Übersterblichkeit in Seine-Saint-Denis

Bild: Mr Xerty/unsplash

Corona-Zwischenbilanz: Die "benachteiligten Viertel" waren besonders betroffen

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Das Sars-CoV-2-Virus hat nicht alle gleichermaßen böse erwischt; es zeigen sich soziale Unterschiede, wie eine Zwischenbilanz aus Frankreich bestätigt: Die "benachteiligten Viertel" waren besonders betroffen.

In Vorstädten und Wohngegenden der Ärmeren im Großraum Paris, der Region Île-de-France, wurde eine Übersterblichkeit festgestellt, die andere Regionen übertraf.

Es gibt zwei Regionen in Frankreich, deren Infektionszahlen auffallen. Das ist einmal die Region Grande Est (Großer Osten), an der Grenze zu Deutschland, und zum anderen Île de France. Bei der Region Grand Est liegt der Anteil der Infizieren laut einer Übersicht vom gestrigen Montag bei 11,8 Prozent. Beim Ballungsraum Paris (Île-de-France) liegt er bei 12,8 Prozent und hat damit den höchsten Anteil (die anderen Regionen liegen bei Anteilen unter 6,4 Prozent).

Frappierend sind die Zahlen zur Übersterblichkeit. Sie erreichte ihren Gipfel in der Woche vom 30. März zum 5. April. Da betrug sie 221 Prozent. Ende April sank sie auf 53 Prozent. Besonders fiel das Département Seine-Saint-Denis mit einer Übersterblichkeit von fast 300 Prozent Ende März auf. Das Département mit der Ordnungsnummer 93 ist für seine vielen Problemzonen und Unruhen, die von dort ausgingen, nicht nur in Frankreich bekannt, insbesondere Clichy-sous-Bois (siehe: 11. Nacht: 1408 verbrannte Autos und Die Zeitbombe in den Vorstädten).

Ein Bericht des zuständigen Gesundheitsobservatoriums (l’Observatoire régional de santé d’Île-de-France) konstatiert, dass sich die "ausgeprägte soziale Ungleichheit" bei der Verbreitung des Virus zeige. Dabei konzentriert er sich allerdings auf den Großraum Paris (die auffällig hohe Zahl der Infektionen in der Region Grande Est dürfte anders erklärt werden; dort gibt es allerdings auch nicht die ungewöhnlich hohe Übersterblichkeit).

90 Prozent der in Zusammenhang mit Covid-19 Gestorbenen sind über 60 Jahre alt, mehr als die Hälfte über 80 Jahre. Wie anderswo auch war die Viruserkrankung überwiegend für die Älteren tödlich, aber sie waren in den "benachteiligten Vierteln" auch einem weitaus höheren Risiko ausgesetzt, sich anzustecken, wie das Gesundheitsobservatorium erklärt.

Das Virus konnte sich durch die Wohnbedingungen, die das Abstandhalten unmöglich machen, gut verbreiten. Es leben dort zu viele Menschen auf zu kleinen Räumen; selbst Menschen, die darauf achten, vorgegebene Abstandsregeln einzuhalten, kommen dort öfter in Situationen, die das Risiko einer Ansteckung steigern, wie der Bericht feststellt (siehe S. 11, PDF).

Dazu kommt, dass eine halbe Million Einwohner, nicht ganz 10 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung der Region (in Seine-Saint Denis sind es 12 Prozent), in Berufen arbeiten, die auch während des Lockdowns aktiv waren: im Transportwesen, in der Müllentsorgung, in der Lebensmittelbranche, bei Auslieferungen, im öffentlichen Dienst, bei der Polizei und in der Pflege.

Die Lebenserwartung sei in bestimmten Wohngegenden des Ballungsraums Paris durchschnittlich um 7 bis 8 Jahre geringer als im Durchschnitt. Die Bewohner seien häufiger an Diabetes und Adipositas erkrankt, die beide schwere Formen von Covid begünstigen, so Isabelle Grémy.

Es gebe mehr chronische Krankheiten und eine medizinische Versorgung, die in Seine-Saint-Denis "besonders nachteilig" ist, wie der Bericht notiert.

Diese Einsichten in Lebensumstände, die in der Berichterstattung nun kurz wieder ans Licht kommen, überraschen die wenigsten. Berichte von alleinstehenden Müttern, die nicht von der Ausnahme-Erhöhung der staatlichen Unterstützung profitieren, bleiben ein "Nischenthema".

Die Regierung unter Präsident Macron weiß, wie schon die Vorgängerregierung (unter Präsident Hollande) und die zuvor (unter Präsident Sarkozy), um die Probleme in den Trabantenstädten und Wohnvierteln der Schlechtergestellten. Jede Regierung lässt einen Bericht zu den Banlieues verfassen, getan wird zu wenig, um die Situation wesentlich zu verbessern.

Die Corona-Epidemie hat noch einmal einen Blick auf diese Peripherie und deren Bedingungen geschärft. Ob sich an der politischen Praxis etwas ändert, steht auf einem anderen Blatt.