Post-Corona-Träume aus Silicon Valley: Utopie oder Dystopie?

Andre Cuomo und Eric Schmidt auf der Pressekonferenz am 6. Mai

Beim Wiederaufbau von Gesellschaft und Wirtschaft in New York werden Milliardäre aus Silicon Valley gebeten, ihre Zukunftsversionen zu realisieren

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"Politisch betrachtet ist die Pandemie immer auch das, was wir aus ihr machen, also gerade kein reines Naturereignis, sondern ein gesellschaftliches Phänomen, das der politischen Gestaltung bedarf. (…) Politisch gesprochen darf es daher auch in der Krise nie ausschließlich um "Leben und Tod" gehen, sondern immer auch um die sprichwörtliche 'Krise als Chance', um die Gestaltung der Zukunft im Hier und Jetzt", gibt Hans-Jörg Sigwart, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaft der RWTH Aachen, zu bedenken. Seine Schlussfolgerung lautet:

Wenn eines über die aktuelle Situation mit Sicherheit ausgesagt werden kann, dann dies, dass sie die Grenzen dessen, was wir gewöhnlich für möglich halten, ganz real und vor aller Augen ausdehnt. Die Chance zu ergreifen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, diese Räume für die Entwicklung realistischer Utopien zu nutzen und sie nicht dem politischen Virus eines dystopisch-egoistischen Fatalismus zu überlassen, ist in Zeiten von Corona nicht nur Aufgabe der politischen Philosophie, sondern auch die demokratische Aufgabe von Politikerinnen und Politikern, von Bürgerinnen und Bürgern.

Hans-Jörg Sigwart

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Ein Bürgermeister mit Visionen

Andrew Cuomo, der demokratische Gouverneur des Bundesstaates New York, sieht dies scheinbar ähnlich:

Wann kommt der Wandel in einer Gesellschaft? Wir alle reden über Wandel und Fortschritt, aber eigentlich mögen wir Kontrolle, und wir mögen den Status Quo, und es ist schwer, den Status Quo zu ändern. Aber es gibt Momente in der Geschichte, in denen die Menschen sagen: "Okay, ich bin bereit. Ich bin bereit für Veränderungen. Ich hab's verstanden." Ich glaube, dies ist einer dieser Momente.

Andrew Cuomo

Aber wo Sigwart sich an Politiker und Bürger wendet, hat Cuomo ganz spezielle Adressaten im Kopf, die den Wandel nicht in einem demokratischen Prozess einleiten sollen, sondern indem sie die Möglichkeit erhalten, ihre persönlichen Visionen in New York Realität werden zu lassen.

Die Schule von morgen

Nachdem Cuomo den Milliardär und ehemaligen Bürgermeister von New York, Michael Bloomberg beauftragt hatte, sogenannte Tracer zu rekrutieren und auszubilden, die die Kontakte Neu-Infizierter mit Hilfe einer App herausfinden und kontaktieren sollen, machte sich der Gouverneur an die Realisierung der ersten Vision. Sein erstes Ziel: der Umbau des Bildungswesens:

Ich denke, Bildung ist (…) ein Thema, bei dem die Leute sagen werden: "Sehen Sie, ich habe nachgedacht, ich habe nachgedacht, ich habe viel gelernt." Wir alle haben viel darüber gelernt, wie verwundbar wir sind und wie viel wir tun müssen, und lassen Sie uns anfangen, darüber zu sprechen, wie wir die Bildung wirklich revolutionieren können. Und es ist an der Zeit.

Michael Bloomberg

Seine Erklärung ist bestechend einfach:

Das alte Modell eines jeden geht und sitzt in einem Klassenzimmer, und der Lehrer steht vor diesem Klassenzimmer und unterrichtet diese Klasse, und Sie machen das in der ganzen Stadt, im ganzen Staat, in all diesen Gebäuden, in all diesen physischen Klassenzimmern - warum mit all der Technologie, die Sie haben?

