Von der Organmedizin zur Virusmedizin

Zur politischen Ökonomie der Corona-Krise

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1. Nicht wieder zu erkennen: Die Mediziner als Protestpotential

Wer vielleicht schon Jahrzehnte mit dem (west-)deutschen Gesundheitswesen befasst war oder noch befasst ist, musste sich in den zurückliegenden Monaten gesundheits- und gesellschaftspolitisch die Augen reiben.

Bis in die frühen 1970er Jahre war vor allem die freiberufliche niedergelassene Ärzteschaft in West-Deutschland eine uneinnehmbare Trutzburg gegen jegliche Infragestellung des restaurativen Adenauerstaates und seines spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkrieges obsolet gewordenen Organmedizin-Gesundheitswesens.

Im Verlaufe der Corona-Krise zeigt sich hier die Lage grundlegend verändert. Nicht nur in Deutschland und Europa, sondern international wächst die Kritik am Corona-Dogma und den damit begründeten Corona-"Ermächtigungen". Es wäre kurzschlüssig und unzutreffend, diese Kritik aus der Ärzteschaft und aus dem Medizinbereich als puren Konkurrenzkampf zwischen zwei Sektoren, der ärztlichen Medizin und der Pharmazeutischen Industrie, zu erklären. Die 1972 von der hier schon mehrfach zitierten Münchner Studiengruppe für Sozialforschung e.V. vorgetragenen Bedenken gegenüber den destruktiven Wirkungen zunehmender pharmakologischer "Lösungen" für die Struktur- und Funktionsmängel des seinerzeitigen (west-) deutschen Gesundheitssystems hatten damals politisch noch keine Chance.1 In späteren Jahren wurden sie jedoch praktisch mit vollzogen.2

2. Gewinner von Kriegen und Besatzung: Organmedizin und Pharmakotherapie

Die für die 1970er Jahre noch diagnostizierte wechselseitige Stabilisierung von obsolet gewordener Organmedizin und expansiver Pharmakotherapie stellte zusammen mit der im Ersten Weltkrieg dominierenden Lazarett(Wund)-Medizin und der im Dritten Reich durchgesetzten Erbgesundheits-Medizin und Rassen-Hygiene sowie der im Zweiten Weltkrieg unabweisbaren Schlachtfeld- und Bombenkriegs-Medizin eine unüberwindbare Barriere für die Etablierung der in anderen kapitalistischen Staaten, etwa in Großbritannien oder in den USA, sich entwickelnden Präventiv- und Sozialmedizin in den Weg.

Nicht vergessen werden darf auch, dass zahlreiche der führenden Theoretiker und Praktiker einer psychosomatisch-sozialepidemiologisch orientierten Medizin nach 1933 ins Exil gegangen sind und damit für die gesundheitliche Versorgung auch im Nachkriegsdeutschland verloren waren.3

Besonders verheerend für die Entwicklung eines zeitgemäßen Krankheitsparadigmas und dessen Übernahme durch die Bevölkerung Westdeutschlands war das politische Bündnis zwischen dem Adenauerflügel der Bonner Parteienlandschaft und den Ärzteverbänden bzw. den wieder erstandenen Kassenärztlichen Vereinigungen. Die Regierungspolitik vereinnahmte die Ärzteschaft durch die Statuierung ihres alleinigen "Sicherstellungsauftrages" für die ambulante ärztliche Versorgung. Von dieser waren damit dann vor allem die Krankenhäuser, die Werksärzte und die Arbeiterkrankenkassen ausgeschlossen.4

Der sich dadurch dramatisierende Mangel an Arztpraxen in den Landgebieten und in den Arbeitervierteln wurde allerdings auch für die Kassenärztlichen Vereinigungen zu einem ernsten Problem.

