Corona-Krise: Anschub für eine kybernetische Wende

Optimierung stellt das ideale Einfallstor für Kontroll-, Sicherheits- und Überwachungstechnologien dar

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Menschen stehen maskiert in langen Schlangen mit großen Abständen zur Vorderfrau an, um an einer Schleuse vor dem Einkaufszentrum bereitwillig die Unterarme wie zum Gebet zu öffnen, damit ihnen eine zur Unkenntlichkeit vermummte Person ein Desinfektionsmittel auf die Handflächen sprüht. Noch vor einem halben Jahr wäre man nach einer solchen Filmszene auf ein anderes Fernsehprogramm gesprungen, eine dermaßen unrealistische Darstellung hätte auch als Science Fiction niemand sehen wollen. Nun läuft die Szene jeden Einkaufssamstag in der Wiener Favoritenstraße ab; und die KundInnen scheinen es, ihrer Körperhaltung nach - dem Gesichtsausdruck kann man ja nichts entnehmen - bereits als Selbstverständlichkeit zu nehmen.

In Windeseile haben sich neue Kulturtechniken verbreitet. Hände schütteln ist zur ostentativen Oppositionshaltung geworden, Türklinken werden mit dem Ellbogen geöffnet, instinktiv weicht das Gegenüber zurück, wenn man selbst einen Schritt nach vorne macht, der Vorübergehende wendet den Blick ab oder wechselt den Gehweg. Die Maske im öffentlichen Raum ist zum Symbol einer Angst-durchtriebenen Gesellschaft geworden.

Der Mensch ist des Menschen Feind, so lautet die Botschaft der Virologen, deren Blick berufsbedingt eingeengt ist. Politiker bringen sie per Verordnungen ins Feld. Sie führen, wie vielfach betont, Krieg. Doch es ist nicht die Art von Krieg, die wir kennen, in denen Menschen als Kollektive feindlich gegenübergestellt werden. Diesmal steht Mann gegen Mann, Frau gegen Frau, Einkäufer gegen Verkäufer, Alt gegen Jung, gesund gegen krank. In jedem steckt der potenzielle Feind. Die Situation ist dystopisch.

Auch wenn wir die täglich medial vermittelten Fallzahlen und Seuchenverlaufskurven schon nicht mehr sehen können, müssen an dieser Stelle drei einfache Daten gegenübergestellt werden, um unsere Kritikfähigkeit zu schärfen: Einwohnerzahl, durchschnittliche Sterberate und Corona-Tote. Von den 83 Millionen Deutschen sterben pro Jahr durchschnittlich 900.000, während als Corona-Tote bis zum Stichtag 18. Mai 8027 gezählt wurden. Die Lage in Österreich ähnlich. Von 8,9 Millionen EinwohnerInnen sterben jährlich zwischen 80.000 und 82.000, bis Mitte Mai sind mit oder an Corona 628 Menschen verstorben. Würden diese Relationen medial und politisch kommuniziert, ließe sich keine Angst herstellen. Doch Angst ist nicht nur notwendig, um neue Verhaltensformen einzulernen, sondern vor allem auch, um eine gesellschaftliche Akzeptanz in Richtung einer kybernetischen Wende zu erreichen.

Großer Zyklenwechsel: ein kybernetisches Zeitalter

Die fast weltweit gesetzten Maßnahmen gegen die Verbreitung von Covid-19 beschleunigen einen Prozess, der schon seit Jahrzehnten im Gange ist. Es geht um nicht weniger als um die Wende vom Industriezeitalter in ein kybernetisches Zeitalter. In ihm sind Technologien vorherrschend, die maximale Anpassungsfähigkeit, Selbststeuerung, Kontrollierbarkeit, Miniaturisierung sowie individuellen und situativen Ressourcen- und Energieeinsatz gewährleisten.

Die Unkalkulierbarkeit des Faktors Mensch, der seine physische Verletzlichkeit gegenüber dem Virus gerade offenbart, wird durch den Ausbau von Künstlicher Intelligenz kompensiert. Die russische Risikoforschergruppe um Leonid und Anton Grinin sowie Andrej Korotajev arbeiten bereits seit längerem an Prognosemethoden, um auf der Basis historischer Veränderungen Schlussfolgerungen für Zukunftsszenarien zu entwickeln.1 Eine solche historische Veränderung bahnt sich gerade ihren Weg.