Michael Bloomberg

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Die Person, der die Verantwortung zukommen soll, das Bildungssystem für 20 Millionen Menschen zu entwickeln, ist kein ausgebildeter Bildungsexperte, sondern ein weiterer Milliardär, den Cuomo als neuen Mitstreiter für die Welt von morgen vorstellt:

Bill Gates ist in vielerlei Hinsicht ein Visionär, und über seine Ideen und Gedanken zu Technologie und Bildung hat er jahrelang gesprochen, aber ich denke, wir haben jetzt einen Moment in der Geschichte, in dem wir diese Ideen tatsächlich aufnehmen und weiterentwickeln können.

Andrew Cuomo

Die Stadt von morgen

Einen Tag später kündigt Cuomo die nächste umwälzende Neuigkeit an. In einer Pressekonferenz teilt er seine Gedanken mit:

Wie setzen wir die neuen Technologien in der Wirtschaft von morgen wirklich ein? Das ist die Lektion, die wir alle lernen, nicht wahr? Heimarbeit, Telemedizin, Telepädagogik, es dreht sich alles um Technologie und eine bessere Nutzung der Technologie und darum, die Lektionen wirklich einzubeziehen.

Andrew Cuomo

Auch hier will Cuomo auf einen weiteren altbekannten Milliardär aus Silicon Valley setzen: "Der beste Verstand in diesem Land, wenn nicht sogar auf der ganzen Welt, um dies zu tun, ist meiner Meinung nach ein wahrer Visionär, vor allem auf dem Gebiet der Technologie, und das ist Eric Schmidt. Wir haben ihn gebeten, mit uns zusammenzuarbeiten, um diese Art von visionärem Aspekt in Regierung und Gesellschaft zu bringen."

Der ehemalige Executive Chairman von Google und Alphabet Inc. erhält sogleich die Möglichkeit, seine Vision dem breiten Publikum anzukündigen:

Die ersten Prioritäten unserer Bemühungen konzentrieren sich auf Telemedizin, Fernunterricht und Breitband. Wir können diese furchtbare Katastrophe bewältigen und all dies auf eine Weise beschleunigen, die die Dinge viel, viel besser machen wird. (…) Ich selbst bin der Meinung, dass diese Zeit eine Chance ist, Dinge, denen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wird, wieder aufzugreifen. Wir haben Systeme, die aktualisiert und überprüft werden müssen. (…) Die öffentlich-privaten Partnerschaften, die mit der Intelligenz der New Yorker möglich sind, sind außergewöhnlich. Sie müssen entfesselt werden.

Eric Schmidt

Pandemische Schockstrategie?

Cuomo steht keineswegs alleine. Auch andere US-Bundesstaaten wie beispielsweise Kalifornien, Florida oder Connecticut zeigen Tendenzen, die in eine ähnliche Richtung weisen. Naomi Klein warnt gerade im Hinblick auf New York von einer pandemischen Schockstrategie.

Die Aussicht auf ein ausgesprochen lukratives Geschäft kommt für die Internetgiganten zu einem denkbar günstigen Zeitpunkt, denn in den letzten Monaten wehte ihnen ein ungewöhnlich scharfer Wind entgegen. Elisabeth Warren, demokratische Präsidentschaftskandidatin, hatte offen über die Zerschlagung von Big Tech diskutiert. Amazon musste seine Pläne für ein New Yorker Hauptquartier wegen heftiger lokaler Opposition zurückziehen. Googles Mitarbeiter protestierten gegen Projekte mit dem Pentagon und Googles Sidewalk Labs-Projekt befand sich in einer andauernden Krise, bis sie ein umstrittenes Projekt zum Bau einer Smart City in Toronto aufgeben mussten.

China zeigt den Weg

Bereits in der Vergangenheit hat Eric Schmidt wiederholt auf die Vorteile hingewiesen, die chinesische Unternehmen wie Alibaba, Baidu und Huwai in ihrer Heimat vorfinden. Denn der chinesische Staat gebe Milliarden für Überwachungstechnologien aus und private Unternehmen könnten mit Hilfe von entsprechenden Applikationen gigantische Gewinne einfahren, so dass schlussendlich die Spitzenposition der USA in Gefahr sei.

