Die Linke gegen den "falschen" Protest

Der Linke Andrej Hunko (MdB) auf der Kundgebung "Die Gedanken sind frei" am 16. Mai in Aachen. Bild: Kritische Aachener Zeitung/CC BY-2.0

Der Lockdown einer linken Theorie und Praxis

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Dieser Beitrag setzt die Reise entlang der Schlaglöcher und Schlagworte in Corona-Zeiten fort und schaut sich etwas genauer im Spektrum der Linken um: Fehlende inhaltliche Auseinandersetzung. Es ist sicherlich nicht ungerecht, wenn man festhält, dass die Linke im Lockdown nicht existierte.

Das hat ganz naheliegende Gründe: Die parlamentarische Linke, also die Partei Die Linke hat sich bei den Maßnahmen zum Ausnahmezustand lediglich enthalten. Diese legalisieren nicht nur die Selbstentmachtung des Parlamentes, sondern auch wesentliche Grundrechtseinschränkungen: "Mit dem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite wurde §28 IfSG neu gefasst. Damit wurde außer den Grundrechten der Freiheit der Person (Art.2 Abs.2 Satz 2 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) auch das Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) eingeschränkt.

Warum sie bis heute nicht ihre Entscheidung überprüft und sich einer notwendigen offenen Diskussion stellt, muss diese Partei erklären. In der Wahrnehmung als Nichtwähler taucht sie bis heute ab. Auch zu den Protesten gegen die Grundrechtseinschränkungen nahm sie nicht Stellung, was bedeutet hätte, sich in diese Proteste einzumischen oder eigene Proteste zu organisieren, die der Kritik an den "falschen" Protesten eine bessere Praxis entgegengesetzt hätte.

Damit wäre sie jedoch geradenwegs in ein Dilemma gelaufen: Wie kann sie ehrlich und glaubwürdig gegen ihre eigene Entscheidung protestieren? Das ginge nur dann, wenn es die Bereitschaft gäbe, die eigenen Entscheidungen zu reflektieren.

Der Fall Hunko

Das Gegenteil bahnt sich bedauerlicherweise an: Der Fraktionsvize der Linken Andrej Hunko hat die Regierungslinie nicht abgenickt, sondern in Zweifel gezogen. Er hat die Validität der Datenlage in Frage gestellt, er befragt die Maßnahmen nach ihrem Nutzen: "Haben einige der Maßnahmen, insbesondere die grundrechtsbezogenen Maßnahmen, nicht zu einem größeren Schaden geführt, als ihr Nutzen war?"

All dies hat er auf einer Kundgebung in Aachen gesagt und sich damit sichtbar gegen jede Form der autoritären Antwort auf die Krise positioniert. Das muss erst einmal auch der Berliner Tagesspiegel einräumen:

"Die Demonstration am Samstag in Aachen hatte der linke Aktivist Walter Schumacher angemeldet. Laut Stolberger Nachrichten verwiesen Hunko und Veranstaltungsleiter Schumacher auf ein Zitat von Edward Snowden, der die Situation so beschreibe: 'Das Virus ist schädlich, aber die Zerstörung der Rechte ist tödlich'.“

Gibt es eine bessere Form, gegen eine rechte Übernahme der Ängste zu kämpfen? Wenn ja, dann hätte auch dies im verwaisten öffentlichen Raum genug Platz – außerhalb des Homeoffice. Stattdessen verausgabt sich die Linke in Distanzierungen und Diffamierungen.

