Die Sache mit der Menschenwürde und dem Wert des Lebens

Bild: Dontworry/CC BY-SA-3.0

Die Diskussion um Menschenwürde und Lebensschutz prosperiert in der Corona-Krise. Die Feuilletons renommierter Zeitschriften sind der Austragungsort, Koryphäen aus Juristerei, Philosophie und Politik die Protagonisten der Debatte

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Größen wie Jürgen Habermas, Wolfgang Schäuble, Giorgio Agamben, Peter Sloterdijk oder Otfried Höffe sahen sich genötigt, sich aus ihren Sesseln zu erheben und Position zu beziehen.

Dass um diese Debatte so viel intellektueller Wirbel entsteht, ist nicht verwunderlich. Schließlich ist die Menschwürde das Emblem der menschlichen Spezies par excellence. Dennoch gehen die Meinungen über den Stellenwert der Menschenwürde und den Grad der Verantwortung für den Lebensschutz auseinander. Habermas zeigt sich besorgt, "wie nun auch Juristen den Lebenswert relativieren". Sloterdijk indes sah die Krise etwas gelassener und empfahl dem französischen Premier kurzerhand, er möge doch Camus "Die Pest" beiseitelegen und sich stattdessen Boccaccios "Dekameron" zu Gemüte führen.

Schäuble wiederum wies in einem vielbeachteten Statement auf die prinzipielle Differenz zwischen der Wahrung der Menschenwürde und dem Absolutheitsanspruch des Lebensrechts hin und Höffe sprach von der hierarchischen Nachrangigkeit des Lebensschutzes gegenüber den Freiheitsrechten im Grundgesetz.

Doch warum so viele Meinungen, warum so viele Artikel und warum dieser Dissens?

Die Pluralität der Standpunkte deutet darauf hin, dass es sich bei Fragen, welche die Menscenwürde und den "Wert des Lebens" betreffen, um keine Schwarz-Weiß-Angelegenheit handelt. Es gibt viele Grauzonen und Aussagen über Würde und Lebenswert lassen sich nicht aus deskriptiven Urteilen über empirische Gegebenheiten ableiten. Deshalb ist es wichtig die Natur der Fragen zu klären, die auf den Gehalt und die Geltung von Menschenwürde und Lebensrecht abzielen.

Der Begriff der Menschenwürde ist ein normativer und kein empirischer. Dasselbe trifft auf den Begriff des Lebenswertes zu. Das bedeutet, die Menschenwürde und der Wert des Lebens sind nicht Teil der naturwissenschaftlich erfassbaren Welt. Der Wert des Lebens kann nicht empirisch ermittelt werden. Gleichwenig lässt sich die Menschenwürde in einem naturwissenschaftlichen Experiment nachweisen oder mit dem bloßen Auge beobachten.

Die Sphäre des Normativen zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit präskriptivem bzw. wertendem Vokabular hantiert. Gegenstand des Normativen sind typischerweise Fragen wie "was ist gut?" oder "was soll ich tun?" Es geht also nicht um ein deskriptiv beschreibbares Sein, sondern um ein gebotenes Sollen. Dass zwischen Sein und Sollen eine analytisch-logische Dichotomie besteht, wissen wir spätestens seit David Hume.

Die Disziplin, die sich mit dem Bereich des Normativen bzw. Wertenden und folglich mit der Menschenwürde auseinandersetzt, ist seit je her die philosophische Ethik. Die Ethik wiederum ist nolens volens Teil der Metaphysik. Die Metaphysik - wie schon der Name andeutet - beschäftig sich mit Entitäten oder Aussagen, die nicht Gegenstand empirischer Wissenschaft sein können. Anders: Die Metaphysik tätigt Aussagen über die Beschaffenheit der Welt, deren Wahrheitsgehalt nicht empirisch überprüft werden kann. Aussagen wie "alles Seiende lässt sich auf ein letztes Prinzip zurückführen" oder "Gott ist die erste Ursache allen Seins" sind klassische metaphysische Urteile. Sie sind zwar prinzipiell wahrheitsfähig, aber nicht empirisch falsifizierbar.

Zahlreiche Bemühungen, den Bereich des Normativen zu naturalisieren, gelten als gescheitert. Einen moralischen Naturalismus im genuinen Sinne gibt es nicht - zumindest nicht in überzeugender Form.