"Wir befinden uns in einem strategischen Wettbewerb. (…) Künstliche Intelligenz wird im Zentrum stehen. Die Zukunft unserer nationalen Sicherheit und Wirtschaft steht auf dem Spiel", so lautete eine Warnung des Interimsbericht der "National Security Commission on Artificial Intelligence" im November letzten Jahres, dessen Vorsitz Schmidt inne hatte. Anschließend hat sich Schmidt wiederholt dafür ausgesprochen, aus seiner Sicht störende Blockaden in den USA abzubauen und China zu folgen. Zuletzt in einem Editoral für das Wall Street Journal.

Die aktuelle Situation in den USA hat einen radikalen Wandel erzeugt, der ganz im Sinne von Eric Schmidt ist: Einkäufe lassen sich nur noch online vornehmen. Arztbesuche können nur über Bildtelefonie durchgeführt werden. Nicht zuletzt findet der Schulbesuch nur noch online statt und Schmidt spricht im Hinblick auf die Schule angetan von einem "massiven Experiment".

Das Interesse der Milliardäre für Bildungspolitik

Bemerkenswerterweise steht die Bildungspolitik im besonderen Fokus der Internetgiganten. Nicht nur Bill Gates und Eric Schmidt konzentrieren sich auf den Umbau hin zum digitalen Lernen und Onlineschulen, auch Mark Zuckerberg widmet Bildung seine ganz besondere Aufmerksamkeit. Während die Bill & Melinda Gates Foundation zwischen 2013 und 2017 rund 300 Millionen EUR in den Bildungssektor investiert hat, kündigte Zuckerberg gemeinsam mit seiner Frau im Januar 2017 an, mehrere Hundert Millionen US-Dollar für personalisiertes Lernen zu investieren, um das erklärte Ziel zu erreichen, jedem eine "maßgeschneiderte Ausbildung" zu kreieren. Zwei Jahre zuvor hatte Zuckerberg aus seiner Stiftung bereits 100 Millionen US-Dollar an das Start-up AltSchool überwiesen.

Deutschland sucht den Anschluss

Als in Deutschland der Lockdown beschlossen wurde, stellte sich unter anderem das fundamentale Problem, wie die Schule weitergeführt werden könnte. Sogleich mahnte der Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann: "Jetzt rächt sich, dass sich in Deutschland bei der Digitalisierung der Schulen so lange nichts richtig bewegt hat."

Deutschland hatte sich seit Jahren schon auf den Weg der Digitalisierung des Schulunterrichts gemacht. 2015 jubelte der Ex-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel "Noch nie war Bildung so leicht zugänglich. Und noch nie hat Bildung so viel Spaß gemacht. Tablets im Unterricht, Webinare, virtuelle Workshops, Onlinekurse. Bildung ist oft nur einen Mausklick entfernt." Ein Jahr später kündigte Bundesbildungsministerin Johanna Wanka den Digitalpakt an. Der Bund stellte 5 Milliarden EUR zur Verfügung. Die Umsetzung stockte jedoch und nur wenig Mittel wurden von den Länder abgerufen.

Mit Ausbruch der Corona-Pandemie soll aber die Digitalisierung verstärkt umgesetzt werden. So verständlich auf den ersten Blick die Digitalisierung der Schule ist, um den Schulunterricht auch unabhängig von der Anwesenheit der Schüler im Klassenraum durchführen zu können, so wichtig ist es zugleich auch die kritischen Stimmen wahrzunehmen.

Tatsächlich steckt der Teufel im Detail. Ralf Lankau, Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg, erklärt: "In Baden-Württemberg beispielsweise wurde die Bindung an Microsoft-Produkte vom Kultusministerium erst nach massiven Protesten aus der Open-Source-Bewegung zu einer Option unter mehreren abgeschwächt. Dafür verpflichtet man sich über die Paktlaufzeit hinaus, die angeschaffte Hard- und Softwareinfrastruktur weiter zu finanzieren. Im Klartext: Wer Gelder abruft, verpfändet die Schuletats auf Jahre hinaus an IT-Dienstleister und Hardwareanbieter."

