Covid-19: Von entleerten zu erfüllten Stadträumen

Bundesplatz/ Berlin heute. Foto: Frank Guschmann

Die Pandemie löst eine Revolution der urbanen Infrastruktur aus

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Jeder ahnt es, aber keiner mag es aussprechen: Eine Rückkehr zum Zustand von vor der Krise wird es nicht geben. Für die Einzelhändler, deren Existenz durch staatliche Finanzspritzen von einem Tag auf den anderen gesichert erscheint, beginnt der lange Zyklus der Dürre erst, wenn sich das Virus zurückgezogen hat. Das Virus kann nichts dafür. Zwar hat es die Stadtzentren und Einkaufsstraßen leer gefegt, aber das Sterben des Einzelhandels ist ein schleichender Prozess, der schon lange zuvor eingesetzt hat.

Sterben die Innenstädte gleich mit? Auch die großen Kaufhäuser fahren schon lange im Schlingerkurs. Der Fortschritt zum immer Größeren frisst seine Kinder. Was der Versandhandel an Marktanteilen errungen hat, wird er nicht wieder hergeben. Und was er an Transport-Kilometern erzielt hat, wird ebenfalls bei ihm verbleiben.

Entsprechend wird die Fahrleistung privater Pkw sinken, sowohl im Nah- als auch im Fernverkehr. Das Verhältnis vom ruhenden Verkehr zum rollenden Verkehr, das 23 : 1 Stunden pro Tag beträgt, wird sich noch weiter zugunsten der Standzeit verschieben. Aber schon lange sind Kommunen überfordert, Parkplätze entlang der Straßenränder vorzuhalten. Die Parkplatzsuche vergällt das Autofahren. Die Zeiten, in denen die vielen Individuen durch die Begeisterung fürs Fahren zur Masse zusammengeschweißt wurden, schwinden jedoch schon seit den 70er Jahren. Die Vorboten einer Krise werden erst im Nachhinein als solche erkannt.

Bevor Corona kam, haben die Medien teils akademisch, teils anekdotisch über "Home office" geschrieben. Was nicht so ernst gemeint war, ist auf einen Schlag eingetreten. Der öffentliche Raum wird zugunsten des virtuellen Raums verdrängt. Im Freiraum, im historischen Kern einer Stadtgesellschaft, finden keine Begegnungen und keine Dialoge über den Gemeinsinn mehr statt. Die Bürger können nicht mehr unbeschadet zwischen dem freien, flexiblen Raum und dem umbauten Raum des Privaten wechseln. Der öffentliche Raum ist seiner Markt-Eigenschaften entblößt.

Zum Höhepunkt der Sperren sahen die Straßen aus wie Architekturmodelle im Maßstab 1 : 1. Der "Luxus der Leere" zwingt zum Nachdenken, wie die Distanzierung des Sozialen von den Menschen aufgehoben werden kann. Aber auch diese Distanzierung ist schon seit langem bekannt, etwa wenn der Staat zum allgewaltigen Leviathan wird.

Die Pandemie löst eine Revolution der urbanen Infrastruktur aus. Die Konsequenzen für den Städtebau sind nicht absehbar. Aber ein Funken Hoffnung lässt sich aus dieser wie aus den meisten Katastrophen herausschlagen. Die Erfahrung, dass die autogerechte Stadt des 20. Jahrhunderts an ihr Ende gekommen ist, bietet die Chance zu einem Innovationsschub. Automobile wird es weiterhin geben, aber sie können nicht mehr die Gerechtigkeit für sich und ihren Betrieb beanspruchen. Der automobile Individualverkehr kann nicht länger mit dem Anspruch der permanenten, der fließenden Privatisierung des Straßenlandes daherkommen. Die Abkunft des Automobils von der Kutsche macht es zu etwas geschichtlich Vorübergehenden.