Der "Fall Hunko" zeigt noch etwas anders: Unter der Corona-Wolke wird wie in jeder Krise noch ganz anders verhandelt. Andrej Hunko ist einem Teil der Linken ein Dorn im Auge, wenn es darum geht, "Regierungsfähigkeit" unter Beweis zu stellen. Und er ist der gesamten rechten Mitte ein Dorn im Auge und das wird unverhohlen mitverhandelt. Im besagten Bericht des Berliner Tagesspiegel wird aufgeführt, was mit dem "Fall Hunko" ebenso aus dem Weg geräumt werden soll:

"Immer wieder hatte Hunko zuvor innerparteiliche Debatten ausgelöst, etwa mit seinem Moskau-freundlichen Kurs in der Ukraine-Politik und umstrittener Venezuela-Solidarität. Anfang März war Hunko beteiligt an der umstrittenen Strafanzeige von acht Linken-Bundestagsabgeordneten gegen Kanzlerin Angela Merkel, die angeblich mitverantwortlich für die 'Ermordung' des iranischen Generals Qassem Soleimani sein soll, weil der 'völkerrechtswidrige Drohnenangriff' über den US-Luftwaffenstützpunkt in Rheinland-Pfalz gesteuert worden sei."

Dann wäre da noch die außerparlamentarische Linke, die bestenfalls eint, dass sie keine Parteipolitik betreibt. Diese Negativbestimmung ist bereits das Äußerste. Denn aus der Binnensicht heraus ist diese außerparlamentarische Linke zersplittert, heterogen - und ohne einen gemeinsamen Grundkonsens, der eine kollektive Debatte voraussetzt, die es nicht gibt. Da gibt es antifaschistische, antirassistische, feministische, quere Gruppierungen. Das reicht von "Bunt gegen Rechts", NSU watch über die Interventionistische Linke bis hin zum linken Künstler*nnen-Kollektiv "Staub zu Glitzer" (Berlin).

Und es gibt zwei linke Bündnisse, das eine läuft unter "Unteilbar", das andere unter "Aufstehen" … und über alle Differenzen hinweg eint sie das Schweigen, die Abwesenheit in diesen Corona-Zeiten.

Wenn also der Eindruck nicht trügt, dann ist die Linke in der Corona-Krise im Lockdown, was sich vielleicht damit erklären lässt, dass man die Merkel-Linie aushält (oder gar nicht so unvernünftig hält), wenn man als Alternative die Trump-Linie dagegenhält.

"Rechter" Protest für das Grundgesetz?

Während die Linke auf verschiedenste Weise das Corona-Motto "Bleib zuhause" praktiziert, hat sich auf der Straße etwas gesammelt, das es zuhause nicht mehr ausgehalten hat.

Zu diesen Protesten, die in den letzten beiden Wochen immer größer wurden, bleibt die Linke auf Distanz. Die freundlichste Variante davon ist, dass diese Gruppen zu eigenen Aktionen aufrufen, die vor allem die sozialen Folgen des Lockdown thematisieren: Obdachlose, die eben nicht - wie gewünscht - zuhause bleiben können. Flüchtlinge, die in den EU-Lagern dem Corona-Virus schutzlos ausgeliefert sind. Man fordert folglich die Öffnung von Hotels für Obdachlosen und die Auflösung der Flüchtlingslager.

Das ist sympathisch und selbstlos und geht einem sehr konkreten Problem aus dem Weg: Wie steht man zu dem Ausnahmezustand, zur Selbstentmächtigung des Parlaments? Welche Maßnahmen unterstützt man, welche Maßnahmen haben mit der Bekämpfung einer Pandemie nichts zu tun? Wer wird für diese Krise bezahlen, deren Kosten bereits die der Finanzkrise 2008ff übertreffen? Bedeutet die "neue Normalität", die man uns verspricht, auch, dass sich der Kapitalismus in eine "neue" Zeit katapultiert wird?

All das thematisieren die Grundrechtsproteste in Berlin, Stuttgart und anderswo auf ihre Weise. Wer meint, dass es dort die eine Meinung dazu gibt, die dann selbstverständlich ganz falsch ist, beobachtet nicht, sondern will sich vor allem selbst "aufspielen".

In diesen Protesten werden viele Gründe, Annahmen, Thesen und Ursachen formuliert. Sie sind wahrlich nicht aufeinander abstimmt, noch in sich konsistent. Das ist nicht wirr (wie einige diagnostizieren, die nur mit sich im Reinen sind), sondern ein notwendiger Prozess in einer Bewegung, die zu Beginn ganz viel anzieht und ganz viel aushalten muss. Das ist genau das Gegenteil zu einer politisch homogenen Gruppe - und muss sich ganz und gar nicht gegeneinander ausschließen.