Warnende Töne kommen aus der Landesschülervertretung NRW: Kommerziellen Plattformen, die ihrer Einschätzung nach die Chance nutzen wollen, Marktanteile zu gewinnen und daher kostenfreie Lockangebote zur Verfügung stellen: "Was auf den ersten Blick wie ein großzügiges Angebot wirkt, ist tatsächlich ein weiterer Schritt zur Privatisierung und Gewinnorientierung der Bildungsinfrastruktur."

Selbstverständlich ist die Digitalisierung ein ansehnlicher Markt. Daher lohnt sich bei aller Begeisterung für eine scheinbar einfache Lösung aktueller Probleme ein Blick hinter den Vorhang.

Flop made in Silicon Valley

Es gibt durchaus bereits Projekte im Bildungsbereich, so dass vielleicht erst einmal die Erfahrungen und Studien zur Kenntnis genommen werden sollten, bevor man mit der Gießkanne Steuergelder für neue technische Lösungen ausschüttet.

"Summit Learning" war ein Projekt von Facebook in 300 öffentlichen Schulen in den USA. Das Versprechen war: Die Eltern kaufen die Laptops, den "Rest" erledigt Facebook per Web. In 15 Staaten kam es schließlich zu Streiks von Schülern und Eltern, die ihre Kinder ummeldeten. Das System soll dazu geführt haben, dass die Schüler eine negative Einstellung zur Schule entwickelten, weil sie zu viel Zeit am Bildschirm verbrachten und zu wenig mit ihren Lehrern und Mitschülern interagierten, so der Vorwurf.

Daneben gab es aber auch ein großes Datenschutzproblem. Die Rechtsanwältin der Schüler erklärte: "Während der ersten beiden Jahre der Summit-Plattform mussten Eltern an öffentlichen Schulen, die das Programm nutzen, ihre Zustimmung zur Erfassung der persönlichen Daten ihrer Kinder geben, doch kurz nachdem CZI im März 2017 die technische Unterstützung übernommen hatte, kündigte Summit an, dass Eltern dieses Recht nicht mehr haben würden."

Der Internet-Philosoph Evgeny Morozov kommentiert allgemein das Interesse von Zuckerberg am Bildungssektor:

Zuckerberg gab selbst zu, dass ihn vor allem die Technologie interessiert hat, weil sie sich sehr stark auf personalisiertes Lernen verlässt, was nur möglich ist, wenn große Mengen von Nutzerdaten gespeichert und analysiert werden. Erinnert einen das nicht an das Geschäftsmodell eines großen Tech-Konzerns?

Evgeny Morozov

Weitere Flops

Ralf Lankau berichtet von einer ganzen Reihe weiterer Flops. In den USA ist die Digitaltechnik in Schulen seit einiger Zeit wieder auf dem Rückzug, nachdem man feststellen musste, dass sie oft ablenkte und didaktisch keinen Nutzen hatte. Auch in Australien werden Laptopklassen wieder aufgelöst, nachdem Milliarden hierfür investiert wurden. Zuletzt endete auch das Experiment an einer der teuersten Privatschulen Australiens und die Laptops verließen wieder das Klassenzimmer. Der Direktor erklärte, dass die staatliche Investition von 2.4 Milliarden Dollar eine "skandalöse Geldverschwendung" sei.

Stand der Wissenschaft

Die von der Bill & Melinda Gates Foundation mitfinanzierte Common Core State Standards Initiative sollte für Englisch und Mathematik in den USA landesweit Standards und Testverfahren festlegen. Nach Protesten von Lehrern und Eltern wurde 2017 in New York diese Standards ersetzt. Das 2009 von der Bill & Melinda Gates Foundation lancierte "Intensive Partnerships for Effective Teaching (IP)", das insbesondere ein Evaluierungssystem für Lehrer beinhaltete, wurde 2018 in einem Abschlussbericht bewertet. Das Ergebnis: Weder wurde die Qualität der Lehrer verbessert, noch die Leistung der Schüler gesteigert. Wenn überhaupt überwogen die negativen Konsequenzen. Kosten des Programms: rund 550 Millionen EUR.