Der Architekt und Stadtplaner Le Corbusier hatte schon nach dem Ersten Weltkrieg erkannt, dass sich europäische Altstädte nicht mit dem wachsenden Verkehr vertragen. Er befürwortete für die moderne Stadt die Konzentration einzelner nach Funktionen gegliederter Bereiche. Grob gesehen war das eine arbeitsteilige Gliederung nach Wohnen, Arbeiten und Freizeit. Das wurde in der berühmten Charta von Athen (1933) niedergelegt. Die räumliche Gliederung schuf jedoch längere Wege und induzierte ein wachsendes Verkehrsaufkommen, das dann vice versa neue suburbane Konglomerate wie Trabantenstädte, Einkaufszentren usw. ermöglichte. Le Corbusier betrachtete den Städtebau aus der Sicht des Autofahrers. Am Ende stand die autogerechte Stadt.

Der Autoverkehr dominierte die übrigen Verkehre. In der Nachkriegszeit fraßen sich Straßenschneisen, gern auch Stadtautobahnen, in die Häuserbebauung hinein, die wegen vermeintlicher Überalterung und sanitärer Mängel eh zum Abriss freigegeben war. Dieser Kahlschlag der 60er und 70er Jahre nannte sich "Flächensanierung". Was der Zweite Weltkrieg nicht zerstört hatte, stand nun zur Disposition der Abrissbirne. Die primär dem Automobilverkehr dienenden Straßen waren von den Häusern abgebunden, die nur noch als egalitäre Wände der Straße, wenn nicht als Lärmschutz definiert waren. Für Begegnungsräume waren keine Flächen vorhanden.

Autoverkehr wurde zum Stressor Nummer eins, sowohl für die, die ihn ertragen müssen als auch für die, die ihn tätig praktizieren. Die Bestimmung der Qualität von Städten ist zwangsläufig in die Hände von Neurologen und Technikern gelegt, die Verkehrsdichte und Dezibel messen.

Der öffentliche Freiraum war durch die Expansion des Kraftfahrzeugverkehrs bedrängt. Grün wurde im Zug von Straßenverbreiterungen gekappt. Der Versuch von Landschaftsplanern der 60er und 70er Jahre, das Grün durch Wandscheiben gegen den Autoverkehr an Hauptverkehrsstraßen abzuschirmen, misslang. Die Resträume wurden zu Angsträumen. Der Überwachungsaufwand stieg und steigt bis heute.

Man vergleiche einmal repräsentative Plätze aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die in bürgerliche Viertel eingebettet waren, mit dem heutigen Zustand. Die Plätze sind zur Unkenntlichkeit entstellt. Sie sind Aufmarschgebiete für den Verkehr, so wie sie im frühen Stadium Aufmarschgebiete für Soldaten gewesen sein mögen.

Bundesplatz, vormals Kaiserplatz, 1912. Bild: gemeinfrei

Die Nachbarschaft als Wahlverwandtschaft

Die soziale Distanzierung hat eine physische und eine virtuelle Komponente. Physisch wird der öffentliche Raum verlassen, um sich auf die Mikro-Ebene des Sozialen, die Familie in der eigenen Wohnung zurückzuziehen. Das Crowding-Stresssyndrom, das Verdichtungsphänomene des öffentlichen öffentlichen Raums bezeichnen sollte, taucht nun in der kleinsten Zelle der sozialen Organismen auf. Die Familiendichte ist zu hoch und läuft dem jahrzehntelangen Trend zunehmender Entfremdung und Distanzierung der Familienmitglieder zuwider. Das Bonmot "Die Decke fällt einem auf den Kopf" trifft es ganz gut.

Die digitale Vernetzung holt die Welt ins Wohnzimmer. McLuhans Wort des "Global village" hat nach wie vor Geltung. Alles ist gleichzeitig, räumliche Distanzen werden verschluckt. Die Raum-Zeit-Kompression virtualisiert den Ort des Austauschs von Informationen. Es ist egal, wo man sich befindet. Die audiovisuelle Stammesgemeinschaft ist überall und nirgends. Virtualisierung ist ein Prozess der Entkörperlichung, und das tut der Familie und generell der Kommunikation nicht gut.