Wer einmal in Bewegungen aktiv war, ob als Friedensbewegung, als Anti-AKW-Bewegung oder als Startbahnbewegung, der weiß, dass diese zum Teil schwer auszuhaltenden Widersprüche und Grundhaltungen den Dynamo einer Bewegung ausmachen. Diesen Prozess steuert und dirigiert man nicht von außen, indem man sich als Linienrichter aufführt, sondern indem man in diesen Bewegungen mit den eigenen Überlegungen und Analysen überzeugt.

Von daher stimmt wahrscheinlich der Eindruck, dass nur Linke als Einzelpersonen auf diesen Protestversammlungen anwesend sind. Das spricht nicht gegen diese Proteste, sondern gegen eine Linke.

Um einiges aktiver ist die Linke beim Sammeln von Statements, Beweisen, Indizien und Fotos. Sie erkennen Neonazis und Reichsbürger auf diesen Protestversammlungen. Sogleich fällt der Vorwurf, dass es sich um rechte Aufmärsche handelt bzw. dass sie "anschlussfähig" zu rechten bis faschistischen Positionen sind.

Inhaltlich ist die Kritik mehr als episodenhaft. Man zitiert aus Flugblättern und Reden. Man macht sich über die dort vorgetragenen Analysen lustig und bemüht sich um ganz besonders abgedrehte Beispiele. Bei der "Heute-Show" durfte sich ein Teilnehmer der Demonstration in Stuttgart mit der Aussage blamieren: "Bill Gates ist noch schlimmer als Hitler."

Dass es viele Berichte gibt, die vieles mehr und anders wahrgenommen haben, wird ziemlich ignoriert. So zum Beispiel der sehr differenzierte Bericht über die "Hygiene-Demos" in Berlin von Gerhard Hanloser (Budjonnys unhygienische Reiterarmee, der unter anderem zu dem Schluss kommt:

Was der Anmelder der merkwürdigen Demos verkündet und was in der ersten Ausgabe der Zeitung "Demokratischer Widerstand" steht, ist zwar auch nicht eindeutig, aber eindeutig nicht rechts. Anselm Lenz erklärt sich und sein Anliegen im Interview mit Ken Jebsen als "antifaschistisch". Außerdem betont er, dass er sich vielleicht irre und in der Rückschau nur ein Alarmist bezüglich der Grundrechtsuspendierung war. Aber dann habe er ja nur Grundgesetze verteilt, das könne ja nicht schaden …

Gerhard Hanloser

Stattdessen will man eisern nur das Schlechtmöglichste gelten lassen. Wenn man diese Methoden auch auf die Linke anwenden würde, dann sähe es auch sehr düster aus.

Nähme man hingegen das Bestmöglichste an, dann stehen auf diesen Demos drei zentrale Aussagen im Zentrum:

Zu allererst geht es um die Grundrechtseinschränkungen und die Selbstentmächtigung des Parlaments als Legislative, die am 25. März 2020 im Rahmen der Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen wurden.

Als zweites werden die Expertenmeinungen, die die Lockdown-Politik der Bundesregierung begründen, für zweifelhaft gehalten. In diesen Kontext fällt das Faktum, dass "Sekundärinteressen", also wirtschaftliche und machtpolitische Interessen, einen Einfluss auf medizinische Analysen und Empfehlungen haben, dass von einer Unabhängigkeit keine Rede sein könne. Diese Skepsis schließt auch die Weltgesundheitsorganisation WHO ein, die zu 80 Prozent von Konzernen und "Privatpersonen" finanziert wird, als auch die Rolle des Multimilliardärs Bill Gates und seiner Stiftung. Zu dieser besonderen Rolle Bill Gates passt es, dass man ihn wie ein Staatsmann behandelt und in der Tagesschau fast zehn Minuten das Wort gibt.

