Mietenstreik in Spanien geht in die nächste Phase

"Schluss mit den überhöhten Mieten", "Lassen wir die Blase platzen" - Demonstration der Mietergewerkschaft Barcelona. Bild: Ralf Streck

"In Madrid beträgt die Durchschnittsmiete etwa 600 Euro bei einem Mindestlohn von 950 Euro." Gespräch mit Fernando Bardera

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Seit dem 1. April bezahlen Wohnungsmieter, Selbstständige und kleine Gewerbetreibende die Mieten nicht mehr - oft unfreiwillig, da sie die Mieten wegen Ausfällen bei Lohn oder Einkommen nicht mehr bezahlen können. Aus der Situation, verschärft durch die Corona-Krise, hatte sich ein Streik entwickelt, der sozialdemokratischen Regierung wurden fehlende Notmaßnahmen vorgeworfen (Mietenstreik wegen Coronavirus in Spanien).

Nun soll der "Mietenstreik" in die nächste Phase gehen. Telepolis sprach mit Fernando Bardera, dem Sprecher des Sindicato de inquilinas in Madrid.

Können Sie mir die Hintergründe erklären, woher die Mietergewerkschaften kommen, die in Spanien in der Corona-Krise zum Mietenstreik ausrufen?

Fernando Bardera: Mietergewerkschaften sind ab 2017 angesichts der dramatischen Situation der Mieter entstanden. Massiv steigende Mieten führten dazu, dass Menschen aus ihren angestammten Gebieten verdrängt werden. Sie müssen oft, wie in Madrid, Barcelona, Sevilla oder Bilbao, ins Umland der Städte ziehen, womit sich auch dort die Lage zuspitzt hat. Auch dort sind die Mieten massiv gestiegen.

Anfänglich haben wir vor allem beraten. Ab 2018 gab es dann die ersten Gruppen, um den großen Fonds wie Blackstone oder wie Azora die Stirn zu bieten. Die kamen nach der geplatzten Immobilienblase ab 2008 billig an Immobilien. Sie spekulieren damit oder wollen lukrative Touristenwohnungen schaffen. In Spanien laufen Mietverträge nach drei Jahren aus und die Fonds verlängern sie oft nicht oder verlangen enorme Mieterhöhungen von bis zu 300%.

Wir haben begonnen, Mieter zu organisieren, um gemeinsam zu verhandeln oder Widerstand zu leisten.

Gibt es in Spanien keinen Mieterschutz, um solche Praktiken abzuwenden?

Fernando Bardera: Gesetze, die Mieter wie in fast allen Ländern schützen, gibt es hier nicht. Mieten können zum Beispiel unbeschränkt erhöht werden. In Madrid beträgt die Durchschnittsmiete etwa 600 Euro bei einem Mindestlohn von 950 Euro. Der Durchschnittslohn beträgt 1250 Euro. Oft müssen 70 bis 80% des Lohns für die Miete aufgebracht werden.

Die Spekulation mit Wohnungen wurde über börsennotierte "Socimis" gefördert, die keine Unternehmenssteuern bezahlen. Großen Fonds wurde darüber der rote Teppich ausgerollt. Wir haben eine Situation, dass hier geschätzt etwa drei Millionen Wohnungen leer stehen, während es eine riesige Nachfrage gibt.

Fernando Bardera

Was waren anfänglich die Forderungen der Mietergewerkschaften?

Fernando Bardera: Es ging uns vor allem darum, dass Artikel 47 der Verfassung umgesetzt wird, der allen eine würdige Wohnung garantieren und Wohnungsspekulation verhindern soll. Die Situation in der Corona-Krise zeigt nun noch deutlicher auf, dass es die Ärmsten wieder am härtesten trifft.

Ich möchte nur als Beispiel nennen, dass vor der Krise der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen (UN) für extreme Armut Spanien besuchte. Wir haben uns mit Philip Alston getroffen und ihn auf Betroffene hingewiesen. Er hat in seinem niederschmetternden Abschlussbericht (Spanien: "Die Ärmsten werden im Stich gelassen") darauf hingewiesen, dass viele Menschen trotz einer Arbeitsstelle an der Armutsschwelle waren, weil sie einen großen Teil der Einkünfte für die Miete ausgeben müssen. Alston stellte fest, dass die Wohnungsproblematik in Spanien völlig vernachlässigt worden ist.

Wie hat sich die Lage nach der letzten Krise verändert, als zahllose Menschen aus den Wohnungen geräumt wurden, weil sie ihre Kredite nicht mehr bezahlen konnten?

Fernando Bardera: Das hat sich sehr verändert. Es wird schon deshalb mehr gemietet, weil Banken einfachen Leuten keine Kredite zum Kauf einer Wohnung geben. Und wir hatten vor der Corona-Krise täglich etwa 100 Zwangsräumungen im Land - wegen nicht bezahlter Mieten. Das ist ungeheuerlich. Angemerkt sei aber, dass Familien geräumt werden, obwohl sie bezahlen wollten.

Von Vermietern wurde eine Vorgehensweise entwickelt, um Mietrückstände zu erzwingen: Überweisungen werden abgelehnt. Zahlt aber ein Mieter nur einen Monat die Miete nicht, kann er geräumt werden. Richter machen sich praktisch in solchen Verfahren nicht die Mühe, zu prüfen, wie es zum Mietausfall kam. In anderen Streitigkeiten, beim Auslaufen der Verträge wird schon etwas genauer geprüft, allerdings bei Zahlungsrückstand nicht.