Als Konferenzen per Bildschirmübertragung möglich wurden, machte man schnell die Erfahrung, dass zwischen den Beteiligten, die ihr Konterfei auf den Bildschirmen sehen, schneller Aggressionen ausbrechen als bei Konferenzen mit physischer Präsenz. Zur Lösung mag eine Faustregel zu den Bestandteilen der Kommunikation beitragen: 55% bestehen aus Körpersprache, 38% aus dem Tonfall der Stimme und 7% aus der eigentlichen rationalen Mitteilung. Diese Einteilung Albert Mehrabians ist zu holzschnittartig, aber die Rolle der Sinne und der vegetativ-evolutionären Erblasten wird nicht zu unterschätzen sein.

Das Dilemma besteht bis heute fort. Zitat aus einer Gebrauchsanleitung für Leiter/innen von Videokonferenzen: "Die nonverbale Kommunikation fehlt und damit auch Mimik und Gestik. Vorsicht mit Humor und Sarkasmus. Verwenden Sie aber gerne Emoticons." Hätte der amerikanische Präsident nur auf diesen Rat gehört, wäre ihm sein Sagrotan-Sarkasmus nicht untergekommen.

Rollende Gehsteige mit Umsteigemöglichkeit. Alternative zur autogerechten Stadt, 1969. Entwurf: Georg Kohlmaier / Barna von Sartory / Quelle: Berlinische Galerie

Der Sprung in die häusliche Virtualität überspringt den öffentlichen Raum in der Hoffnung, die Verkehrs-, Abgas- und Viren-Belastung hinter sich zu lassen, tauscht jedoch lediglich alte Probleme gegen neue ein. Die Krise verlangt innezuhalten und eine Diskussion darüber anzustoßen, wie der öffentliche Raum zurückerobert werden kann.

Zu Smart City werden teils phantastische, teils windelweiche Konzepte in Umlauf gebracht. Wenn aber Smart City als Aufgabe verstanden wird, die Innenstädte autofrei umzugestalten, wäre das die klare Definition einer konkreten Utopie. Auf dem Weg dorthin wären Verkehre neu zu gewichten, sodass Radfahrer und Fußgänger nicht länger als Störenfriede empfunden werden. Der Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes von Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin, Felix Weisbrich, hat die Zeichen der Zeit erkannt und lässt gerade Pop-up-Radwege aus dem Straßenboden sprießen.

Die verloren gegangenen Stadtplätze könnten revitalisiert werden. Die Straßen sollten in ihrer Funktion als Klimaschneisen untersucht und gesichert werden. Das Oberflächenwasser muss nicht gleich im Kanalsystem verschwinden, und neue Verkehrsmittel wären unter der Fragestellung zu entwickeln, welche Lasten wohin und womit zu verteilen sind. Die Trends sind nicht neu, aber sie wurden ausgebremst. Es ist Zeit für einen Durchbruch.

Die Antwort der Autoindustrie kann man sich ausmalen: Alles schon bekannt, alle Szenarien schon durchgespielt ... und auf Eis gelegt. Wenn das so ist, dann geht aus der Pandemie die Aufforderung hervor: Endlich auftauen, endlich machen. Und nicht aufs falsche Pferd setzen. SUVs haben genau so wenig Zukunft wie Klopapierrollen.

Die Tage werden wärmer, und das Verbot, Tische und Stühle vor dem Lokal oder Café aufzustellen, fällt. Ich klemme den Laptop unter den Arm und begebe mich von meiner Wohnung nach unten, um mich mit einem Geschäfts- oder Gesprächspartner zu treffen. Am Nachbartisch sitzen Mitbewohner. Zeit für einen Smalltalk. Beim Späti nebenan kann ich zukaufen, was ich im Supermarkt vergessen habe. Vor meinen Augen der frisch begrünte Stadtplatz aus der Gründerzeit.

Der Gesprächspartner ist vielleicht Architekt, der mir seinen Entwurf für ein Haus zeigt, in dem Wohnen und Arbeiten, auch Handwerkliches, verbunden sind. Das Projekt ist genossenschaftlich.

So idyllisch wie in dieser idealisierten Darstellung ist Stadt nicht immer. Aber zwischen Corona-Notstandsprogrammen hier und Homeoffice da gilt es, die Stadt als physischen Organismus und Ort sozialen Aushandelns zurückzugewinnen. Die Nachbarschaft kommt da gerade recht, nur einmal ums Eck.