"Corona-Schule": Wie folgenreich sind die Versäumnisse?

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Eltern werden nervös bis hysterisch. Der Bildungsökonom Ludger Wößmann warnt, dass langfristige Schulschließungen zu "dauerhaftem Verlust von Einkommen" führen

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Wer sich die letzten Wochen zunächst mit leichter, dann, als die Schließung der Schulen immer weiter verlängert wurde, mit steigernder Beunruhigung gefragt hat, ob die Schüler im Corona-Unterricht auch genügend lernen, bekommt jetzt eine trockene Antwort von Prof. Dr. Ludger Wößmann: Ihnen drohen spätere Einkommensverluste - etwa in Höhe von 3 bis 4 Prozent.

Da wir erwachsenen Mediennutzer in den vergangenen Corona-Wochen viel Statistik gelernt haben, wissen wir spätestens jetzt, dass hinter einem Durchschnittswert größere Abweichungen stecken. Auch dafür hat der Ausblick "zu den Folgekosten ausbleibenden Lernens" des Bildungsökonomen Ludger Wößmann präzise Zahlen:1

In Lebenseinkommen ausgedrückt entsprechen die Einkommensverluste bei Personen ohne berufsqualifizierenden Abschluss im Durchschnitt gut 13 500 Euro, bei Personen mit einer Lehre gut 18 000 Euro und bei Personen mit einem Universitätsabschluss rund 30 000 Euro.

Ludger Wößmann

Das sind verblüffend genaue Zahlen für eine Zukunft, von der jetzt dauernd gesagt wird, dass sie viel weniger voraussehbar ist, als es die Zukunft noch vor ein paar Wochen war. Wößmanns Ausführungen darüber, "was wir über die Corona-bedingten Schulschließungen aus der Forschung lernen können", nehmen eine symptomatische Stellung ein - zwischen Erfahrungswerten und einer Zukunft, die man seit der Coronakrise nicht mehr als bloße Extrapolation der Gegenwart sehen kann.

Wößmanns Berechnungs-Grundlagen sind gut begründet, sie stützen sich auf empirische Forschung und auf ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein ihrer Erkenntnisse:

"In der empirischen Wirtschaftsforschung gibt es kaum robustere Befunde als den positiven Einfluss von Schulbesuch und Kompetenzerwerb auf wirtschaftlichen Wohlstand."

Die unbekannte Größe

Demgegenüber stehen Entwicklungen, die mit "unbekannte Zukunft" überschrieben werden können.

Weitere Disruptionen wie in den letzten Wochen sind nicht ausgeschlossen. Effekte des Klimawandels wären ein Stichwort. Auch die Frage, ob die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Vollbremsung, in eine längere Depressionsdynamik führen, gehört zu einem Feld, für das die Empirie nur bedingt Voraussagen treffen kann.

Die Corona-Krise hat die Frage, wie der künftige Arbeitsmarkt aussieht, mit neuen Bewertungen versehen: Soziale Arbeit wurde "systemrelevant". Wie z.B. in der Pflege, generell in der Betreuung, im Krankenhaus, in der Kindererziehung. Jobs, die zuvor übersehen wurden, haben eine öffentliche Aufwertung erfahren.

Ob dies von Dauer sein wird, wenn der "Normalbetrieb" wieder dominiert, ist allerdings ungewiss. Nichtsdestotrotz zeigt sich, dass auch der Arbeitsmarkt wie die Wirtschaft auch mit Bewertungen und Anforderungen zu tun haben, die sich ändern können - und dies manchmal sehr schnell.

Bekannte Zusammenhänge

Ludger Wößmann begründet seine Warnung vor den Folgeerscheinungen der Coronakrise mit Forschungsergebnissen, die den bekannten Zusammenhang zwischen Bildung und Einkommen im späteren Erwerbsleben auf Zahlen bringen. Seiner Schätzung der eingangs genannten späteren Einkommensverluste liegt Unterrichtsausfall zugrunde, der etwa einem Drittel eines Schuljahres an verlorenem Lernen entspricht.