Wieso rufen die Gewerkschaften nun in der Corona-Krise zum Mietenstreik auf?

Fernando Bardera: Als Mitte März der Alarmzustand dekretiert wurde, war für uns schnell eines klar: Wenn die Leute nicht mehr arbeiten können, bekommen sie kein Geld oder weniger Geld, aber ihre Ausgaben laufen weiter. Breite Schichten, die gerade so über die Runde kamen, nichts sparen konnten, kommen schnell in Bedrängnis. Das zentrale Problem ist die Wohnung.

Wir haben der Regierung ein Maßnahmenpaket vorgeschlagen, in dem die Aussetzung der Mietzahlungen genauso enthalten war wie die Einführung eines Grundeinkommens. Die Leute brauchen ihr Geld jetzt für Lebensmittel, Medikamente und andere lebenswichtige Dinge. Die, die viele Wohnungen besitzen, können auf die Zahlungen temporär verzichten und einen Beitrag zur Bewältigung des Notstands leisten. Die Regierung hat unsere Vorschläge aber nicht beachtet.

Welche Hilfsmaßnahmen wurden beschlossen?

Fernando Bardera: Im Dekret wurden drei Maßnahmen bestimmt, die wir für unangebracht halten. Es ist zwar nicht schlecht, auslaufende Verträge im Alarmzustand zu verlängern, doch durch einen Fehler fielen viele Betroffene raus. Das Moratorium für Räumungen im Alarmzustand ist eine Lüge, denn sie werden nur um sechs Monate verschoben.

Die dritte Maßnahme ist die schlechteste. Statt von denen, die ohnehin viel haben, wenigstens einen Mietnachlass zu verlangen, bekommen Mieter nur einen Kredit, um der Rentenökonomie die vollen Gewinne zu sichern. Statt denen etwas abzuverlangen, die keine Probleme haben, sollen sich die Familien über Jahre verschulden.

Das halten wir in einem Sozialstaat für unwürdig, weshalb wir zum Streik aufgerufen haben. Wir wussten ohnehin, dass schon im April viele ihre Mieten nicht mehr bezahlen können.

Wir haben diese Situation in einen Mietstreik umgestaltet, um daraus ein kollektives politisches Problem zu machen. Es gibt sogar Leute, die ihre Miete zahlen können, die sich aber solidarisch dem Streik angeschlossen haben, um den politischen Druck auf die Regierung zu erhöhen, schlüssige Maßnahmen zu ergreifen.

Wie entwickelt sich der Streik?

Fernando Bardera: Auf unserer Webseite haben sich aktiv etwa 20.000 Menschen gemeldet. Wir bilden nun Streikgruppen in Gebieten und Sektoren. Die Komitees bilden sich langsam aber sicher und es gibt schon mehr als 100 davon. Es geht auch um die Mieten von kleinen Gewerbetreibenden, Selbstständigen, Bars… die ja auch nicht mehr bezahlen können.

Wir gehen davon aus, dass die Beteiligung Monat für Monat zunimmt. Dass Spanien in der Frage in Europa hervorsticht, ist sicher kein Verdienst von uns. Es ist vielmehr das Ergebnis davon, dass die Lage hier besonders schlecht ist. Allerdings ziehen andere nach, so haben auch Initiativen in New York zum Mietenstreik aufgerufen und wir stehen in Kontakt zueinander.

Glauben Sie, dass die Regierung aus Sozialdemokraten und der Linkskoalition Unidas Podemos (UP) auf die Forderungen hin Maßnahmen ergreift, die den einfachen Leuten wirklich helfen?

Fernando Bardera: Wir sind uns da nicht sicher. Es gibt zwar einigen Druck, aber wir haben bisher keine Neuigkeiten, stehen aber im Kontakt. Die Gesundheitsfrage hat bisher praktisch alles zur Seite gedrängt. Aber da in dem Maße, wie wir wieder auf die Straße gehen können, deutlich wird, dass der Streik anhält, wird sich die Lage verändern.

Wir wissen auch, dass eigentlich noch viel schlechtere Maßnahmen mit dem Dekret zum Alarmzustand geplant waren. Wirtschaftsministerin Nadia Calviño hatte sich stark sogar gegen die schwachen Maßnahmen gestellt.

Hätte man aber von einer Linksregierung unter Beteiligung von UP nicht etwas mehr erwarten können?

Fernando Bardera: Natürlich hätten wir uns mehr erwartet. Es ist wohl so, dass denen, die uns näherstehen, die Hände zittern, wenn sie in Machtpositionen sind. Klar ist aber auch, dass die Lage noch viel schlechter wäre, wenn wir in dieser Situation eine Rechtsregierung hätten.

Wir wissen, dass das, was erreicht wurde, über UP gegen den Widerstand von Calviño erreicht wurde. Meine persönliche Meinung ist, dass UP zwar im Kabinett Druck ausübt, aber gleichzeitig auch das Bündnis nicht in Frage stellen und Stabilität garantieren will. Schließlich gibt es auch massiven Druck der Opposition und deren Position, die Regierung zu zerstören, will UP nicht fördern.