"Bill Gates und die Gates Foundation haben eine gescheiterte Bildungsinitiative nach der anderen gefördert, was zu großer Unzufriedenheit in den Bezirken im ganzen Staat geführt hat," kritisiert daher aktuell die "New York State Allies for Public Education" in einem Brief an den Gouverneur Andrew Cuomo, nachdem dieser Bill Gates auserkoren hat, die zukünftige Bildungspolitik des US-Bundesstaates zu gestalten.

Positive Studienergebnisse?

"Tatsächlich gibt es bis heute keine unabhängige Studie, die zweifelsfrei nachgewiesen hätte, dass Lernen allein durch die Einführung von Computern und Bildschirmen in Klassenzimmern effektiver wird", schreibt Manfred Spitzer in "Digitaler Demenz". Hingegen finden sich Belege für negative Auswirkungen. Beispielsweise zog 2017 die BLIKK-Medien-Studie das Fazit, intensive Nutzung digitaler Medien könne bei Kindern zu Sprachentwicklungs- und Konzentrationsstörungen führen. Im selben Jahr hieß es in dem Gutachten "Bildung 2030" der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft:

Dabei zeigte sich im Hinblick auf kompetenzförderliche Effekte des Medieneinsatzes, dass Grundschülerinnen und Grundschüler in Deutschland, in deren Unterricht mindestens einmal wöchentlich Computer eingesetzt wurden, in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften statistisch signifikant niedrigere Kompetenzen aufwiesen als jene Grundschulkinder, die seltener als einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzten.

Bildung 2030

Erzeugung von Ungleichheit

"Eine längere Zeit ohne Unterricht trifft Schüler aus prekären Verhältnissen viel härter als andere", warnt die Frankfurter Allgemeine Zeitung während der Corona-Krise. So scheint auf den ersten Blick eine Online-Schule sinnvoll, auch gerade um eine zunehmende Ungleichheit zwischen den Schülern zu verhindern. Aber konkret funktioniert dies nicht. llka Hoffmann, Schulexpertin der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) erklärt: "Während viele Akademikerfamilien trotz Homeoffice in der Lage sind, ihren Kindern bei den Aufgaben zu helfen und diese zu motivieren, können viele Mütter und Väter aus prekären Verhältnissen das nicht. (…) Die schon vorhandenen Ungleichheiten werden sich massiv verstärken."

Derzeit sind laut dem Verband Bildung und Erziehung von gut 8,3 Millionen Schülern in Deutschland etwa 2,4 Millionen von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Vor welche Schwierigkeiten aktuell das Homeschooling Eltern stellen kann, demonstriert ein Interview mit Thomas Wasilewski.

Der Zugang zum Fernunterricht mit Hilfe digitaler Technologien ist höchst ungleich, und subventionierte Mahlzeitenprogramme, Impfkliniken und Schulkrankenschwestern sind für die Gesundheitsversorgung von Kindern, insbesondere für marginalisierte Gemeinschaften, unerlässlich.

Studie in The Lancet

Eine Studie aus dem letzten Jahr belegt, dass Online-Unterricht im Vergleich zum Unterricht im Klassenzimmer schlecht abschneidet: "Im Durchschnitt haben vollständig online durchgeführte Kurse dazu beigetragen, die Unterschiede im Bildungserfolg zwischen sozioökonomischen Gruppen zu vergrößern (...). Selbst wenn die Gesamtergebnisse bei Klassenzimmer- und Online-Kursen ähnlich sind, kommen Studenten mit schwacher akademischer Vorbereitung und solche aus einkommensschwachen und unterrepräsentierten Verhältnissen beständig zu unterdurchschnittlichen Leistung in Voll-Online-Umgebungen."

Heftige Kritik

Die Ankündigungen Cuomos, dass Bill Gates und Eric Schmidt offiziell eingeladen wurden, ihre Visionen Realität werden zu lassen, rufen massive Kritik hervor. Die "Washington Post" zitiert die Reaktion der Lehrerin Kathleen Elliott-Birdsall: "Ich finde es unglaublich, dass er Bill Gates, einen Mann, der das Bildungswesen auf so viele Arten gestört hat, bittet, einen Plan zu entwickeln. Warum fragt man nicht die Lehrer, diejenigen von uns an der Front, um Input?"

