Covid-19-Infektion soll Lebenserwartung um ein Jahrzehnt verkürzen

Bild: NIAID/CC BY-2.0

Nach Studien über durch vorzeitigen Tod verlorene Lebensjahre kostet die Pandemie auch alten Menschen mit chronischen Vorerkrankungen viele Lebensjahre

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Wie gefährlich Covid-19 wirklich ist, bleibt weiter eine Angelegenheit von mehr oder weniger gut begründeten Schätzungen. Bislang schwanken die Zahlen erheblich, zumal repräsentative Stichproben fehlen, von denen sich die Dunkelziffer der Infizierten ablesen ließe. Mittlerweile ist allerdings klar, dass es in vielen Ländern zu einer Übersterblichkeit gekommen ist, weniger klar ist allerdings, ob diese ursächlich durch Covid-19 oder durch Nebenwirkungen (riskante oder wegen Ausrichtung von Covid-19 ausgebliebene Behandlungen, überlastete Gesundheitssysteme, unnötige Verlegungen in die Intensivstationen, aber vielleicht auch durch vermehrte Einsamkeit, Depressionen, Suizide, Gewalt etc.) zustande kam.

In einem Gespräch mit Spektrum sagt der Demograf Timothy Riffe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max Planck Institut für Demographische Forschung: "Unbestritten ist, dass das Virus viele Todesfälle verursacht. Manche sind direkt darauf zurückzuführen, andere sind dadurch beschleunigt worden, und wieder andere sind unserer Reaktion auf das Virus geschuldet. Gleichzeitig wurden sicherlich einige Tode vermieden, die es sonst gegeben hätte, zum Beispiel durch Verkehrsunfälle. Wenn man sich in einiger Zeit die Todesstatistiken anschaut, wird man im Vergleich zu anderen Jahren eine Nettozunahme an Todesfällen feststellen. Diese Zunahme ist - in all ihrer Komplexität - der Pandemie zuzuschreiben."

Riffe hebt hervor, dass Genaueres noch nicht bekannt ist, weil dafür zu wenige Daten vorliegen. Aber er ist der Überzeugung: "Es sterben deutlich mehr Menschen an Covid-19, als beispielsweise das Robert Koch-Institut herausgibt." Dessen Zahlen seien "eine grobe Unterschätzung der Sterblichkeit im Zusammenhang mit der Pandemie". Und er bestreitet die Ansicht, dass alte Menschen, auch wenn sie Vorerkrankungen haben, gemeinhin mit oder ohne Sars-CoV-2 gestorben wären (Die Wirtschaft wird leben, auch wenn wir sterben müssen!).

Dabei verweist er auf eine am 23. April veröffentlichte Studie von schottischen Wissenschaftlern der University of Glasgow, der University of Edinburgh, von Public Health Scotland und Scottish Public Health Observatory. Sie haben anhand von 6801 Covid-Todesfällen in Italien, bei denen Vorerkrankungen bekannt sind, abgeschätzt, ob und wie viele Jahre sie vorzeitig gestorben sind. Nach deren Berechnungen sind die Männer 11 und die Frauen 13 Jahre vorzeitig gestorben.

Massive Verkürzung der Lebenserwartung durch Covid-19

Um durch vorzeitigen Tod verlorene Lebensjahre (YLL) bei den Covid-19-Verstorbenen zu berechnen, schätzten die Wissenschaftler nach Standard-Sterbetafeln der WHO YLL ab. Zudem wurde abgeschätzt, mit welchen wahrscheinlichen Kombinationen chronischer Erkrankungen die Menschen verstorben sind. Mit Daten des britischen Gesundheitssystems wurde dann die Lebenserwartung in Abhängigkeit vom Alter, vom Geschlecht und Kombinationen an chronischen Krankheit geschätzt. Daraus wurde dann für die an oder mit Covid-19 verstorbenen Italienern YLL nach Alter, Geschlecht und Kombination der chronischen Erkrankungen (Multimorbidität) berechnet.

Zu den chronischen Erkrankungen, die vom Istituto Superiore di Sanità angegeben wurden, zählen koronare Herzerkrankungen, Herzinsuffizienz, Schlaganfall, Vorhofflimmern, Bluthochdruck, Diabetes, Demenz, COPD, Krebs, chronische Lebererkrankung und chronisches Nierenversagen. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen lag bei den Männern bei 77,4 Jahren, bei den Frauen bei 81,1 Jahren. Zum Vergleich in Deutschland: 87 % der in Deutschland an COVID-19 Verstorbenen waren 70 Jahre alt oder älter (Altersmedian: 82 Jahre)

Das Ergebnis sind natürlich nur Wahrscheinlichkeiten. Nach den WHO-Lebenstabellen würde YLL durchschnittlich bei den Männern 14 und bei den Frauen 12 Jahre betragen. Berichtigt nach der Zahl und Art der chronischen Erkrankungen ergaben sich 13 Jahre für Männer und für Frauen 11. Die Zahl und Art der chronischen Erkrankungen führt zu einer großen Variabilität. So beträgt die Zahl der durch vorzeitigen Tod verlorenen Lebensjahre bei Über-80-Jährigen durchschnittlich 10 Jahre mit keiner chronischen Erkrankung, mit sechs chronischen Erkrankungen unter 3 Jahren. Für die Wissenschaftler führen Covid-19-Infektionen damit zu einer substantiellen Verkürzung der Lebenserwartung, was sich keineswegs mit der Äußerung des Tübinger Oberbürgermeisters deckt, dass man vor allem Menschen behandelt, die sowieso gestorben wären. Ein 80-jähriger Italiener kann erwarten 90 Jahre alt zu werden, auch wenn er chronische Krankheiten hat.

Viele Organe können angegriffen werden

Das Ergebnis der Studie deckt sich in etwa mit einer Analyse von Andrew Briggs von der London School of Hygiene & Tropical Medicine und anderen Wissenschaftlern über YLL bei amerikanischen und britischen Covid-19-Verstorbenen in den USA vom 17. April.

Nach dieser Abschätzung führt im Vergleich zur normalen Lebenserwartung nach den Sterbetafeln eine Covid-19-Infektion in den USA durchschnittlich zu fast 14 verlorenen Jahren und in Großbritannien zu fast 11 verlorenen Jahren. In den USA sterben auch jüngere Infizierte häufiger als in Großbritannien und in Italien. Sogar wenn Verstorbene in den USA älter als 90 Jahre sind, sterben sie nach den Berechnungen noch ein Jahr vorzeitig. Bei nur einer Vorerkrankung haben die verstorbenen Briten über alle Altersgruppen hinweg 11 qualitätskorrigierte Lebensjahre (QALY) verloren. Bei den 60-Jährigen sind es 20 QALYs, bei den 80-Jährigen 6,4. Bei drei Vorerkrankungen sind es immer noch 6,5 Jahre.

Aus Russland kommt die Meldung, dass Covid-19 auch deswegen gefährlich ist, weil es nicht nur die Lunge, sondern auch andere Organe schädigen kann. Nach Nikolai Briko, der Chef-Epidemiologe des Krankenhauses im medizinischen Forschungs- und Bildungszentrum der Moskauer Staatlichen Universität, leiden zwar 90 Prozent der Infizierten an einer Lungenentzündung und 40 Prozent an Nierenversagen, aber es können alle Organe betroffen sein: "ACE2-Rezeptoren, an die der Erreger am häufigsten bindet, gibt es in den Zellen der Atemwege, Nieren, der Speiseröhre, der Blase, des Dünndarms, des Herzens und des Zentralnervensystems."