In Ermangelung von moralischen oder normativen Fakten, ist man bei Belangen der Ethik und der Moral - wie bei metaphysischen Fragestellungen im Allgemeinen - auf Plausibilitätsargumente angewiesen.

Was ist eigentlich die Menschenwürde?

Auch diese Frage ist wohlgemerkt metaphysisch. Zunächst besteht die Menschenwürde nur als Begriff. Wie gesagt, lässt sich die Frage, ob ihr in der realen Welt ein Gegenstand korrespondiert, nicht empirisch beantworten. Damit der bloße Begriff der Menschenwürde nicht leer und inhaltslos bleibt, muss er mit einem semantischen Gehalt behaftet werden.

Dass dieser Gehalt normativer Natur sein muss, liegt auf der Hand, denn schließlich sollen sich aus der Menschenwürde bestimmte Schutzrechte für das Individuum ergeben. Denn der Umstand, dass einem Individuum oder dem Menschen als Gattungswesen Menschenwürde zugesprochen wird, heißt nichts anderes, als dass dem Träger der Menschenwürde mit einer gewissen Haltung oder einem Handeln begegnet werden sollte.

Der Begriff der Menschenwürde hat also dann, und nur dann einen moralisch zwingenden Charakter, wenn sich aus ihm Schutzrechte ableiten lassen. Menschenwürde und die sich daraus ergebenden Individualrechte stehen in einem transitiven Verhältnis. Das heißt, dass die Würde des Menschen nur dann unantastbar ist, wenn die aus ihr abgeleiteten und gleichzeitig sie konstituierenden Schutzrechte unantastbar sind bzw. kategorisch gelten.

Doch welche Rechte sind das? Das deutsche Grundgesetz führt hier u.a. das Recht auf "freie Entfaltung der Persönlichkeit", die "Gleichheit aller vor dem Gesetz" und das "Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" an. Im Grunde verbürgt die Menschenwürde nichts anderes als die allen Individuen zukommenden Menschenrechte.

Nun steht und fällt die Unantastbarkeit der Menschenwürde mit der Unantastbarkeit dieser Rechte. Oder anders: Die Menschenwürde ist nur dann unantastbar, wenn die genannten Grundrechte, die sie verbürgt absolut gelten. Doch ist das so?

Unantastbarkeit der Menschenwürde gilt nicht absolut

Wären diese Rechte absolut, dann hieße das, dass sie einem Individuum unter keinen Umständen abgesprochen werden könnten. Doch offensichtlich ist das nicht der Fall. Es gibt unzählige Fälle von Beispielen, wo wir eben diese Rechte derogieren oder suspendieren.

Beispielsweise akzeptieren wir, wenn ein Soldat im Krieg einen anderen Kombattanten tötet. Der Soldat kann dann auch nicht rechtlich belangt werden, vorausgesetzt, er tötet keine unschuldigen Zivilisten. Das humanitäre Völkerrecht derogiert in diesem Fall das Recht auf Leben. Gut die Hälfte aller Menschen auf der Welt leben in Staaten, in denen die Todesstrafe noch Teil der legalen Praxis des Justizsystems ist. Man denke hierbei an China, die USA und Indien. Aber auch in Indonesien, Saudi-Arabien und vielen afrikanischen Staaten ist die Todesstrafe noch gängige Praxis. Ob man die Todesstrafe für moralisch zulässig hält oder nicht, spielt vorerst keine Rolle. Nebenbei sei hier bemerkt, dass auch der große Immanuel Kant ein Verfechter der Todesstrafe war.

Auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit gilt nicht absolut. Gesetzeshüter dürfen renitente Delinquenten durchaus mit unsanften Methoden züchtigen. Bei einem Akt der Selbstverteidigung ist es sowohl gesetzlich als auch moralisch unbedenklich, den Angreifer brachial abzuwehren - stets im Rahmen der Verhältnismäßigkeit versteht sich.

Doch was bedeutet das nun für die Menschenwürde? Es bedeutet, dass die Menschenwürde keinen ultimativen Schutz bildet, welcher das Individuum analog einem sakralen Schild umgibt und vor jeglicher Art des Angriffs schützt. Das ginge auch gar nicht, denn die Menschenwürde ist kein materielles Gut.

