Datenschutz und die Rhetorik des gewollten Irrtums

Bild: schmucki/Pixabay.com

Weshalb die meisten Medien nicht über die datenschutzrechtliche Brisanz des zweiten Pandemiegesetzes berichtet haben

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Während seiner Tätigkeit als Experte für Brandverhütung machte der US-amerikanische Chemieingenieur und Linguist Benjamin Lee Whorf in den 1920ern folgende Beobachtung: In einem Lager für sog. Benzintonnen verhielten sich Arbeiter in der Nähe jener Benzintonnen, die mit der Aufschrift "leer" gekennzeichnet waren, unvorsichtig, weil sie nicht damit rechneten, dass sich in ihnen explosive Dämpfe befinden könnten. Das Wort "leer" hatte sie dazu verführt, sich in falscher Sicherheit zu wiegen.

Wer sich in diesen Tagen fragt, weshalb die meisten Medien nicht über den datenschutzrechtlich brisanten Inhalt des kürzlich beschlossenen zweiten Pandemiegesetzes berichtet haben, mag folgende Möglichkeit in Betracht ziehen: Sie haben ähnlich wie die eben genannten Arbeiter den Inhalt nicht als brisant wahrgenommen - obwohl er es ohne Zweifel war:

Gegen den Protest des Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber (Datenerfassung von Gesunden: Lambrecht gegen Kelber) hat der Bundestag am 14. Mai eine Meldepflicht für nicht- infizierte Bürger nach erfolgter negativer Testung auf SARS-CoV und SARS-CoV-2 beschlossen. Die bundesweite Datenerfassung von gesunden Bürgern, die ja niemanden anstecken, umfasst dabei eine Vielzahl personenbezogener Daten wie Geschlecht, Geburtsmonat, Geburtsjahr, Wohnort, Untersuchungsbefund einschließlich Typisierungsergebnissen und Grund der Untersuchung. Pseudonymisiert wird der Name.1

Mit welcher "Aufschrift", um an Whorfs Beispiel anzuknüpfen, könnte eine solch datenschutzrechtlich bedenkliche Regelung versehen worden sein, um bei so vielen Journalisten den Eindruck zu erwecken, die Meldepflicht für Nicht-Infizierte habe keinen besonderen Nachrichtenwert und verdiene deshalb über ihre bloße Erwähnung hinaus keine mediale Aufmerksamkeit? Die Antwort liefert der folgende Ausschnitt eines ZDF-Berichts (Stand: 26.05.2020):

"Die Labore müssen künftig auch negative Testergebnisse melden. Außerdem müssen Gesundheitsämter übermitteln, wenn jemand als geheilt gilt. Teil des Meldewesens ist künftig auch, wo sich jemand wahrscheinlich angesteckt hat. Die Daten werden anonymisiert an das Robert-Koch-Institut übermittelt."

Tatsächlich berichteten neben dem ZDF auch die ARD, die Deutsche Welle, die FAZ und viele andere Medien, dass die Daten "anonymisiert" an das Robert-Koch-Institut übermittelt werden. Nur die Süddeutsche hat ihre Berichterstattung diesbezüglich korrigiert.

Bleibt die nicht unwichtige Frage, woher die Meldung ursprünglich stammt. Sowohl die Formulierungshilfe zum Gesetz als auch der später beschlossene Gesetzentwurf selbst sehen ja bei der Meldepflicht für Nicht-Infizierte keine anonymisierte, sondern eine pseudonymisierte, also personenbezogene Datenweitergabe vor. Eine kleine Spurensuche führt zu einer inzwischen gelöschten, den Gesetzentwurf betreffenden Pressemitteilung des Bundesgesundheitsministeriums vom 29. 04. 2020:

Screenshot der gelöschte Pressemitteilung des Bundesgesundheitsministeriums vom 29. April (Webarchive). Die Textpassage ist nachträglich hervorgehoben.

Der Irrtum, die Daten nicht-infizierter Bürger würden nach erfolgter Testung anonymisiert weitergeleitet, wird nun dadurch verstärkt, dass der gesamte Absatz, der mit der Information über die Anonymisierung der Daten abschließt, in Abgrenzung zu dem darauf folgenden Absatz der Mitteilung steht, in dem dann nämlich eine Pseudonymisierung von Daten ausdrücklich genannt wird, allerdings in Bezug auf eine andere Gesetzesregelung, die dem Robert-Koch-Institut unter bestimmten Umständen erlaubt, einzelfallbezogen zusätzliche Daten anzufordern.

Auch die aktuelle Mitteilung des Bundesgesundheitsministeriums über die künftigen Meldepflichten erweckt den Eindruck, es handle sich um eine anonymisierte Weitergabe von negativen Testergebnissen:

Die Labore müssen künftig auch negative Testergebnisse melden. Teil des Meldewesens ist künftig auch, wo sich jemand wahrscheinlich angesteckt hat. Die Daten werden anonymisiert an das RKI übermittelt.

BMG (Stand: 26.05.2020)

Irrtumsverstärkend wirkt sich schließlich auch folgender rhetorischer Kunstgriff aus: Dem Begriff "anonymisiert" entsprechend wird die personenbezogene Meldepflicht für Nicht-Infizierte depersonifiziert als Meldung von "negativen Testergebnissen" bezeichnet - ein Ausdruck, der gleichzeitig als rhetorisch genutzter Pars-pro-toto-Fehlschluss den Irrtum forciert, es handle sich ausschließlich um die bloße Weitergabe von Testergebnissen. Dabei ist das der geringste Teil der neuen Meldepflicht für Nicht-Infizierte. Der datenschutzrechtlich bedenkliche personenbezogene Teil, der, weil er einen nicht gerechtfertigten Grundrechtseingriff darstellt, eine kontroverse Debatte hätte auslösen können, bleibt sprachlich ausgespart und damit außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung.

Dies mag auch die folgende, dem Internetauftritt der Bundesregierung entnommene Formulierung verdeutlichen, in der nur von der Weitergabe einer bloßen "Zahl" die Rede ist:

Screenshot der aktuellen Meldung der Bundesregierung. Die Textpassage ist nachträglich hervorgehoben.

Im Unterschied zu dem von Whorf angeführten Benzintonnenbeispiel ist der Irrtum über das hohe Datenschutzniveau der Datenerfassung von Nicht-Infizierten rhetorisch herbeigeführt worden. Das ist nicht das erste Mal, dass es professioneller Regierungskommunikation in der gegenwärtigen Krisensituation gelingt, durch die Anwendung rhetorischer Kunstgriffe die bloße Pseudonymisierung von Gesundheitsdaten als faktische Anonymisierung darzustellen. Und es ist auch nicht das erste Mal, dass die rhetorische Einladung zum Irrtum unvorsichtigerweise angenommen wird (Datenspende-App: Datenschutz als rhetorischer Spielball).

Dabei ist die von Whorf in seinen berühmten sprachphilosphischen Betrachtungen "Sprache-Denken-Wirklichkeit" dargelegte Abhängigkeit des Denkens von sprachlichen Strukturen (Sapir-Whorf-Hypothese) nicht im Sinne eines deterministischen Verhältnisses zu verstehen. Das gilt auch für den Einfluss politischer Rhetorik, dem man nicht hilflos ausgesetzt ist. Solange Journalisten aber die Professionalität moderner Regierungskommunikation immer wieder unterschätzen, werden sie auch immer wieder Gefahr laufen, dass ihre Berichterstattung für politische Zwecke instrumentalisiert werden kann.