Und als drittes Argument fällt immer wieder der Vorwurf, dass der Corona-Krisenstab eine Wirtschaftskrise, die längst im Gang war, kaschieren soll.

Alle drei Thesen beinhalten im Kern zentrale Punkte für eine linke Debatte - wenn man sich darauf konzentrieren würde, den Fragestellungen nachzugehen, anstatt sich an der schlechtmöglichsten Ausdeutung kaputt zu lachen.

Eigentest für die Linke

Da die Nennung von Bill Gates, seine Bedeutung und Überhöhungen allerlei Deutungen zulassen, möchte ich an dieser Stelle eine Vorgehensweise vorschlagen, die mehr als Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit transportiert.

Denn selbstverständlich liegen wirkliche Macht eines Multimilliardärs und eine geschätzte Überhöhung seiner Macht nahe beieinander. Das geht kaum anders, denn weder Bill Gates noch sonst ein Milliardenunternehmen erklären uns in aller Offenheit, wo und wie sie ihre ökonomische Macht einsetzen. Das Problem, deren Macht richtig und realistisch einzuschätzen, haben nicht nur die TeilnehmerInnen von "Grundrechts-Demos".

Es reicht also ganz und gar nicht, den Menschen auf der Straße vorzuwerfen, dass sie eine Verschwörungstheorie rund um Bill Gates aufbauen, die man je nach Eskalationsgrad auch also antisemitische Ideologie entlarven kann.

Eine Linke, die nicht nur Platzverbote verteilt und rote Linien nachzieht, müsste mehr als Schlagworte raushauen und genau erklären, worin die Macht Bill Gates besteht und um welchen imaginären Anteil es geht, der in der Tat in antisemitischen Ideologien eine zentrale Rolle spielt.

Bill Gates - Was unterscheidet eine reaktionäre Kritik von einer linken Kritik?

In der reaktionären und autoritären Kritik steht Bill Gates (und seine Stiftung) für zweierlei. Zuallererst eignet er sich für die Charakterisierung und Personalisierung des Bösen, der bösen, dunklen Seite des Kapitalismus. In der Person Bill Gates kann man das "Böse" externalisieren, also als etwas markieren und brandmarken, was von außen kommt. Dabei hilft die Figur des Amis gewaltig. Früher war es der Jude.

In diesem Axiom kommt tatsächlich ein ganz zentraler Pfeiler des politischen Antisemitismus zum Tragen. Man zerlegt den Kapitalismus in zwei Hälfen: die gute Seite ist das "schaffende Kapital", die schlechte Seite wird durch das "raffende Kapital" (in der Figur eines Bill Gates) konfiguriert. Dass der Kapitalismus notwendig beide Seite hat und gerade in diesem dynamischen Zusammenspiel existiert, will und muss eine rechte/autoritäre Kritik leugnen. Genau das, was eine reaktionäre Kritik zerlegen will, beschreibt der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Alois Schumpeter als innere Gesetzmäßigkeit: schöpferische Zerstörung.

Zu einer dezidiert rechten Kritik gehört auch, dass man die Macht, den Einfluss, den Wenige über ganz Viele haben, in eine geheime Schaltzentrale auslagert, die die politisch Verantwortlichen zu hilflosen Marionetten macht.

Diese reaktionäre Kritik zeichnet sich also durch zwei zentrale Axiome aus: Sie personalisiert und ethnisiert das Böse im Kapitalismus, was die "Rettung" geradezu nahelegt: Man muss nur den Exzess ausmerzen, das Böse eliminieren, um das Gute im Kapitalismus zu bewahren.

Diese Kritik ist mitnichten eine antikapitalistische Kritik, sie ist der letzte Schutzwall. Es ist ein gigantisches Rettungsprogramm für den Kapitalismus, wenn das Böse für etwas Absonderliches und nicht als Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Ordnung verstanden wird.

