Die Anschlagsserie von Waldkraiburg und ihre politische Verortung

Fahndungsplakat der Polizei

Zunächst wurde bei den Angriffen auf türkische Ziele ein rechtsextremistischer Hintergrund vermutet, doch der Täter war ein Dschihadist

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In der Nacht vom 16. auf den 17. April 2020 verübte der Chemiearbeiter Muharrem D. einen kleineren Anschlag auf ein türkisches Friseurgeschäft in Waldkraiburg. Innerhalb von drei Wochen folgten noch drei weitere Anschläge auf türkische Einrichtungen. Bei einem nächtlichen Brandanschlag wurden zahlreiche Anwohner gefährdet. Zunächst vermutete man den oder die Täter in Kreisen von Rechtsextremisten. Zwei Tage nach dem letzten Angriff konnte der Täter nur durch Zufall festgenommen werden. Es stellte sich heraus, dass es sich bei ihm in Wahrheit um einen kurdischen Dschihadisten handelte, der aus Hass auf Türken seine Taten verübt hatte. In seinem Gepäck fand man eine Pistole und 23 Rohrbomben für weitere Angriffe.

Der Attentäter

Muharrem D. wurde in Altötting geboren und besitzt sowohl die deutsche wie die türkische Staatsbürgerschaft. Er ist kurdischer Abstammung. Im Frühjahr 2020 zog er von Garching an der Alz um in die Kleinstadt Waldkraiburg (23.500 Einwohner), dort wohnte er in einer WG mit einem türkischen Mitbewohner.

Zunächst besuchte Muharrem D. die Mittelschule in Garching, danach machte er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann in einem Supermarkt in Trostberg und besuchte dazu die Berufsschule in Altötting. Seit Januar 2020 arbeitete er über eine Zeitarbeitsfirma bei dem Chemieunternehmen Nitrochemie Aschau GmbH in Aschau (Liebigstraße 17), einer Tochter des Rüstungskonzerns Rheinmetall AG in Düsseldorf. Das Unternehmen stellt u. a. Treibladungspulver auf der Basis von Nitrocellulose, Ethanol und Diethylether für Militärmunition her. Der Sicherheitsbeauftragte des Unternehmens, Dr. Klaus-Dieter Mogendorf, betont auf der Firmenwebseite:

Sicherheit hat bei der Nitrochemie den höchsten Stellenwert. Durch eigene Initiativen und in Zusammenarbeit mit den Behörden passen wir die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen in unseren Produktionsbereichen ständig dem neuesten Stand der Technik an.

Nitrochemie

Anscheinend war die dschihadistische Orientierung des Muharrem D. bei seiner Einstellung in den Rüstungsbetrieb nicht aufgefallen. Dabei hatte es innerhalb der Familie des Attentäters in den letzten Jahren wegen dessen zunehmender religiöser Radikalisierung wiederholt Streitereien zwischen den Eltern und ihrem Sohn gegeben, die zeitweise in einem Kontaktabbruch mündeten.

Außerdem war Muharrem D. als Kleinkrimineller bekannt. Zweimal - zuletzt im Oktober 2019 - war er wegen Drogendelikten zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Weil er sich an einem verbotenen Autorennen beteiligt hatte, wurde sein Führerschein eingezogen.

Die Anschlagsserie

Er verübte mehrere Anschläge auf türkische Ziele in Waldkraiburg. In der Nacht vom 16. auf den 17. April griff Muharrem D. das Friseurgeschäft "Prestige" am Stadtplatz bzw. Sartrouville-Platz Nr. 20 an. Das Ladenlokal wurde mit Öl und Dreck verunreinigt, berichtete der Inhaber Özlem Orhan.

Am 18. April 2020 warf er mit einem Stein die Schaufensterscheibe der Pizzeria "Zico's" (Annabergplatz 2) ein und kippte "eine schmierige Flüssigkeit, wahrscheinlich Schweinekot", ins Lokal. "Es hat fürchterlich gestunken, die Wände waren bespritzt, Ich musste die ganze Pizzeria neu streichen", berichtete der Inhaber Erkan Artuk.