Selbst wenn die Menschrechte nur ab und an außer Kraft gesetzt würden, wäre das Beleg genug dafür, dass sie niemals absolut und kategorisch gelten können und zwar per se. Denn wenn die Schutzrechte, welche die Menschenwürde verbürgt nicht absolut und unantastbar sind, kann es die Menschenwürde auch nicht sein.

Der sich nun aufdrängende Einwand, "die Menschenrechte mögen zwar suspendierbar sein aber die Menschenwürde ist es nicht" muss zurückgewiesen werden. Denn wenn wir die Menschenwürde von den aus ihr folgenden und sie konstituierenden Schutzrechten entkoppeln, ist nicht mehr zu sehen, welchen normativen Gehalt der Begriff der Menschenwürde überhaupt noch haben soll.

Diese Diagnose mag verwirrend wirken, doch dazu gibt es keinen Grund. Dass weder das Recht auf Leben noch die Menschenwürde absolut gelten, wird hier nicht einfach behauptet, sondern ergibt sich ganz einfach aus unserer alltäglichen, vortheoretischen Praxis. Dieser theoriefreie Raum wird in der Philosophie auch Lebenswelt genannt.

Das ethische Konzept der Menschenwürde sowie eine jede ethische Theorie überhaupt, hat ihren Ursprung in dem unhintergehbaren, immer schon akzeptierten präreflexiven Handlungsgeflecht unserer Lebenswelt. Man könnte auch sagen, die Lebenswelt ist einer Theorie der Ethik immer schon vorgelagert. Die Ethik und damit das Normative widerspiegelt immer nur unsere lebensweltliche Praxis und nicht umgekehrt.

Es verhält sich nämlich nicht so, dass wir beispielsweise unser Handeln nach dem kategorischen Imperativ Kants richten, sondern umgekehrt, handeln wir schon immer nach diesem Gesetz, weil es sich als Teil unserer lebensweltlichen Praxis bewährt hat. Das muss jedoch längst nicht heißen, dass wir immer der kantschen Regel folgen, denn z.B. spielen auch utilitaristische und melioristische Erwägungen in unserer alltäglichen Praxis eine Rolle.

Unsere Praxis ist sehr komplex und kann nicht durch ein einziges Prinzip eingefangen werden. Dasselbe gilt übrigens auch für alle anderen ethischen Ansätze, die in unserer lebensweltlichen Praxis immer schon Anwendung finden. Die Theorie kommt erst, wenn wir beginnen diese Praxis reflexiv zu thematisieren.

Doch was hat all das mit der Menschenwürde und dem Schutz des Lebens zu tun?

Die ethische Debatte in der Corona-Krise dreht sich allein um die Frage, ob dem Schutz des Lebens und der Gesundheit alles andere untergeordnet werden darf und ob die ergriffenen Maßnahmen nicht unverhältnismäßig seien.

Problematisch wird es erst, wenn übliche Abwägungspraktiken theoretisch beleuchtet und thematisiert werden

Die breite Öffentlichkeit scheint die durchaus edle Auffassung zu vertreten, dass der Wert des menschlichen Lebens und der Schutz der Gesundheit absolut seien und unter keinen Umständen gegen andere Güter oder Interessen aufgerechnet werden dürfen, weder gegen das Gut der Freiheit noch gegen das Leben anderer. Doch handeln wir tatsächlich so?

Tatsächlich gehören auch Abwägungspraktiken zu unserer Lebensform - und zwar immer schon. Dass diese Praxis der Abwägung oft unbewusst bleibt, spielt für ihre Legitimität keine primäre Rolle, im Gegenteil zeigt das gerade, wie selbstverständlich diese Praxis doch für uns ist und wie fest sie bereits in unserem alltäglichen sozialen Miteinander sedimentiert ist.

Exemplarisch hierfür sind z.B. Kosten-Nutzen-Analysen bei Sicherheitsvorrichtungen in der Automobilindustrie, Risikoanalysen bei Lebensversicherungen und im Bausektor, Abwägungen bei der Triage in der Notfallmedizin, Kriterien für die Organtransplantation oder die Analyse, ob sich die Forschung nach Impfstoffen für bestimmte Krankheiten "rentiert". Diese Liste ließe sich nach Belieben fortführen.

All das zeigt, wie akzeptiert und konsolidiert Abwägungs- und Verrechnungspraktiken in unserer Gesellschaft sind. Problematisch wird es erst, wenn diese Praktiken theoretisch beleuchtet und thematisiert werden. Denn erst dann unterziehen wir sie einer moralischen Analyse und prüfen, ob sie mit gewissen ethischen Theorien oder Standards kompatibel sind.