Auch das zweite zentrale Axiom einer rechten Kritik ist herrschaftssichernd. Wenn man Bill Gates, Google und Co. zu Illuminaten einer geheimen Weltregierung macht, rettet man die realen Herrschaftsverhältnisse, für die es keinen Untergrund braucht. Was also eine rechte Kritik von einer linken unterscheidet, ist der Umstand, dass die rechte Kritik die realen Herrschaftsverhältnisse verschleiert, während eine linke Kritik sie sichtbar und (an-)greifbar machen muss, also müsste.

Was würde also eine linke Kritik auszeichnen? Es ginge darum, die Bedeutung von Bill Gates und seiner Stiftung genau zu benennen. Dabei geht es am allerwenigsten darum, Bill Gates nett, philanthrop oder unsympathisch zu finden. Es geht um die ungeheure Summe, die überall auf der Welt zu einer Macht verhilft, die sich nicht zur Wahl stellen muss, die mit Investitionen und Deinvestitionen mehr erreichen und bewirken kann, als dies geheime Zirkel können.

Zum anderen geht es darum zu erklären, warum das Geraune von einer im verborgenen agierenden Macht die Herrschaftsverhältnisse nicht aufdeckt, sondern verschleiert. Die "Bill Gates" dieser Erde brauchen keine Unterwelt, sie sitzen in den Beraterstäben von Regierungen, sie investieren in Think Tanks und NGOs (Nichtregierungsorganisationen), halten sich Stiftungen, um so auf vielstimmige Weise Meinungshoheit zu schaffen und Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Und genau diese Arbeit aufseiten der Linken steht aus.

Das betrifft auch den dritten Punkt, die Frage nach den Grundrechten, die mithilfe der Corona-Gesetze eingeschränkt bzw. außer Kraft gesetzt wurden.

Es ist doch leicht, die Schlagworte, die auf den Grundrechtsdemos fallen, einzusammeln und auf die Wäscheleine zum Trocknen aufzuhängen. Da ist von einer "Corona-Diktatur", von einem "Staatstreich" die Rede oder von einem "Merkel-Faschismus". Da fällt dem besagten Hamburger Bündnis gegen Rechts ziemlich wenig ein:

Auch in Hamburg demonstrieren Menschen gegen die sogenannten Corona-Maßnahmen. Die Protestierenden behaupten, das Grundgesetz sei außer Kraft gesetzt und fantasieren die Entstehung einer Diktatur herbei.

Bündnis gegen Rechts

Das war es. Gibt es also gar keine "Corona-Maßnahmen", wenn man sie als "sogenannte" für sub-existent erklärt? Wie würde das Bündnis gegen Rechts die Grundrechtseinschränkungen qualifizieren?

Es ist ganz leicht und es wird einem auch sehr leicht gemacht, die Suche nach Begrifflichkeiten, die diesen Ausnahmezustand zu fassen versuchen, als Fantasien abzutun. Aber was hat die Linke (im und außerhalb des Parlaments) dagegenzusetzen? Hat sie eine eigene Staatsanalyse? Hat sie eine Analyse der "Notstandsmaßnahmen", die es in der deutschen Geschichte schon gab? Was ist vergleichbar, was ist (ganz) anders? Und verfügt die Linke über eine Faschismustheorie oder gar über mehrere, über die sich solidarisch und produktiv streiten könnte?

Dass "Merkel" für keinen Faschismus steht, darf man gefühlt annehmen. Aber es gehört doch mehr dazu, also solche Schlagworte in die Kiste der Verschwörungsideologien zu stecken. In welchem (dynamischen) Wechselverhältnis steht die Mitte (wofür sich die Große Koalition selbst hält) zu dem, was die AfD an Programmatik betreibt? Was versteht das Kollektiv "Staub zu Glitzer" genau darunter, wenn es in seiner Presserklärung schreibt, dass es "auch in der kommenden Zeit gegen faschistoide Gesinnungen in unserer Mitte angehen" werde.

Was bezeichnet man mit einer "faschistische Gesinnung" und was ist damit gemeint, wenn man diese "in unserer Mitte" angehen möchte? Und ziemlich eng wird es, wenn man fragt, wie weit der "Merkel-Faschismus" von "faschistoiden Gesinnungen in unserer Mitte" entfernt ist?