Am 27. April 2020 legte er in dem Obst- und Gemüseladen von Hüseyin A. im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses am Sartrouville-Platz kurz vor 3.00 Uhr Feuer. Die 27 Bewohner konnten sich ins Freie retten, allerdings erlitten sechs Bewohner eine leichte Rauchvergiftung. Nach Angaben des Hausverwalters Jürgen Abrahamfi befanden sich in dem Gebäude 22 Wohnungen und Büros. Auch das benachbarte Geschäft "Textilien und Kurzwaren Juppe" wurde beschädigt, so dass die Ladenbesitzerin Gerlinde Roth ihren Betrieb nach Jahrzehnten aufgeben musste.

Am 6. Mai warf er beim Döner-Imbiss "GÜL Kebaphaus" von Hasan Çavuş. (Franz-Liszt-Straße 14) die Schaufensterscheibe ein. Der Gesamtschaden der verschiedenen Anschläge wurde auf über eine Million Euro geschätzt. Der bayerische Landesinnenminister Joachim Herrmann (CSU) bekannte: "Wir messen dem Geschehen eine sehr hohe Bedeutung bei."

Festnahme wegen Bagatelle

Zur Aufklärung der Anschlagsserie setzte die Kriminalpolizeiinspektion Traunstein die Sonderkommission PRAGER (50 Mitarbeiter) ein, die von Kriminaldirektor Hans-Peter Butz geleitet wurde. Die Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) der Generalstaatsanwaltschaft München übernahm die Ermittlungen; Oberstaatsanwalt Georg Freutsmiedl leitete die Nachforschungen. Zur Ergreifung des Täters war eine Belohnung von 3.000 Euro ausgesetzt.

Am 8. Mai 2020 wurde Muharrem D. - durch Zufall - festgenommen. Er war in der Regionalbahn RB 27992 von Garching nach Mühldorf ohne Fahrschein (Kosten: 5,10 Euro) unterwegs und konnte sich nicht ausweisen. Daraufhin informierte die Schaffnerin die Bundespolizei, die Muharrem D. am Zielbahnhof festnahm.

Als die Beamten ihn zur nächsten Wache abführen wollten, fragte dieser die Beamten, ob er nicht seinen Koffer stehen lassen könne, weil dieser so schwer sei. Daraufhin durchsuchten die Polizisten den Koffer und fanden 5,7 Gramm Marihuana und - nach unterschiedlichen Angaben - acht bis zehn selbstgebaute Rohrbomben und ca. 20 kg Chemikalien, darunter Phosphor. Bei der anschließenden Durchsuchung seiner Wohnung und in einem Auto in einer Tiefgarage in Garching fand das SEK insgesamt 23 Rohrbomben, die Muharrem D. "mit großem technischen Know-How" gebaut habe, so die Ermittler, eine Pistole der Marke "Beretta" (7,65 mm) und 10 kg verschiedene Chemikalien in flüssiger oder Pulverform, darunter Blitzknallmittel.

Überraschende Motivlage

Nach seiner Festnahme gab sich Muharrem D. sogleich als Sympathisant und Kämpfer des Islamischen Staates zu erkennen und offenbarte "Täterwissen". Als Motiv für seine Anschläge gab er "Hass auf Türken" an, allerdings hatten die vier Anschläge anscheinend nichts mit dem ethno-nationalen Konflikt zwischen Türken und Kurden in der Türkei zu tun. Vielmehr gilt die Anschlagsserie als der erste Fall, bei dem ein IS-Anhänger in der BRD gezielt türkische Ziele angriff.

Der "Spiegel" spekulierte über eine narzisstische Persönlichkeitsstörung des "Bombenlegers von Waldkraiburg", wie er sich in den polizeilichen Vernehmungen selbst nannte:

Zu einem narzisstischen Persönlichkeitsbild passt auch, dass D. nach seiner mutmaßlichen Tat offenbar wahllos per Instagram Freundschaftsanfragen verschickt hat. So erzählen es Männer, die in der Nähe des ausgebrannten Geschäfts wohnen. Auf dem Handy zeigt einer der Männer Bilder und Videos seines Social-Media-Profils herum. Darauf: heroisch anmutende Selbstporträts, Clips, in denen ein Badezimmer unter Wasser gesetzt wird, Videos, wie jemand Gegenstände am Boden einer Küche verbrennt. Und eine düstere Koransure, in der Irregeleiteten mit dem Höllenfeuer gedroht wird.

Spiegel

Demgegenüber befand ein Ermittler: "Er wirkt nicht schuldunfähig. Man hat in den Vernehmungen gemerkt, dass er sehr wohl weiß, was er getan hat. Er hat auch Drucksituationen in den bisherigen Vernehmungen ausgehalten."