Die letzten Reste eines sozialmedizinischen und epidemiologischen Begreifens von Krankheit und Gesundheit wurden durch die von Norbert Blüm zu verantwortende Einrichtung einer gesonderten Pflegeversicherung zur Kosten sparenden Abdrängung von Alterspatientinnen und Alterspatienten aus der Gesetzlichen Krankenversicherung und zur Verbesserung der Profitabilität der Krankenhäuser ausgemerzt.5

Die vor allem von Gerhard Schröder und seiner Gesundheitsgehilfin Ulla Schmidt durchgepresste Umstellung der Krankenhausfinanzierung auf behandlungsfallspezifische Pauschalen reduzierte zuletzt eine vormals noch in vielen Krankenhäusern verfolgte zwar paternalistische, aber auch humanitäre "soziale" Behandlung und Pflege. Die gegenwärtig beklagte massenhafte Schließung geburtshilflicher und kinderheilkundlicher Fachabteilungen wegen zu niedriger Pauschalentgelte spricht hier Bände (Krankenhäuser-Schließungen: Die alte Rot-Grün-Politik wird von der neuen GroKo fortgesetzt).

Eine letzte Chance, die organmedizinisch festgefahrene, allerdings höchst profitable, Gesundheitsversorgung in West-Deutschland sozialmedizinisch zu modernisieren, hatte nach der "Wiedervereinigung" bestanden. Das Gesundheitswesen in der vormaligen Deutschen Demokratischen Republik war deutlich sozialmedizinischer und präventiver angelegt als das der Bundesrepublik Deutschland.6 Diese Chance wurde, entsprechend der generellen "Kolonisierungspolitik" via Wiedervereinigung ausgeschlagen. Vielmehr wurden die ostdeutschen Gesundheitsstrukturen weitgehend zerschlagen.

Kein Wunder also, wenn die Leute nicht aus selbst verschuldeter Dummheit, sondern wegen "strukturell-funktioneller" Verdummung beim Stichwort "Virus" in Panik geraten. Infolge ihrer organmedizinischen Bevormundung und Gläubigkeit können sie mehrheitlich gar nicht auf den Gedanken kommen, dass vielleicht die Daten des zum Regierungsapparat zählenden Robert Koch-Instituts (RKI) ohne jegliche Beziehung zur jeweiligen regionalen, sozialen, gendermäßigen, demographischen und epidemiologischen Situation bestenfalls dummes Zeug oder vielleicht sogar politiknahe Heimtücke sind.

Im Falle der von Politik, RKI und Medien aufgebauschten Schreckensbilder und Schreckenszahlen zur Panikstartrampe Bergamo hätte der durchschnittliche Norditalienurlauber sich eigentlich erinnern können, dass in dieser Region eher belastende Klima- und Umweltverhältnisse herrschen. Die Po-Ebene, an deren Rand Bergamo liegt, gilt als durch Smog besonders belastet. Die wichtigsten Teile der Altstadt von Bergamo, die so genannte "Oberstadt", sind daher schon vor Jahrhunderten auf einem besser belüfteten Hügel errichtet worden.

Wenn das Robert Koch-Institut, wie es behauptet, tatsächlich "selbständig" die "Gesundheit der Gesamtbevölkerung" beobachten und nicht nur die Vorgaben der ihm vorgeordneten jeweiligen Gesundheitsminister exekutieren würde, dann hätte es zunächst die epidemiologischen Rahmenbedingungen in Norditalien, in der Region Lombardei und speziell in der Provinz Bergamo vergleichend betrachten und bewerten müssen.

Das RKI hätte nur lesen und abschreiben brauchen. Im Internet ist ein deutschsprachiger Atlas zur Gesundheitlichen Lage der Männer und der Frauen in Italien verfügbar. Aus ihm ist für zahlreiche der ausgewerteten Indikatoren die eher kritische Gesundheitssituation in Norditalien, d.h. auch für Bergamo, ableitbar.7

3. Kurative Organmedizin: Quelle infantiler Angst

Die kurative Organmedizin war der scheinbare Sieg der Medizin über die Epidemien des industriell-urbanistischen Freihandelskapitalismus des achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts. Vor allem in England zeichneten sich die Arbeiter- und Unterschichtviertel durch jegliches Fehlen öffentlicher Hygiene, dafür aber Schmutz und Fäulnis aus. Epidemien wie Cholera, Typhus, Pocken etc. waren die regelmäßige Folge. Friedrich Engels schildert diese Verhältnisse in seinem 1855 erschienen Werk "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" eindringlich.

