Türkischer Krieg in Rojava in Coronazeiten

Bild: ANF

Die Berliner Regierung sollte ihre Syrienpolitik revidieren

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Der Krieg der türkischen Regierung gegen die Selbstverwaltung in Nordsyrien hält trotz Corona-Krise unvermindert an. In den letzten Wochen gab es mehrere Drohnen-Angriffe des türkischen Militärs und Angriffe durch die sogenannte Nationale Syrische Armee (NSA, auch verschiedentlich SNA genannt). Die NSA wird von der Türkei finanziert und ausgerüstet. Verschiedene islamistische Milizen wurden unter dieses Dach geholt, darunter auch ehemalige IS-Terroristen.

Während sich die Welt dem Kampf gegen die Corona-Pandemie verschrieben hat, hat die Türkei trotz eigener Wirtschafts- und Coronakrise nichts Besseres zu tun, als die Region täglich anzugreifen.

Am 28. April gab es eine Explosion im türkisch besetzten Afrin, bei der mindestens 46 Personen getötet und über 50 Personen verletzt wurden. Wenige Minuten nach dem Attentat machte die türkische Regierung die kurdischen Einheiten der Selbstverwaltung (YPG) dafür verantwortlich.

Die Selbstverwaltung dementierte und verwies auf Konflikte zwischen den verschiedenen dschihadistischen Gruppen in der türkischen Besatzungszone.

Das Auswärtige Amt verurteilte die Angriffe, vermied aber aus außenpolitischem Kalkül, die Türkei als Mit-Verursacherin "von Krieg, Vertreibung, staatlicher Verfolgung und Terror" im Syrienkonflikt zu erwähnen. Zeitgleich zum verheerenden Anschlag in Afrin griffen türkische Kampfdrohnen einen Kontrollpunkt der Sicherheitskräfte in Kobane an.

Protürkische Islamisten außer Kontrolle

Wie es scheint, ist die von ihr selbst gegründete NSA keine verlässliche Proxyarmee für die Türkei mehr. Die darin zusammengewürfelten Milizen nehmen zwar den Sold der türkischen Regierung entgegen, verfolgen dann allerdings in den türkisch besetzten Gebieten ihre jeweils eigenen Interessen.

Diese Interessen bestehen zum einen darin, sich und ihre Familien in den besetzten Gebieten anzusiedeln. Dazu wird die einheimische Bevölkerung unterschiedlichen Formen von Schikanen und Terror, wie der Einführung von Scharia-Vorschriften, von Entführungen und Lösegelderpressungen, von Vergewaltigungen usw. unterworfen, die alle den Zweck haben, sie zu vertreiben.

Des Weiteren will sich jede Miliz möglichst viel vom Kuchen des geplünderten Hab und Guts der einheimischen Bevölkerung aneignen und ist auch bereit, den anderen Milizen Kuchenstücke abzujagen.

In den letzten zwei Wochen wurden die internen Differenzen zwischen der türkischen Armee und NSA-Milizen in Idlib, Afrin, Dscharablus, al-Bab, Azaz, Tall Abyad (kurdisch: Gire Spi) und Ras al-Ain (kurdisch: Serekaniye) deutlich. Insbesondere die Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) schert sich wenig um die Vorgaben aus Ankara. Ein kleiner zeitlicher Ausschnitt der letzten Wochen soll die Auswirkungen der Differenzen zwischen der Türkei und ihrer assoziierten Dschihadisten-Milizen zeigen:

Am 13. April verhindert beispielsweise die Dschihadisten-Miliz HTS eine gemeinsame türkisch-russische Patrouille auf der Autobahn M4 zwischen Aleppo und Latakia. Die Türkei entsendet Polizeieinheiten nach Idlib, die HTS positioniert eigene bewaffnete Einheiten dagegen. Ein Anführer der protürkischen, islamistischen Miliz Faylaq al-Sham wird von der HTS bei Idlib verhaftet.

