um nicht die Nerven zu verlieren?

Susanne Holst: Ich halte mich da gern an Altbewährtes, etwa an den Familien-Esstisch mit meinen Kindern, an den Austausch darüber, wie der Tag für jeden von uns verlaufen ist. Ansonsten setzte ich auf viel Schlaf, unbedingt 8 Stunden. Er ist nicht nur für die körperliche Regeneration wichtig, sondern auch für die Verarbeitung von belastenden Erlebnissen und Situationen.