Und plötzlich echauffieren wir uns über etwaige Abwägungskalküle und verweisen auf den theologisch-metaphysisch begründeten absoluten Wert und die kategorische Nicht-Verrechenbarkeit des Lebens. Dabei tun wir es schon immer.

Der unbedingte und kategorische Lebensschutz ist und war in Wirklichkeit niemals Teil unserer lebensweltlich fundierten Praxis. Würden wir tatsächlich den Schutz des Lebens und der Gesundheit zu unserer höchsten Priorität erklären, müssten wir jedes Risiko, welches Leib und Leben gefährdet systematisch minimieren. Ja, wenn wir unsere Handlungsmaximen allein nach dem Erhalt von Leben und Gesundheit ausrichten würden, dann müssten wir all unsere Ressourcen und all unser Handeln in den Dienst der Lebenserhaltung stellen - und zwar stets und immer.

Beispielsweise müsste ich meinen Kinobesuch aufschieben und stattdessen Flüge in die ärmsten Länder der Welt buchen, um dort Gutes zu bewirken. Dass die durch das Fliegen emittierten Treibhausgase wiederum negativ auf die kollektive Gesundheit rückwirken könnten, soll hier unbeachtet bleiben, zeigt aber, wie grotesk solche Verabsolutierungen sein können.

Leider birgt diese Krise auch das Potenzial eines Generationenkonfliktes, denn die meisten Corona-Opfer sind ältere Menschen mit mehr oder minder starken Vorerkrankungen. Dass im Einzelfall auch leidlich gesunde und jüngere Menschen betroffen sein können, ändert daran nichts.

Dass der staatliche Rigorismus und der dadurch induzierte wirtschaftliche Kollaps für viele Familien schwerwiegende existentielle Konsequenzen hat und vielen jungen Menschen die Zukunft verbaut und dies auch noch zum Schutze einer größtenteils betagten Generation geschieht, stößt bei vielen auf Unverständnis. Doch mindestens genauso viele verbieten eine Abwägung von Leben gegen Leben und weisen auf den inhärenten Wert göttlich inspirierten Lebens hin.

"Das Leben einer alten Person ist gleich viel wert, wie jenes der jüngeren." Aus Kantscher und christlicher Sicht trifft das zu. Denn vor den Augen Gottes wiegt jedes menschliche Leben gleich, ob jung oder alt, stark oder schwach, gesund oder krank ist dabei unerheblich.

In unserer lebensweltlichen Praxis jedoch sieht es anders aus. Es scheint, als bestünde ein stillschweigender Konsens darüber, dass wir einem jungen Leben einen höheren Wert beimessen als einem alten. Man sieht das leicht an unseren Reaktionen, wenn ein junges Leben verloren geht. Beispielsweise zeigen wir uns beim Durchforsten der Todesanzeigen weit mehr betroffen, wenn ein Kind oder Jugendlicher sein Leben lässt, als wenn eine Person mit 80 Jahren aufgrund von Altersschwäche das Zeitliche gesegnet hat, vorausgesetzt es handelt sich bei der älteren Person nicht um eine enge Bezugsperson oder Bekannten. Von der Gesellschaft wird das gemeinhin auch so empfunden. Dass persönliche zwischenmenschliche Bindungen dabei auch eine Rolle spielen, liegt auf der Hand, spielt aber für unsere allgemeine Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle.

Das heißt aber eben nicht, dass ein junges Leben per se mehr wert ist als ein altes, es zeigt lediglich, dass wir es immer schon so betrachten und akzeptiert haben. Und dies vermutlich aus dem ganz einfachen Grund, dass eine junge Person ihr Leben noch vor sich hat und es der Lauf der Dinge ist, dass der Mensch irgendwann stirbt. Ob die Todesursache nun Altersschwäche, ein Herzinfarkt oder eine virale Krankheit ist, spielt dabei keine Rolle.

Bedeutet dies nun, dass es die Menschenwürde nicht gibt? Nein, das heißt es nicht. Im Gegenteil ist das Wertschätzen des Gegenübers und das Entgegenbringen von Respekt und Anerkennung genauso Teil unserer lebensweltlichen Praxis wie das Abwägen von Interessen und Gütern in bestimmten Situationen.

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