Engels weist auch darauf hin, dass die britische Oberschicht daher schon aus Selbsterhaltungstrieb in den großen Städten eine Kanalisation eingeführt und verbesserte, breitere Straßen angelegt oder durchgesetzt hat etc.8

Hans Kilian stellt 1970 den Wandel des Medizin-Paradigmas im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung dar9 und fundiert damit die Anstrengungen der beiden Folgejahrzehnte zur Durchsetzung einer Sozialmedizin gegenüber der in West-Deutschland hegemonialen Organmedizin. Kilian anerkennt die Erfolge der Organmedizin gegenüber den industriegesellschaftlich-konkurrenzkapitalistischen Infektionskrankheiten. Gleichzeitig hebt er hervor, dass die neuen Epidemien der tertiärwirtschaftlich-oligopolkapitalistischen Phase "gesellschaftlich vermittelte Störungen", "soziogene Morbidität" seien.

Die naturwissenschaftliche Medizin ist inmitten ihres Siegeslaufes vom sozialstrukturellen Wandel…der menschlichen Krankheiten überholt worden. Dennoch hält die Humanmedizin im großen und ganzen an einer Ausschließlichkeit naturwissenschaftlicher Modellvorstellungen und Methoden fest, die sich hinsichtlich ihrer Grundlagen in keiner Weise von denen der Veterinärmedizin unterscheiden.

Hans Kilian

Dass für diese Blockade eines souveränen Gesundheits- und Krankheitsverstehens großpolitische Ereignisse wie die beiden Weltkriege, staatspolitische Entwicklungen wie die Rassenpolitik, die Nachkriegszeit und die "Wiedervereinigung" und zuletzt die Gewinn fördernden Gesundheits- und Sozial-"Reformen" wesentlich waren, wurde dargestellt. Umso krasser erscheint die Angst in weiten Teilen der Bevölkerung vor der von den Medien ungehemmt aufgebauschten "Virus-Epidemie" und gegenüber den von der Politik praktizierten Eingriffen in das Wirtschaftsgeschehen und das Alltagsleben unter dem Deckmantel sozialstaatlicher Gesundheitsvorsorge.

In einer Textsammlung aus den frühen siebziger Jahren, als sich sowohl bei den offiziellen Ärztetagen die kritischen Stimmen mehrten und sich gleichzeitig auch die Gesellschaftswissenschaften dem Gesundheitswesen zuwandten, findet sich die überzeugende These, dass die Organmedizin ihre Patientinnen und Patienten infantilisiere und diszipliniere und vor allem mit dem Faktor "Angst" agiere.10 Der Sozialwissenschaftler Horst Baier charakterisiert den Krankheitsbegriff der Organmedizin treffend als "naturhaft, zufällig und willensunabhängig" - kurzum "Angst" erzeugend.11

In der Tat unterläuft die politisch und medial instrumentalisierte und propagierte Virus-Panik gerade in Deutschland trotz des vergleichsweise hohen allgemeinen Bildungsstandes, der sich etwa auch in der verbreiteten Zustimmung zu einer vorsorgenden Klimapolitik zeigt, die intellektuell-mentale Schranke mühelos: Jahrzehntelang dogmatisiertes und potenziertes organmedizinisches Bewusstsein hat offenbar eine "Achillesferse" im Denken und Verhalten geschaffen, die nun vor allem von der Regierungs- und Parteipolitik sowie von einflussreichen Interessengruppen erkannt und genutzt wird.

4. Regionalepidemiologie: Strategie gegen die Virusmedizin des Finanz- und Digitalkapitalismus

In der Literatur wird plausibel dargelegt, dass die Organmedizin ihre Leistungsfähigkeit in der Phase des Konkurrenzkapitalismus mit seinen überquellenden Industriestädten und Arbeiter- und Unterschichtvierteln zeigte. In Deutschland haben Weltkriege, Rassenpolitik, Kalter Krieg, Sozial-"Reformen", "Wiedervereinigung" und Neoliberalismus diese Organmedizin dann aber auch nach ihrer Obsoleszens weiter in das Breitenbewusstsein eingebrannt.