Wenn man den Grundrechts-Demos zu recht ein ziemlich diffuses Auftreten bescheinigt, dann wäre ein selbstkritischer Blick auf die eigenen Auftritte eine gute Ergänzung. Wie viel in Gänze unklar, undiskutiert und scheinbar überfordernd ist, macht auch dieses Statement deutlich:

Die politische Situation (in Berlin, d.V.) gestaltet sich eben komplex und unübersichtlich und das nicht erst seit der Corona-Pandemie. Wie umgehen mit der Tatsache, dass die AfD völlig legal Willy Brandt und Sophie Scholl auf ihren Wahlplakaten abbildet und verunglimpft und so zum "Widerstand" aufruft?

"Gender raus! Oder ich werd zum Nazi!" Gastbeitrag Sarah Waterfeld vom Kollektiv "Staub zu Glitzer"

Warum grämt sich das Kollektiv über eine Polizei-Behörde, die solche Wahlplakate nicht verbietet? Wen ruft das Kollektiv für eine wahrhaftige Geschichtserinnerung zu Hilfe?

Warum geht es nur um Symbole und Symbolpolitik und nicht um die Frage, wie die Linke heute den antifaschistischen Widerstand begreift? In welcher Tradition will sie sich bewegen und wie kann und muss heute antifaschistischer "Widerstand" praktiziert werden? Wäre das nicht viel drängender, als die Frage, ob einem die Polizei dabei hilft?

Eine Linke an der Beantwortung dieser Fragen zu erkennen, wäre ein viel produktivere und glaubhaftere Weise, regressive Kritik zu entzaubern, als unentwegt "Querfront", "Verschwörungstheorie" und "Antisemitismus" zu rufen und damit in einer Gesellschaft zu sein, die so unangenehm sein kann, wie die, von der man sich distanziert.

Wenn mal also genau weiß, wie dämlich, ahnungslos und wirr die Kritik an dem Corona-Ausnahmezustand ist, dann stellen sich doch fairerweise die Fragen:

Hat die Linke eine einleuchtende, sehr aktuelle Kapitalismusanalyse? Hat sie sich mit den Entwicklungstendenzen im Kapitalismus in den letzten 30 Jahren auseinandergesetzt? Hat sie analysiert, auf welche Weise die Finanzkrise 2008ff "bewältigt" wurde, welchen Einfluss sie auf die je verschiedenen Nationalstaaten hatte, wie sie das Machtgefüge innerhalb der EU (und auf der Welt) verändert hat und mit welcher Macht die kapitalistische Krise demokratische Institutionen und Prozesse pulverisiert hat (wie zum Beispiel in Griechenland)? Ist die Troika eine Diva aus der Verschwörungskiste oder ein real-existierendes Herrschaftsinstrument? Gibt es so etwas wie eine Troika nicht nur als Aluhutversion, sondern als ein Machtgefüge, das auch heute demokratische Prozesse abwürgt und hintergeht?

Es ist kinderleicht, dazu Menschen auf den Grundrechtsdemos zu fragen und ganz gruselige Antworten zu bekommen.

Aber auf wie viele schlichte, blasse (die schlaue Linke würde sagen) unterkomplexe Analysen würden wir treffen, wenn wir unter uns herumfragen würden, in antirassistischen, antifaschistischen Gruppen, in feministischen und queeren Zusammenhängen?

Man ist sicherlich nicht boshaft, wenn man davon ausgeht, dass das Ergebnis sehr ernüchternd ausfallen würde. Wenn man also von diesem Wissens- und Diskussionsstand ausgeht, kann man die Arroganz und Überheblichkeit spüren, die sich über die Dummheit der anderen erhebt.

Wir werden die kommenden verschwörungsideologischen Versammlungen in Hamburg, z.B. am morgigen Samstag mit Kundgebungen kritisch begleiten. Wir weisen darauf hin, dass weiterhin die Hygieneregeln einzuhalten sind.