Das ist zum Beispiel für Bayerns Schüler eine realistische Einschätzung. Wie er nachrechnet, sieht es beim Stand 9. Mai so aus, dass für rund die Hälfte der bayerischen Schülerinnen und Schüler bis zu den Sommerferien ungefähr zwölf Wochen Schule ausgefallen sein werden. Das entspreche "32% der insgesamt 38 üblichen Wochen des Schuljahres (ohne die insgesamt 14 Ferienwochen gerechnet)".

Das bringt er mit Studien in Verbindung, die "Standardabweichungen an Kompetenzen" mit Erwerbseinkommen zusammenschließen. Ein Beispiel: "Für Deutschland ergeben etwa Schätzungen anhand der PIAAC-Daten, dass die Erwerbseinkommen pro zusätzlichem Bildungsjahr um 9,5% steigen". Die Abkürzung PIAAC steht für "Programme for the International Assessment of Adult Competencies" und wird, wie Wößmann schreibt als "Erwachsenen-PISA" bezeichnet.

Der Bildungsökonom erwähnt mehrere Fallstudien: den mehrmonatigen Streik der Lehrkräfte im wallonischen Teil Belgiens 1990, die Erfahrungen der deutschen Kurzschuljahre aus den 1960er Jahren wie auch Untersuchungen der Kompetenzentwicklung während langer Sommerferien, zum Beispiel in den USA. Der Ergebnisse der Studien belegen seine These, dass ein längerer Unterrichtsausfall zu Kompetenzeinbußen führt - deren Auswirkungen langfristig sein können:

Anhand der deutschen PIAAC-Daten zeigt sich, dass die von den beiden Kurzschuljahren betroffenen Schüler*innen in der Tat insgesamt ein dreiviertel Jahr weniger Unterricht erhalten haben (…). Dieser Verlust lässt sich auch langfristig noch in den Kompetenzen der betroffenen Schüler*innen ablesen: Noch im Alter von Anfang 50 bis Ende 60 fallen die mathematischen Kompetenzen aufgrund der beiden Kurzschuljahre um rund ein Viertel einer Standardabweichung niedriger aus (…).

Ludger Wößmann

Eltern drehen am Rad

Das dürfte Wasser auf den Mühlen der Eltern sein, die sich große Sorgen über die Versäumnisse gemacht haben. Lehrerinnen, die täglich Dutzende Anrufe von besorgten bis hysterischen Eltern entgegennahmen ("Wäre es nicht besser, mehr Stoff in die täglichen Online-Unterricht zu packen?"), berichteten von großem Stress.

Das taten auch Eltern, die zunächst ganz ruhig geblieben waren, aber dann aufgrund der Äußerungen anderer Eltern verunsichert wurden und mit sich haderten, ob sie denn ihren Kindern genug Heimlehrer sind ("Was die Schule macht, reicht nicht") - ob man die Kinder nicht zu viel spielen lasse...

Zeit dafür gab es in den letzten Wochen mehr: Eine Befragung der letzten beiden Gymnasialklassen in acht Bundesländern während der Schulschließungen hat laut Wößmann ergeben, "dass 37% der Oberstufenschüler*in-nen täglich weniger als zwei Stunden mit schulbezogenen Tätigkeiten verbringen (…). Nur 27% machen mindestens vier Stunden lang etwas für die Schule - was auch noch nicht unbedingt einem üblichen Schultag plus Hausaufgaben entspricht".

Viele Eltern waren verunsichert, immerhin gab es aber zuvor die vielen Diskussionen über Schulstress. Warum also nicht einen Gang zurückschalten und den Kindern mehr Raum für deren eigene Interessen geben?

Für den Bildungsökonomen Wößmann liegt der Fall klar: Es steht sehr viel auf dem Spiel. Die Bildungspolitik müsse alles daransetzen, "dass alle Kinder und Jugendlichen - mit oder ohne Präsenz in der Schule - umgehend wieder lernen".

Es sieht nicht unbedingt danach aus, dass im nächsten Schuljahr wieder alles beim Alten ist wie vor Corona. Der Mix aus Präsenz-Unterricht und Zuhauselernen wird mit einiger Wahrscheinlichkeit fortgesetzt - mit dem Ergebnis, so Wößmann, dass es, wenn sich nichts an der derzeitigen Praxis ändere, bei einer großen Belastung für die Chancengleichheit in der Bildung bleibt - und sich die Ungleichheit in unserer Gesellschaft weiter vergrößert.