"Es gibt zurzeit keine Anzeichen für Mittäter. Nach seinen Angaben hat er allein und ohne Anleitung gehandelt", erklärte der Leitende Oberstaatsanwalt Georg Freutsmiedl. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen versuchten Mordes in 27 Fällen. Welche Ziele er mit den zwei Dutzend Sprengkörpern attackieren wollte und ob er auch die Munitionsfabrik in Aschau im Visier hatte, wurde nicht bekannt.

Die lokale deutsch-türkische Gemeinde in Waldkraiburg, die dort seit 1994 die Sultan-Ahmed Camii (Reichenberger Straße 15) betreibt, hatte - wohl unter dem Eindruck der Anschläge von Hanau - zunächst spekuliert, es könnte sich um bei dem Täter um ein oder mehrere Rechtsextremisten handeln:

Zu den Tatmotiven sowie der Brandursache hat die Polizei noch keine konkreten Angaben getätigt. Von Spekulationen ist selbstverständlich abzuraten und die Ermittlungsergebnisse abzuwarten. Dennoch herrscht, wie bereits erwähnt, in der türkischislamischen Community die große Befürchtung, dass es sich bei diesen Vorfällen um Anschläge mit rechtsextremem Hintergrund handeln könnte. Um diese Sorgen zum Ausdruck zu bringen hat unser Gemeindevorsitzende, Ahmet Başkent, am 27.04.2020 Kontakt mit der Waldkraiburger Polizeiinspektion aufgenommen.

DITIB

Eigentlich gab es in Waldkraiburg, wo relativ viele Türken leben, in den letzten Jahrzehnten keine nennenswerten Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Türken. Nur einmal gab es einen längeren Konflikt: In den Jahren 2017/18 wollte die Moscheegemeinde eigentlich in ein größeres Objekt im Gewerbegebiet umziehen, dies führte zu heftigeren Diskussionen. So stellte die AfD das Finanzgebaren des Moscheevereins in Frage. In einem offenen Brief von Oliver Multusch, Vorsitzender des AfD-Ortsvereins Mühldorf hieß es 2017.

Es sind vor allem Fragen nach der Finanzierung für den Kauf, Umbau und Unterhalt die viele Menschen beschäftigen. Angesichts der Tatsache dass ihr Verein dem Dachverband DITIB angehört, welche über DYANET direkt dem Einfluss der türkischen Regierung unterliegt stellt sich die Frage, ob der türkische Staat hier irgendeiner Form in die Finanzierung eingebunden ist? Sie beziffern die Gesamtkosten für das Projekt auf 1,6 Millionen Euro, eine gewaltige Summe für einen Verein mit 335 Mitgliedern mit Frauen und Kindern.

AfD

Zwar wies der Moscheeverein die Kritik zurück, dennoch kam der Umzug - trotz angekündigter Baugenehmigung - schließlich nicht zustande.

Angesichts der jüngsten Anschlagserie hatte sich sogar der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu (AKP) bei den Opfern telefonisch gemeldet. Nach der Festnahme des Täters erklärte die Moscheegemeinde:

Wir sind unendlich froh und erleichtert darüber, dass der Spuk ein Ende hat und die Tat dank dem professionellen Einsatz der Ermittler*innen aufgeklärt werden konnte. Auch gilt ein besonderer Dank an unseren Bürgermeister Herrn Pötzsch, Polizeipräsidenten Robert Kopp, Staatsanwalt Georg Freutsmiedl, Polizeihauptkommissar Georg Deibl sowie dem Türkischen Generalkonsul Mehmet Günay für den offenen Austausch und die klare Haltung zur lückenlosen Aufklärung der Taten. Auch danken wir weiteren Vertreter*innen der Politik und Zivilgesellschaft für die gezeigte Solidarität. (…)

Dass Menschenleben verschont wurden, ist unser größter Trost. Menschen aus vielen verschiedenen Nationen und Religionen leben hier seit jeher gemeinsam in Frieden. Wir werden nicht zulassen, dass dies zerstört wird. Auch wenn noch viele Fragen geklärt werden müssen, hoffen wir doch, dass vorerst etwas Ruhe einkehrt in unsere Stadt und wir uns gemeinsam von diesen schrecklichen Vorfällen erholen können.

DITIB Waldkraiburg