Das Kommunikationsdilemma der Reproduktionszahl R

Eine Analyse des Verlaufs der SARS-CoV-2-Infektionsrate P in Deutschland

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Das Virus SARS-CoV-2 hält uns seit dem 27sten Januar in Atem - seit nun über 112 Tagen. Erst hieß es Nies- und Hustenetikette beachten und Hände mit Seife waschen. Nur Hände waschen? Warum empfahl uns niemand, anschließend das Gesicht zu waschen, da doch das Virus vornehmlich durch Tröpfchen und wie man inzwischen weiß, durch Aerosole übertragen wird, womöglich auch durch Schmierinfektion.

Und dann lernten wird das einprägsame Wort "Herdenimmunität". Dann folgte eine unsägliche Diskussion über die Schädlichkeit oder den Nutzen von Masken, wir nennen das jetzt Mund-Nase-Schutz. Wir verfolgten dann die Infektionszahlen. Jetzt seien wir im "exponentiellen Anstieg", ja was heißt das denn? Jetzt verdoppele sich die Infektionszahl jede Woche; als diese sich dann nach drei Tagen schon verdoppelt hatte, konnte man denken: Da wurde wohl der Exponent falsch eingeschätzt.

Dann wurden wir am 18. März von Herrn Wieler gewarnt, dass wir in ein, zwei Monaten 10 Millionen Infizierte haben könnten, wenn sich das Infektionsgeschehen so fortsetze (anhand der Extrapolation der bis zum 18.03. vorliegenden Daten, hätte man auch den 9. April oder den 25. April angeben können, je nach Extrapolation der Infektionszahlen mittels Exponential- oder Potenzfunktion). Alarm! Die Politik handelte dann schnell: Am 20.03. in Bayern, ab 23.03. bundesweit. Man nannte das "Shutdown" oder "Lockdown". Das notwendige "Abflachen der Kurve" wurde erreicht! Wir lernten Abstand halten und schließlich auch das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes.

Verwirrung um Reproduktionszahl R

Dann fanden epidemiologische Maßzahlen Eingang in die öffentliche Kommunikation: Verdopplungszeit und später die Reproduktionszahl R, wurden gar zu Kriterien für politische Entscheidungen erhoben. Und man erklärte uns diese Maßzahlen, die neben den Infektionszahlen, der Gesamtzahl und den täglichen Neuinfektionen, in unserem Kopfe waren. Man erklärte auch, dass die Verdopplungszeit irgendwann nicht mehr so wesentlich sei, wegen "des Abflachens der Kurve".

Geblieben - und nach wie vor vorhanden - ist die Reproduktionszahl R: Diese müsse möglichst auf Eins und besser auf kleiner Eins abnehmen. Richtig! Doch dann waren wir erstaunt, dass R bereits seit dem 23. März im Bereich R ≤ 1 pendelte. Der ein oder andere meinte, irrtümlich daraus schließen zu können, dass die uns einschränkenden Maßnahmen also gar nichts gebracht hätte. Erklärungsversuche diverser Art folgten.

Nun, dieser Tage, war R wieder etwas größer als Eins, und wir waren davor doch schon bei R = 0,65; eine Pressekonferenz extra. Zwei Tage später wird wieder R < 1 verkündet. Und nun, nachdem der Berliner Senat die Reproduktionszahl R als eines von drei Kriterien in sein "Ampel-Modell" aufgenommen hat, unterscheidet man am RKI zwischen einer sensitiven und einer 7-Tage-Reproduktionszahl.

Was schließt der Bürger, wenn ihm solches kommuniziert wird? Jetzt will er es verstehen, der Bürger, oder er wendet sich ab! Der Autor jedenfalls wollte es verstehen. Nein, er ist kein besserwissender Hobby-Epidemiologe, schon gar kein Virologe, davon versteht er nichts. Das überlässt er den Fachwissenschaften. Aber da sind Zahlen, Infektionszahlen in Abhängigkeit von der Zeit. Damit kann eigentlich jeder Abiturient umgehen.

Wir schicken voraus: Die Entwicklung von Modellen und deren stetige Verbesserung zur Beschreibung einer Epidemie, auch zur Berechnung einer Reproduktionszahl R ist notwendig, sinnvoll und legitim. Das gehört zur Arbeit von Epidemiologen. Aber beim gegenwärtigen Wissensstand ist eine Reproduktionszahl R, so wie sie bisher angegeben wurde, völlig ungeeignet für eine öffentliche Kommunikation. Sie stiftet mehr Verwirrung, als sie aufklärt und kann keine Basis für politische Entscheidungen sein (war sie ja im Übrigen auch nicht), eine solche Zahl eignet sich also auch keinesfalls für ein "Berliner Ampelmodell".

Was tun? Werden wir tätig und analysieren die zeitliche Entwicklung der SARS-CoV-2-Infektionszahl. Als Datenquelle verwenden wir die Angaben der Berliner Morgenpost, diese Quelle erlaubt, die Zahlen auch im Rückblick zu verfolgen. Die Daten wurden mit Angaben des Berliner Tagesspiegel sowie mit dem Dashboard der John-Hopkins-Universität abgeglichen. In den letzten Wochen sind Angaben der Infektionszahlen aus diesen drei Quellen (wenigstens) frühmorgens identisch; bei Abweichungen verwenden wir die größte Zahl.