Bündnis gegen Rechts

Wenn man diese Ankündigung des Hamburger Bündnisses liest, dann bekommt man noch mehr Zweifel an Aufpassern.

Die Flucht in eine Krise als Chance

Man wirft den Grundrechtsdemos vor, dass sich dort auch esoterische Stimmungen und Haltungen tummeln. Kann sein. Aber gibt es diese nicht auch in linken Zusammenhängen? Man müsse jetzt die Krise als Chance nutzen, hört man immer wieder. Was an diesem esoterischen Versprechen dran ist, wüsste man, wenn man sich die Krisen der letzten Jahrzehnte und ihre "Bewältigung" vor Augen hält.

Man kann mit der Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahren anfangen, kann "9/11" (2001ff) Revue passieren lassen oder die letzte Wirtschafts- und Finanzkrise 2008ff. Sie haben allesamt die Welt nicht gerechter, nicht menschlicher, nicht ökologischer gemacht. Das wird mit der Corona-Krise nicht anders ein. Das Virus hat keinen pädagogischen Auftrag und die Krise gebiert nichts Neues, sondern wird das Bestehende auf Teufel komm raus verteidigen.

Dennoch wird in linksakademischen Kreisen zum Thema "Krise als Chance" und "Corona als exogener Schock" in Richtung Postkapitalismus fantasiert. Der Philosoph Slavoj Žižek wähnt sich und uns auf den Weg in den (Post-)Kommunismus:

Im besten Fall aber wachse mit der Krise ein neues Gemeinschaftsgefühl, so Žižek - eine neue Art kommunistisches Denken, das "freilich nichts mit dem historischen Kommunismus der Sowjetunion zu tun hat", sondern eher mit der banalen Feststellung: "Wir sitzen alle im gleichen Boot. Wir brauchen eine globale Koordination und Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Virus." Etwas, das die Weltgesundheitsorganisation lange vorschlägt, und was es real nicht gibt - nicht einmal in der Europäischen Union.

ORF

Weniger transzendierend ginge es im Hier und Jetzt darum, die milliardenschweren Staatshilfen für einen "Green Deal" zu nutzen, für mehr (Sozial-)Staat und ganz allgemein und besonders für einen kapital-losen Gemeinsinn.

Wie hoch und weit wird damit gegriffen?

Das würde doch zu allererst nach einer Bestandsaufnahme, nach einem Zustandsbericht schreien. Nichts spricht in der Großen Koalition, in den Oppositionsparteien, außerhalb des Parlaments dafür, dass es auch nur ansatzweise, mit Macht und unbändigem Willen in diese Richtung geht.

Alle Anzeichen gehen stattdessen in die Gegenrichtung: Die systemrelevanten Konzerne wie Lufthansa bekommen Milliarden-Hilfen (ohne Mitspracherecht), die Unternehmen bekommen Rettungspakete, die Grundrente wird infrage gestellt, die Shoppingmalls bekommen Lockerungen, der öffentliche Nahverkehr erlebt die größte Krise aller Zeiten - und die Subventionen gehen an die Dieselbetrüger von VW und Co. Und wer wird die auf eine Billion Euro zulaufende Staatsverschuldung bezahlen?

Wenn man die Realität dieser Fahrtrichtung, dieses Fahrplanes teilt, müsste eine Linke sagen, wie man diesen Zug aufhält, wie man ihn zum Entgleisen bringt. Oder glaubt man etwa, dass die Herrschenden und Regierenden von der "Neue Realität" inspiriert sind, dass der Kapitalismus mit und ohne Corona ein mörderisches Unternehmen ist, von Bord gehen und "uns" bitten, das Kommando zu übernehmen?

Sind "Merkel-Diktatur" und "Green Deal" nicht zwei Seiten einer Orts- und Wegbeschreibung - ohne jedes gps-Signal?

Wolf Wetzel: Der NSU-VS-Komplex - Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund/NSU - wo hört der Staat auf? Unrast Verlag 2015.

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