Eine Koalition von Elterngruppen kritisiert in einem öffentlichen Brief, dass, wenn sie tatsächlich Teil eines "Experiment des Fernlernens" gewesen seien, die Ergebnisse zutiefst beunruhigend wären: "Seit der Schließung der Schulen Mitte März ist unser Verständnis für die tiefgreifenden Mängel des bildschirmgestützten Unterrichts nur gewachsen."

"Vox" weist auf ein grundsätzliches Problem hin: Die beiden Initiativen bieten für Privatpersonen eine Möglichkeit , die Lebensweise von 20 Millionen Menschen in New York neu zu gestalten - keiner von ihnen hat für Schmidt oder Gates gestimmt (keiner von ihnen lebt technisch gesehen in New York)."

Oder, um es in die Worte des Internetphilosophen Evgeny Morozov zu fassen: "Die Silicon-Valley-Elite ist sehr scharf darauf, die Welt zu retten. Doch wer rettet die Welt vor dem Silicon-Valley?"

Testmaschinen

Bei der Gestaltung des digitalen Lernens gibt es auch ein grundsätzliches Problem, das sich wunderbar an einer Reportage über das bereits erwähnte Startup AltSchool, die von Mark Zuckerberg gefördert wurde, darstellen lässt. Die Schüler sollten die "Illias" von Homer lesen. So weit so gut. Die hierbei gestellte Aufgabe ist aber, vorsichtig formuliert, überraschend. Denn die Schüler sollten herausfinden, wie oft das Wort "Rache" im Text vorkommt. "Die Süddeutsche" kommentiert treffend: "Solche Schulen werden exzellente Wirtschaftsprüfer ausbilden. Für Dichter scheinen sie eher ungeeignet zu sein."

Gerne wird die Digitalisierung der Schule als selbstverständliches Zukunftsmodell gesehen, dabei aber gänzlich außer Acht gelassen, das Wesen des digitalen Lernens unter die Lupe zu nehmen.

Digitaltechnik ist vor allem da gut, wo etwas automatisiert und standardisiert werden soll. Das ist die Systemlogik algorithmischer Systeme. Die sogenannte Künstliche Intelligenz, auch bei Lernprogrammen und Learning Analytics, ist ja im Kern nichts anderes als Mustererkennung, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Diejenigen, die Lernprozesse in Schulen automatisieren und standardisiert testen wollen, sind zugleich die eifrigsten Verfechter der Digitalisierung, also angewandte Psychologen mit immer neuen Methoden und Testreihen und die empirischen Bildungsforscher, die glauben, man müsse nur genug Zahlen erheben, um Bildungsprozesse valide steuern zu können. Fortschritt und Digitalisierung in Schulen übersetzt man daher korrekt mit Messbarkeit statt mit Verstehen lehren und lernen. Der Begriff dafür ist datengestützte Schulentwicklung.

Ralf Lankau

Das Wesen der Bildung

Im neoliberalen Diskurs wird über Bildung gerne mit Phrasen wie "Wissen ist Humankapital", "Kompetenzen bilden Kapital, das junge Menschen verwalten und entwickeln müssen", "Lernen ist eine Langzeitinvestition" argumentiert. Ralf Lankau betont daher: "Es gibt viel Unsinn zum "digitalen Lernen", weil nicht verstanden wird, was der eigentliche Bildungsprozess ist. Er beginnt, wo angelerntes Faktenwissen endet und eigene Verknüpfungen aufgebaut werden." Er beschreibt dies an einem Beispiel:

Pädagogen zeigen seit der Akademie von Sokrates und seiner "Hebammenkunst des Lernens durch Fragen" der Jugend den Weg in die Welt, und zwar durch das Gespräch und den Dialog. Nur dieser Dialog, sprich die Reflexion über das Gelernte, das Formulieren und Argumentieren in eigenen Worten, führt zum Verständnis einer Sache oder eines Sachverhalts und damit auch zum kritischen Denken. Persönlichkeit und kritisches Denken brauchen immer ein konkretes Gegenüber. Copy und Paste, Remix und Share sind oberflächliche Methoden mit austauschbaren, unwichtigen Inhalten.