Zur gleichen Zeit wird eine Führungsperson der HTS von Idlib bei einem Autobombenanschlag in Kefer Taharim getötet. Obwohl die HTS international als Terrororganisation eingestuft wurde, ist das Verhältnis zwischen der HTS und der Türkei unklar. Eigentlich war es Teil der Vereinbarungen zwischen Russland und der Türkei, diese radikal islamistische Miliz unter Kontrolle zu bekommen. Dies ist bis heute nicht gelungen.

Die Situation ist heute eher umgekehrt : "Jede Miliz in Idlib ist abhängig von HTS - seien es solche, die mit ihrem Treue-Eid noch mit al-Qaida verbunden sind wie etwa Hurras ad-Din, oder solche, die als salafistisch eingeordnet werden und auch von Russland unter 'gemäßigt' rubriziert wurden wie Ahrar al-Scham, die von der Türkei unterstützt wird."

Seitdem es auf Drängen Moskaus türkisch-russische Patrouillen entlang der Schnellstraße M4 gibt, kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen HTS und türkischem Militär. Die Türkei entsandte daraufhin eigene Polizeieinheiten nach Idlib, woraufhin HTS bewaffnete Einheiten gegen die türkischen Polizisten in Stellung brachte.

Der türkische Präsident Tayyip Erdogan bezeichnet die außer Kontrolle geratene Miliz HTS mittlerweile als Başı Bozuk, eine Bezeichnung für irreguläre Truppen des Osmanischen Reiches, die sich damals aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammensetzten. Wörtlich übersetzt heißt das "kaputter Kopf".

Am 16. April wurden bei einem türkischen Drohnenangriff auf Milizionäre einer nicht näher benannten islamistischen Miliz im Süden von Idlib drei Dschihadisten getötet.

Am 19. April stirbt ein hochrangiger HTS-Kommandant durch eine Bombe an seinem Fahrzeug. Die Urheber sollen aus konkurrierenden Dschihadisten-Milizen stammen.

Am 20. April kommt es im türkisch besetzten Afrin zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Milizen Jabhat al-Shamiya und der mit der Türkei verbundenen Sultan-Murad-Brigade. Zeitgleich kommt es im Nordosten in der türkisch besetzten Stadt Ras al-Ain/Serekaniye zu Gefechten zwischen den Milizen Katiba Mutassim und der vom türkischen Staat eingerichteten "Militärpolizei".

In einigen Wohnvierteln gab es Gefechte zwischen den protürkischen Milizen Ahrar al-Sharqiya und der Hamza-Brigade. Vermutlich ging es um Verteilungskämpfe wegen Häusern und Ländereien der vertriebenen kurdischen Bevölkerung.

Am 26. April werden zwei HTS-Mitglieder bei der Blockade einer türkisch-russischen Patrouille auf der M4 in Idlib von Soldaten der türkischen Armee erschossen. Die HTS greift einen türkischen Militärposten in der Nähe von Idlib, bei Nairab an. Drei türkische Soldaten sterben, ein Panzer wird zerstört.

Am 27. April brechen aus einem türkisch kontrollierten Gefängnis in al-Bab neun IS-Mitglieder aus. Bei Rivalitäten zwischen verschiedenen dschihadistischen Gruppen in al-Bab kommt es in der Stadt zu einer großen Explosion.

Am 28. April verhindert die HTS an einem Kontrollpunkt in Idlib die Durchfahrt einer türkischen Militärkolonne. Am selben Tag kommt es in Sergirak bei Ain Issa im Nordosten Syriens zu Gefechten zwischen protürkischen Milizionären.

Ursprünglich hatten die Türkei und Russland am 5. März einen Waffenstillstand für Idlib und gemeinsame Patrouillen um die Schnellstraße M4 vereinbart. Teil der Vereinbarung war auch, dass die Türkei gegen ihren Verbündeten HTS vorgeht.

Mittlerweile ist ein Monat vergangen, ohne dass die Türkei ihre Teile der Vereinbarung umgesetzt hat. Stattdessen baute sie ihre Beobachtungsposten in der Region Idlib von 12 auf 57 aus.