Man könnte nun vereinfacht sagen: Die sich seit mehreren angeblichen Epidemien bzw. Pandemien global etablierende, pharmakologisch dominierte Medizin ist, im Zusammenspiel mit den Überwachungsinteressen von Staaten, das geradezu passgenaue Medizin-Paradigma eines weltweiten Finanz- und Digitalkapitalismus. Sie ermöglicht ohne große Investitionen in Gesundheitsinfrastruktur und Lohnkosten für Medizinpersonal grenzenlose und unbegrenzte Gewinne aus verpflichteten oder verängstigten Patientenschaften.12

Ein Gegenkonzept zur organmedizinisch-virusmedizinischen Hegemonie wurde aber bereits in den 1970ger Jahren entwickelt. Damals wurden sowohl für die ambulante medizinische Versorgung durch Kassenärzte wie für die stationäre medizinische Versorgung durch Krankenhäuser wegen deren offenkundiger Defizite vor allem in der Flächendeckung "Bedarfsplanungen" bundesgesetzlich vorgeschrieben.

Die in Telepolis häufiger erwähnte Münchner Studiengruppe für Sozialforschung e.V. entwickelte im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung 1977 ein Bedarfsplanungskonzept für die Kassenarztversorgung, das ausdrücklich "bestandsflexible Schreibweisen" für die Feststellung des Bedarfes an ambulanter ärztlicher Versorgung forderte. Es sollte nicht nur festgestellt werden, ob in einer Gebietseinheit gemessen an Durchschnittswerten zu wenige oder zu viele Kassenärzte tätig sind, sondern es sollte geklärt werden, ob und wie viele Kassenärzte in einer Gebietseinheit überhaupt gebraucht werden.13

Die Messgröße Kassenarztsitz als dem damaligen Inbegriff organmedizinischer Versorgung wurde nicht mehr als unabhängige Größe der Bedarfsplanung, sondern nur noch als abhängige Größe der jeweiligen Regionalepidemiologie aufgefasst. Mit diesem Konzept führte das Institut dann mehrere Jahre bundesweit ein Begutachtungsprogramm für kleinere Städte und Gemeinden durch, die im Rahmen der Kassenarztbedarfsplanung eine Verbesserung ihrer Gesundheitsversorgung beantragen wollten.

Im Bereich der etwa zeitgleich mit der Kassenarzt-Bedarfsplanung in Gang gekommenen Krankenhaus-Bedarfsplanung griff das genannte Münchner Institut ebenfalls auf sein schon erprobtes Konzept einer "bestandsflexiblen" Planungsmethode zurück. In einem sich über drei Jahrzehnte erstreckenden Begutachtungs- und Beratungsprogramm zunächst für kleinere und abgelegenere, später auch für größere und weit reichendere Krankenhäuser und Gruppen von Krankenhäusern fundierte die Studiengruppe für Sozialforschung e.V. ihre Gutachten und Vorschläge mit eingehenden Untersuchungen der Regionalepidemiologie in den jeweiligen Versorgungsräumen. Erst wenn der regionale Bedarf an medizinischer, insbesondere stationärer Versorgung überhaupt geklärt war, wurde untersucht, durch welche Fachgebiete und Standorte von Krankenhäusern dieser Bedarf gedeckt werden sollte.14

Das Grundkonzept dieser auf Regionalepidemiologie aufbauenden Verbesserung der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung von einzelnen Gebieten war die strikte Vermeidung einer so genannten "bestandsabgeleiteten Bedarfsplanung"15, die keine Loslösung der Gesundheitsinfrastruktur von den Vorgaben der organmedizinischen Versorgung, sondern lediglich deren Verfestigung bewirke.

Im Verlaufe der so genannten Corona-Krise gibt es mittlerweile immerhin eine Diskussion zum Thema, ob und warum in Regionen mit schlechteren Gegebenheiten in Lebensverhältnissen und Umweltbedingungen höhere, selbst übrigens fragwürdige, Infektionszahlen und Infektionsraten festgestellt werden als in besser gestellten Regionen.16

Es gibt auch das Phänomen von Regionen mit auffallend niedrigeren Infektionszahlen und Infektionsraten wie etwa die ostdeutschen Bundesländer - mit Ausnahme Berlins. Dafür wird u.a. die Erklärung in einer geringeren Siedlungsdichte sowie alters- und einkommensbedingt schwächeren Mobilität gesucht.

Das Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demographischen Wandels hat 2019 eine Untersuchung veröffentlicht, "dass und wie eine mäßige oder schlechte Qualität der Infrastruktur, der Umwelt und auch der Wohnbedingungen sowohl kurz- als auch langfristige negative Auswirkungen auf die Gesundheit hat".17