Ralf Lankau

Entsprechend warnt Lankau: "Alles, was man am Rechner lernen kann, um seinen Job zu machen, kann auch ein Rechner 'lernen', um meinen Job zu machen. Daher müssen wir Kindern beibringen, was kein Rechner kann: freies, assoziatives Denken, Kreativität, Gemeinschaftsgefühl, Verantwortung für sich und andere."

Digitales Lernen fokussiert - dies liegt nicht zuletzt in seinem Wesen begründet - auf Wissensvermittlung. Messbarem Wissen. Richard David Precht mahnt deshalb: "Bildung ist ein Kurzzeitgedächtniswettbewerb ohne jeden echten Wert." Denn: "Wer immerfort getestet wird, lernt ja nicht für sich, sondern im Hinblick auf die Tests. (…) auf diese Weise werden unsere Kinder dazu trainiert, Kapitalisten ihrer selbst zu sein und Aufmerksamkeit nur auf das zu lenken, was sich auszahlt."

Zur Erinnerung sei hier an die Verfassung von Bayern verwiesen, in der er es heißt: "Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden."

Wenn wir die Bildung neu überdenken wollen, sollten wir damit beginnen, den Bedarf an Sozialarbeitern, Beratern für psychische Gesundheit, Schulkrankenschwestern, bereichernden Kunstkursen, fortgeschrittenen Kursen und kleineren Klassen in den Schulbezirken im ganzen Bundesstaat anzugehen. Lassen Sie uns die Finanzierung durch den Bund und neue Staatseinnahmen durch Steuern für die Ultrareichen sichern, die diesen Bedarf decken können. Und lassen Sie uns die Pädagogen als die Experten anerkennen, die sie sind, indem wir sie in diese Diskussionen über die Verbesserung unseres öffentlichen Bildungssystems für jeden Schüler einbeziehen.

Andy Pallotta, Präsident der "New York State United Teachers"

Das verkannte Wesen

Das zentrale Problem bei den Zukunftsvisionen aus Silicon Valley ist die ausgesprochen eigenwillige Vorstellung über die Natur des Menschen. Dies wird frappierend deutlich, wenn beispielsweise Mark Zuckerberg erklärt, warum er derart vom digitalen Lernen überzeugt ist. Er begründet dies erstaunlich unwissenschaftlich: "Das Modell macht einfach intuitiv Sinn." Seine Überzeugung untermauert Zuckerberg gerne mit einer 37 Jahre alten Studie: Wenn ein Schüler genau auf dem Klassendurchschnitt liegt und einen Eins-zu-Eins-Unterricht erhält, steigt seine Leistung sprunghaft an.

Abgesehen, dass es Zweifel an der Aussagekraft der Studie gibt, reibt man sich aber mehr als überrascht die Augen aufgrund des offensichtlichen Denkfehlers in der zitierten Studie, denn Zuckerberg setzt den Computer, das bildschirmvermittelte algorithmische Lernen, mit der Anwesenheit eines Lehrers, eines Menschen gleich (Das Tutorensystem an den angelsächsischen Elite-Univseritäten ist berühmt für den Eins-zu-Eins-Unterricht). Leider beweist diese Aussage, wie wenig Zuckerberg von der Natur des Menschen versteht.

Der "Heilige Gral des Unterrichts"

John Hattie, ein australischen Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Auckland, ging in jahrelanger Arbeit der Frage nach, welche Faktoren das Lernen in der Schule positiv beeinflussen. Nach der Auswertung von mehr als 960 Studien mit 260 Millionen beteiligten Schülern konnte er eine erschreckend simple Erkenntnis beweisen, die alle Schüler im Lauf ihrer Schulzeit bewusst oder weniger bewusst verinnerlicht haben, die aber in den Zukunftsvisionen von Gates, Schmidt und Zuckerberg überhaupt nicht auftauchen.