Grinin und Korotajev sprechen vom MBNRIC-Komplex (Medizin, Bio, Nano, Robo, Info, Cognitiv), der nicht nur neue Produkte (z.B. künstliche Körperteile, Pharmazeutika, Impfstoffe, Steuerungs- und Überwachungsgeräte) hervorbringen wird, sondern auch eine neue Nachfrage nach Optimierung (Gesundheit, Fitness, Schönheitsästhetik, genetische Modellierung) und personalisierter, maßgeschneideter Lebensbegleitung. Der Optimierungsgedanke stellt das ideale Einfallstor für Kontroll-, Sicherheits- und Überwachungstechnologien dar. Die Corona-Krise bietet dafür unter dem Deckmantel der medizinischen Notwendigkeit einen hervorragenden Einstieg. Das Testset und die Tracking-App stehen stellvertretend für ein durch die Angst vor dem Virus erzeugtes Bedürfnis.

Norbert Elias und Michel Foucault haben aufgezeigt, dass die Akzeptanz von Sozialdisziplinierung und Überwachungsgesellschaft nicht unbedingt eines staatlichen Zwangs bedarf, sondern sich mit dem Zivilisationsversprechen in die Körper und Psyche der einzelnen Menschen einschleichen kann. Als massenpsychologisches Phänomen haben Theodor Adorno und Max Horkheimer die Anpassungsbereitschaft der Menschen an autoritäre Vorgaben am Beispiel des Faschismus erforscht.

Auf diesen Grundlagen erhalten die in den vergangenen Monaten gesetzten Verordnungen und mehr noch das, was an Post-Corona-Kulturtechniken als "neue Normalität" auch nach der Testphase beibehalten wird, ihren Sinn. Sie trainieren den Menschen, damit er im Umgang mit den selbstregulierenden und optimierenden kybernetischen Systemen der Zukunft seine Rolle bestmöglich erfüllen kann. Durch Corona hat sich die Gelegenheit ergeben, diesen Übergang zu beschleunigen, das Virus-Management nimmt die Zukunft vorweg.

Historischer Rückblick

Zyklisch auftretende Krisen haben in der Geschichte stets neue Leitsektoren hervorgebracht. Die dezentrale Produktion des textilen Verlagssystems machte mit der Erfindung der Spinnmaschine um 1780 dem Fabriksystem Platz. Aus der Depression des Vormärz 1848 führte die Eisenbahn ab den 1860er Jahren in den Aufschwung der "ersten Gründerzeit". Nach dem Börsenkrach 1873 war es die Elektro-, Nahrungsmittel- und chemische Industrie, die das nächste Konjunkturhoch einleitete.

Die beiden Weltkriege brachten mit der Rüstungsindustrie einen militärisch-industriellen Komplex hervor. Im Wiederaufbau der 1950er Jahre wurden das Automobil und die Haushaltstechnik zu neuen Leitsektoren. Nach dem Boom begann ab den 1970er Jahren die Suche nach kostensparenden Innovationen: Organisatorisch verhalf die Verlagerung der Produktionsstätten in den globalen Süden der industriellen Massenproduktion zu einer neuen Blüte; technologisch revolutionierte die IT-Branche die Abläufe in der Produktion sowie in dem immer wichtiger werdenden Dienstleistungssektor.

Auf dem Weg aus der globalen Wirtschaftskrise 2007/08 zeichnen sich Robotik und Künstliche Intelligenz als Instrumente zur Krisenüberwindung ab. Eine umfassende Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche und die Einführung selbst-regulierender Systeme erfordern auf der einen Seite immer weniger menschliches Zutun und machen auf der anderen Seite den Menschen in seiner biologischen Existenz und in seinem Verhalten selbst zum Gegenstand einer Kommodifizierung.

Die oben skizzierten Konjunkturzyklen, die auch als "lange Wellen der Konjunktur" nach ihrem Erfinder Kondratieff genannt werden, sind auf höherer Ebene in zwei weitere zyklische Veränderungen eingebettet. Beim Hegemonialzyklus erleben wir den Niedergang der USA und den Aufstieg von Ländern des globalen Südens, die sich aus der Rolle als verlängerte Werkbank befreien können. Mit China entsteht ein Anwärter auf hegemoniale Nachfolge. Die zweite Veränderung betrifft die Ablöse des industriellen durch das kybernetische Prinzip der Produktion, die viel langfristigere Prozesse des Wandels in der Evolutionsgeschichte des Menschen betrifft.

Seit dem Jäger- und Sammlerinnen-Dasein sah die Menschheit zwei große Revolutionen: die neolithische Revolution, die mit der Sesshaftwerdung Landwirtschaft und Handwerk hervorbrachte, und die industrielle Revolution, die mit arbeitsorganisatorischer Spezialisierung und Mechanisierung dem Fabrikprinzip zum Durchbruch verhalf. Mit der Computerisierung kündigte sich bereits in den 1950er Jahren das kybernetische Prinzip an, das einen neuen Aggregatzustand des Menschseins darstellt.

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