Hatties Schlussfolgerung über das zentrale Element des Schulunterrichts: "Es kommt auf den guten Lehrer an. Er muss ein Klima schaffen, in dem sich Schüler trauen, Fehler zu machen. Die Rahmenbedingungen von Schule dagegen - die Schulstrukturen oder das investierte Geld - haben nur geringen Einfluss. Leider wird in der Bildungsdebatte genau umgekehrt diskutiert." Die "New York Times" taufte diese zentrale Meta-Studie zum "Heiligen Gral".

Lernen am Modell

Für Menschen, die die Implikationen insbesondere der Spiegelneuronen verstanden haben, ist das Ergebnis nicht wirklich überraschend. Lernen findet ja vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen statt. Die Spiegelneuronen spielen zudem die entscheidende neuronale Basis für das sogenannte "Lernen am Modell". Lehrer wissen dies aufgrund ihrer pädagogischen Ausbildung und Erfahrung selbstverständlich auch.

Andy Pallotta, Präsident der "New York State United Teachers", reagiert daher auf die Ankündigungen des New Yorker Gouverneurs mit deutlichen Worten:

Die NYSUT glaubt an die Erziehung des ganzen Kindes. Fernlernen, in welcher Form auch immer, wird niemals die wichtige persönliche Verbindung zwischen Lehrern und ihren Schülern ersetzen, die im Klassenzimmer aufgebaut wird und ein kritischer Teil des Lehr- und Lernprozesses ist - deshalb haben wir gesehen, wie Pädagogen während dieser Pandemie so hart daran gearbeitet haben, diese Verbindungen durch Video-Chats, Telefonanrufe und sozial entfernte persönliche Treffen aufrechtzuerhalten.

Andy Pallotta

Silicon Valley und ihre Kinder

Aber vielleicht gibt es doch einen Hinweis, dass auch in Silicon Valley ein gewisses Gespür für die Natur des Menchen verblieben ist. Betrachtet man das Verhalten der führenden Köpfe von Silicon Valley, Menschen, die sich so intensiv für digitales Lernen einsetzen, ist es erstaunlich, dass sie selber ihrer eigenen Zukunftsvision gerade nicht folgen wollen, wenn es sich um ihre eigenen Kinder handelt. Sie selbst schicken ihre Kinder auf analoge Schulen ohne Digitaltechnik. Steve Jobs verbot seinen Kindern Smartphones und Tablets. Bill und Melinda Gates reglementieren die Nutzung. Ein Smartphone gibt es erst mit 14 Jahren.

Erwähnenswert auch, dass sogar ein Experte der Messung von Schulleistungen sich gegen das digitale Lernen ausspricht. Andreas Schleicher, PISA-Koordinator der OECD, ist kategorisch: "Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt."

Betrachtet man die aktuelle Situation und die Gefahr, ein vorübergehendes Problem durch eine radikale Entscheidung wie eine "Neugestaltung der Zukunft" zu begegnen, gibt es erstaunlich wenige objektive Argumente hierfür und bedenklich viele Gegenargumente. Insbesondere diejenigen, die auf der Natur des Menschen basieren.

Steuern! Steuern! Steuern! "Zuerst Bill Gates und jetzt Eric Schmidt. Dies sind keine Leute, die für uns bestimmen sollten, wie wir New Yorkern am besten Dienste leisten können. Stattdessen sollten wir sie stärker besteuern, damit Menschen, deren Aufgabe es ist, über die staatliche Politik zu entscheiden, dies effektiver tun können", bemerkt der stellvertretender Mehrheitsführer im Staatssenat Mike Gianaris.

Der niederländische Historiker Rutger Bregman war 2019 beim Wirtschaftsforum in Davos noch deutlicher:

Hören Sie auf, über Philantropie zu reden, und fangen Sie an, über Steuern zu reden. (…) Steuern, Steuern, Steuern. Alles andere ist Unfug!

Rutger Bregman

Benutzte Bücher:
Joachim Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst.
Richard David Precht, Anna, die Schule und der liebe Gott.
Manfred Spitzer, Digitale Demenz.
Paul Verhaege, Und Ich?

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen".