Querfront in Corona-Zeiten?

Demo auf dem Alexanderplatz in Berlin am 16. Mai. Bild: Leonhard Lenz/CC0

Ein Email-Austausch zwischen zwei alten weißen Männern über linke Positionen und geistige Ver[w]irrung in Zeiten von Corona

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(Matthias Reichelt [M.R.]) Anlässlich der Proteste gegen die Einschränkungen demokratischer Bürgerrechte im Rahmen der Corona-Maßnahmen wird in den hegemonialen Medien behauptet, es gäbe eine Querfront von Linken bis hin zu Rechten und Neofaschisten. Ganz banal gefragt, stimmt das überhaupt?

Gerhard Hanloser: Das wird regional sehr unterschiedlich sein. Ich habe mir drei Versammlungen vor der Volksbühne in Berlin angeguckt. Dort ging der Protest von eigentümlichen Künstlern aus, deren Position zwischen Linksradikalismus und Linksliberalismus pendelt. Deren Aufrufe und deren Kampagnenzeitung "Demokratischer Widerstand" sind eindeutig nicht rechts, sondern grenzen sich in jeder Ausgabe von Rechtsradikalen ab.

Spätestens am 1. Mai traten massiv organisierte und unorganisierte Rechte auf, auch Hooligans, die sich allerdings eher beim Alexanderplatz versammelten. Gleichzeitig wurden die Proteste von einem großen Aufgebot tatsächlich verschwörungstheoretischer Medienunternehmer und rechtsradikaler Medienkanäle affirmativ begleitet. Linke waren von Anfang an nach meiner Beobachtung eher marginal vertreten.

Viel interessanter ist, dass sich ein ideologisch wie sozial bunter Mix von Leuten dort einfand, der sich überhaupt nicht auf den ideologischen Begriff der "Querfront" bringen lässt: Ein Pizzalieferant stellte am 18. Mai den Versammelten 30 Pizzen zur Verfügung, vielleicht Ausdruck davon, dass einige Kleingewerbetreibende mit den Maßnahmen des Lockdown nicht einverstanden sind und dagegen protestierten.

Dann gibt es die oft esoterisch angehauchten Impfgegner*innen und -kritiker*innen, die in der Mehrzahl nicht nach rechts tendieren, sondern eher unpolitisch anthroposophisch eingestellt sind oder einen Gutteil auch die Grünen-Basis stellen. Ich fühlte mich teilweise an die historischen Beschreibungen von den Inflationsheiligen und "Barfüßigen Propheten" aus den frühen 1920er Jahren erinnert. Mehr oder weniger artikulierten die meisten, mit denen ich sprach, zum einen ein großes Freiheitsbedürfnis nach Wochen der verordneten physischen Distanz, zum anderen eine Empörung über die ihrer Meinung nach kontraproduktiven und sozial wie gesundheitlich schädlichen Lockdown-Maßnahmen.

Alle hatten den starken Eindruck einer gelenkten Berichterstattung und eines Meinungskorridors der Mainstreammedien, die Gegenstimmen nicht zulassen oder lediglich einem herablassenden "Faktencheck" unterziehen. Damit haben sie ja nicht unrecht. Denn es gibt in der Tat die angepassten, eher linksliberal eingestellten Medienschaffenden. In einem Zeit-Dossier werden abweichende medizinische Stimmen und paranoid-verschwörungsideologische Personen gleichermaßen unter Verschwörungstheorie rubriziert. Spiegel TV, Tagesspiegel und andere große Medien setzten nur die Rechten, Spinner und Paranoiden auf den Demonstrationen ins Bild und verzerrten so die Wirklichkeit der Proteste.

Das folgt allerdings keiner Agenda oder Medienverschwörung, sondern diese medienschaffenden Leute entstammen einem sozialen Milieu, das nur sieht, was es sehen will, und Straßenprotesten sowieso etwas angewidert begegnet.

Die gute politische Mitte ist nicht "quer", sondern steht hoch (soll sich also an Autoritäten orientieren) und sie verläuft parallel (zu dem, was vom Mainstream verkündet wird)

(M.R.) Mit "verschwörungstheoretischer Medienunternehmer" meinst Du wahrscheinlich Ken Jebsen und das von ihm betriebene Internet-Portal KenFM? Welche "rechtsradikalen Medienkanäle" meinst Du?

Gerhard Hanloser: Richtig, Ken Jebsen ist nicht nur ein narzisstischer Medienunternehmer, sondern wenn man etliche Beiträge und Interviewfragen von ihm betrachtet, wird deutlich, dass er nationalistisch argumentiert, er redet schneller, als er denkt - man kann also wunderbar hören und beobachten, wie es aus ihm denkt. Und das ist vorurteilsbefrachtet, autoritär rebellisch und manipulativ.

Ansonsten war ja dieser den Holocaust leugnende "Volkslehrer" präsent und etliche andere Kanäle, also hier kann man den Rechercheleistungen der Antifa wie den offiziellen Medien durchaus trauen. Nicht trauen sollte man ihren Begrifflichkeiten, die meist ja schon vor dem Beobachten feststehen, die Markierung "Querfront" beispielsweise. Historisch war Querfront vor dem Durchmarsch Hitlers an die Macht der Versuch von Reichskanzler Kurt von Schleicher, rechte nationalistische Teile der Sozialdemokratie, die "nationalen Sozialisten" der SA um die Brüder Strasser und die Reichswehr für ein autoritäres Regime zusammenzutrommeln. Der Begriff verweist also historisch auf ein halbdiktatorisches Staatsprojekt unterschiedlicher Kräfte - das noch dazu gescheitert ist.

Nun wird der Begriff, wie bereits 2015 anlässlich der friedensbewegten Montagsmahnwachen, bei der sich rechte, verwirrte wie sich links fühlende Kräfte zusammenfanden, wieder gegen ein schwer zu greifendes Phänomen in klar denunziatorischer und polemischer Absicht in Anschlag gebracht. Der Begriff ist aktuell die journalistische Entsprechung der Extremismusdoktrin: Der gefährliche Mob komme von ganz links und rechts. Der Begriff hat auch in seiner Semantik der politischen Raumordnung Aufforderungscharakter: Die gute politische Mitte ist nicht "quer", sondern steht hoch (soll sich also an Autoritäten orientieren) und sie verläuft parallel (zu dem, was vom Mainstream verkündet wird).

Wie bereits die Montagsmahnwachen stellen diese Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen eine Bewegung von unten dar, sind ein ziviler Protest, den man inhaltlich falsch, irrational und für Rechtsradikale offen finden kann, aber er tendiert nur insofern auf ein autoritäres Staatsprojekt, wie die AfD diese Proteste kapern kann.

(M.R.) Lass mich nochmal auf KenFM zurückkehren. Deiner Beschreibung kann ich nur zustimmen, ich finde Ken Jebsens Art auch immer ziemlich unerträglich, extrem narzisstisch und eigentlich auch gerade bei Interviews unjournalistisch, weil er den Interviewten vorgegebene Positionen in Fragen gekleidet vorgibt. Den Vorwurf des Antisemitismus konnte ich nie so richtig verifizieren - übrigens hat ihn damals auch der RBB gegenüber Broders Vorwurf, er wäre ein "Holocaustleugner" verteidigt - , auch wenn er sich in seiner schnellen Plapperei in der Wortwahl oft vergriffen hat und ihm problematische Formulierungen entweichen.

Nichtdestotrotz habe ich Gespräche, Debatten und Kommentare (soweit ich mich erinnere immer von anderen) auf KenFM in meinem Infobrief "dit und dat" verlinkt. Eugen Drewermann konnte sich anderthalb Stunden episch lang gegen die Militarisierung und den Kriegskurs der NATO positionieren. Auch die Gespräche mit Moshe Zuckermann, Daniela Dahn etc. waren interessant. Also, das Verweisen auf solche Programmpunkte habe ich immer im Wissen darum getan, dass es kein Organ, Internetportal, aber auch nicht die Junge Welt, das Neue Deutschland, Rubikon oder ähnliches, gibt, schon gar nicht die bürgerlichen Medien, die hegemonialen Zeitungen und der öffentlich-rechtlicher Rundfunk, mit denen ich völlig übereinstimmen würde.

Jetzt allerdings scheint Ken Jebsen vollkommen mit der Projektion einer Bill-und-Melinda-Gates-Weltverschwörung ins Lager der Spinner abzudriften. Das furchtbare Resultat daraus, das ist nun als Thema der Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt und damit fast schon verbrannt. Denn natürlich muss die Gates-Stiftung als Lobbyist und ihr starker Einfluss, ihre Zusammenarbeit mit Monsanto, mit Pharma-Konzernen, Gegenstand kritischer Untersuchung sein, aber durch dieses Verschwörungsgeraune ist das fast unmöglich geworden, denn bei jeder Debatte wird einem vorher die Distanzierung abverlangt.

Diese Markierungen von Themen als NO GO betrifft ja viele Debatten und diese Methode finden wir ja auch bei dem Thema Israel/ Palästinenser, Antisemitismus, Terrorismus, 9/11, ja auch selbst die Kennedy-Ermordung und natürlich das Verhältnis zu Russland und die angebliche Bedrohung Europas. Ganz neu ist jetzt China. Ich habe den Eindruck, hier werden Themen markiert mit bestimmten Positionen, die nicht mehr hinterfragt werden sollen.

"Haltet-den-Dieb-Mentalität, pseudorebellisches Anklagen einer Minderheit und stereotypisiertes Denken

Gerhard Hanloser: Ich würde gerne ein bisschen theoretischer über die aktuellen Phänomene sprechen. Gerne auch über den Antisemitismus als aktuelle Bedrohung und als Chimäre gleichermaßen.

(M.R.) Du hattest ja bereits 2003 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Krise und Antisemitismus". Tragen dessen Thesen auch angesichts der Coronakrise?

Gerhard Hanloser: Natürlich ist von einer gesteigerten Durchsetzungsfähigkeit des Antisemitismus als Feindschaftskonstrukt in Krisenzeiten auszugehen. Der moderne Antisemitismus ist ja von Verschwörungsideologie durchzogen: "Den Juden" imaginiert der Antisemit als Strippenzieher in einer überkomplexen, unverständlichen Welt. Jetzt haben wir wieder eine fundamentale Krisensituation.

In Krisensituationen gedeihen neben revolutionären, eben auch reaktionäre Ideologien, das wissen wir auch für die Zeit der Krise 1873, nach der Deutschen Reichsgründung sowie aus der Weltwirtschaftskrise 1929. In der Gründerkrise entwickelte sich unter anderem die Familienzeitschrift "Gartenlaube" zu einem Organ des giftigen Antisemitismus. Otto Glagau, ein eher liberaler Publizist, gab dort die Parole aus, dass hinter den Krisenerscheinungen wie der Zusammenbruch der Börse "der Jude" stecke, weil dieser ja ohnehin hinter allen möglichen modernen Phänomenen, hauptsächlich der Zirkulationssphäre, stecken würde. Antisemitismus und Verschwörungsdenken überlappen sich dabei.

Dass nun Ken Jebsen die Rolle des anklagenden Krisenerklärers bekommt, ist kein Zufall. Dass er in Richtung Verschwörungsdenken geht, ebenso wenig. Von einem deutlichen Antisemitismus, wie er im 19. Jahrhundert noch zum guten Ton und zum deutschen Diskurs dazugehörte, mag Jebsen absehen, er weiß aber genau die gleichen Bedürfnisse, die auch beim klassischen Antisemiten wirken, bei sich und seinem Publikum zu stillen: Haltet-den-Dieb-Mentalität, pseudorebellisches Anklagen einer Minderheit, die über und jenseits der Mehrheit ("dem Volk") stehen würde, und stereotypisiertes Denken.

Ticket-Denken könnte man in Anlehnung an Horkheimer und Adorno dieses Denken nennen, das beständig und jenseits einer wirklich Reflexion auf die kapitalistischen Verhältnisse fragt: Wo ist der Feind? Wer hat schuld? Und wir dürfen nicht vergessen, dass viele Antisemiten pathologisch paranoid sind und sich wirklich verfolgt wähnen. Vieles deutet bei Jebsen auch in diese Richtung.

Auch bei diesem veganen Koch, Attila Hildmann, scheint mir das der Fall zu sein, und bei diesem schlechten Deutschpopper Xavier Naidoo ohnehin. Gefährlich ist ja, wie weit deren Verbreitung geht. Dass sie Gefolgschaft und Anhängerschaft finden. Auf den Hygiene-Demos erwähnten viele, dass sie Jebsens Aufrufen gefolgt sind, und selbst in meinem ferneren Bekanntenkreis wird er geguckt und über Whatsapp oder Telegram weitergeleitet.

Ich sehe weniger, dass ein bedrohliches rechtes Projekt durch die Hygiene-Demos entsteht, sondern ich befürchte, dass die dort gesetzten rückschrittlichen Impulse von der aktuellen Regierung aufgegriffen werden: Rücksichtsloser Liberalismus nach dem Motto "Corona? Gibt's nicht - Wir wollen raus!". Dann das Beschweigen der sozialen Frage: Niemand machte auf den Hygiene-Demos auf die Rettung der großen monopolistischen Unternehmen durch Staatsgelder aufmerksam und begriff sich als gesundheitlich wie sozial gefährdeter Arbeiter.

Schließlich verharrten die Leute, die demonstrierten im nationalen Rahmen, was sie nicht nur mit gelegentlichem Schwenken der Deutschlandfahne kund taten, sondern sie reagierten äußerst aggressiv, wenn man auf die gesundheitliche Situation in anderen Ländern, Italien, USA, Lateinamerika, aufmerksam machte. "Hier ist Deutschland! Wir sind hier! Hier ist nichts!"

Es ist die ums Soziale halbierte liberale Ideologie - Freiheit! -, die sich in den aktuellen Krisenzeiten des Lockdowns und der Grundrechteinschränkung kombiniert mit reaktionärer Haltet-den-Dieb-Mentalität, aggressiv in Stellung bringt. Da spielt Ken Jebsen seine Rolle, aber auch FDP- und AfD-Politiker als einzig wahrnehmbare Opposition. Diese artikulieren nahezu als einzige Unmut und "Widerstand" in einer Zeit, wo alle vom Staat zur Ruhe gebeten werden. Und das bei einer absoluten Abwesenheit einer revolutionären oder sagen wir vorsichtiger: wirklich radikalen Linken.

Diese, und jetzt komme ich auf deinen Hinweis zu sprechen, hätte natürlich die Aufgabe, die Macht der Pharmakonzerne, den intransparenten Lobbyismus der Gates-Stiftung anzuprangern; die wirklich Verantwortlichen zu benennen. Historisch gelang es der Arbeiterbewegung ja zuweilen mit ihrer materialistischen Analyse von Ausbeutungsprozessen, mit der konkreten Benennung der Interessen und Strategien der Kapitalisten Vernunft auf die Straße zu bringen. Dann konnte auch die oft herrschaftsstabilisierende Antisemiten-Bewegung aus dem Feld geschlagen werden.

Kapitalismuskritik ist in den Augen des Verfassungsschutzes und von Zeit-Autorinnen wie Mariam Lau Teil der Gefährdung, nicht der Aufklärung

(M.R.) Hier sprichst Du einen sehr wichtigen Punkt an. Die Existenz einer Arbeiterbewegung, einer nennenswerten Opposition in Gestalt einer wirklich antikapitalistischen Linken, alles existiert nur noch marginal. Der DGB feierte mit Pop und Reden virtuell auf dem Dach den 1.Mai und das wurde dann moderiert von Katrin Bauerfeind und hätte auch als Samstagabendshow mit Thomas Gottschalk über die Bühne gehen und in alle Wohnzimmer ausgestrahlt werden können.

So sehr ich den Lockdown medizinisch für notwendig erachte, um eine zu schnelle Ausbreitung zu verhindern -, vergleichen wir die Situation Deutschlands mit anderen Ländern, so ist es hier wirklich recht gut verlaufen -, desto unglaublicher ist ja das Versagen der Bundesregierung und des RKI im Januar, Februar, demnach das Land und das Gesundheitssystem gut aufgestellt und vorbereitet ist, und sich diese Epidemie hier gar nicht so ausbreiten könnte.

Wenn man nur ansatzweise die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft in den letzten Jahren und zwar maßgeblich in Gang gesetzt durch Schröders SPD und Fischers Grüne mit den Hartz-Gesetzen und später von Ulla Schmidt (SPD) in der großen Koalition als Gesundheitsministerin eben dort weitergeführt, mit der Schließung von Krankenhäusern, Rationalisierungsmaßnahmen um Profitabilität zu erreichen, dann darf einen gar nichts wundern.

Der Umbau wurde auch in einem ganz anderen und ebenso wesentlichem Bereich vorgenommen. Es waren ja die Grünen und die SPD, die das Land, das sich mit dem Grundgesetz eine reine Verteidigungsarmee verordnet hatte, zu einem militärischen Aggressor gemacht und damit den Präzedenzfall für Auslandseinsätze geschaffen haben, an die sich schon alle gewöhnt zu haben scheinen. Das ist ja der andere Skandal, an den sich die meisten [auch ehemalige Linke] aber gewöhnt haben und selber so einen Schmarren nachbeten, Deutschland müsse auch militärisch in der Welt endlich Verantwortung übernehmen.

Von einer wirklich nennenswerten linken Opposition -mit Ausnahme singulärer Positionen u.a. auch bei der Die Linke -, die das alles überzeugend als systemisch benennen würde, ist da leider keine Spur. Ehe ich jetzt ins Jammern komme und mich in die Aufzählung von Defiziten verliere, mache ich hier Schluss, nicht ohne den Hinweis, dass in eben manchen dieser obskuren alternativen Medien, darunter KenFM, Rubikon etc. darüber geredet werden konnte. Sie stießen damit in eine Vakanz.

Gerhard Hanloser: Ja, diese Vakanz ist offensichtlich. Und sie kommt auch daher, dass ein Teil der Linken sich gerne hegemonialen Ideologien anschließt und angeschlossen hat. Worin unterscheidet sich noch der empörte Antifa-Aktivist, der "Querfront boxen!" propagiert und nun den "Corona-Leugner" aufs Korn nimmt, von der Bundesregierung oder von Spiegel TV, wenn sein Hauptgegner der "Aluhut" und der "Verschwörungstheoretiker" ist? Er beschweigt den Kapitalismus und hat vollständig vergessen, was Erich Fried mal sehr klug sagte: "Ein Antifaschist, der nur Antifaschist ist, ist kein Antifaschist!"

Augenzwinkernd könnte man diese Aktivist*innen ja fragen: Wenn Ihr meint, die Hygienedemos seien eine Querfront, was bildet Ihr denn dann? Eine "Volksfront" - mit Merkel und Springer TV? Eine "heilige Union"? Befindet Ihr euch im "Burgfrieden" mit den Verhältnissen?

Mich wundert es nicht, dass ein Teil der antifaschistischen Linken sich nur noch über tatsächliche oder vermeintliche Antisemiten erregt und ansonsten gar nichts an den Verhältnissen auszusetzen hat.

(M.R.) Bilden sie im Verbund mit den von Dir benannten staatstragenden und prokapitalistischen Kräften und Medien in der Corona-Krise die aktuelle "andere Querfront"?

Gerhard Hanloser: In meinem letzten Buch mit diesem Titel beschreibe ich ein Milieu, das sich ab 1990 aus der Linken rekrutierte und gegen die Friedensbewegung und die klassische Linke mobil machte. Es hielt der traditionellen Linken vor, antiamerikanisch und antisemitisch zu sein. Selbst positionierte sich dieses Milieu nach 9/11 kriegsbegeistert und pro-israelisch. "Waffen für Israel!" propagierten einige sich links und antideutsch fühlende Antifa-Gruppen.

Bellizismus, Militarismus, Pro-Imperialismus stellen die verbindenden Kernelemente dieser "anderen Querfront" dar, die dann auch an die Ideologien des Atlantizismus von Springer anschließen konnte. Einige davon haben sich sogar so weit nach rechts bewegt, dass sie die AfD loben, weil diese mit ihrer rassistischen Abschottungspolitik dafür sorgen würde, dass die als "antisemitisch" ausgemachten arabischen Flüchtlinge nicht hierher kommen.

"Antideutsch" nannte sich dann dieser Teil der "anderen Querfront" nicht mehr. Man könnte sogar sagen, dass dieses gesamte Milieu an spezifischen Ausgestaltungen der deutschen Staatsräson mitstrickt. In den Antisemitismus-Vorhaltungen gegenüber antiimperialistischen Linken waren diese Publizist*innen und politischen Aktivist*innen Avantgarde und nahmen vieles vorweg, was der deutsche Antisemitismusbeauftrage Felix Klein jetzt exekutiert mit seinen haltlosen Antisemitismusvorwürfen gegen BDS, Jüdische Stimme für gerechten Frieden oder Achille Mbembe.

Zugespitzt könnte man sagen, dass der verselbständigte Antisemitismusvorwurf zu dem geworden ist, was der Antisemitismus in der Bismarckschen Gesellschaft selbst war: Ein Erziehungsinstrument, sich nicht zu weit von Staat und Nation und der Staatsräson weg zu bewegen. Damals konnte man das Bürgertum mittels nationalem Antisemitismus dazu anhalten, dem Staat die Stange zu halten. Heute droht das Antisemitismusverdikt jeden zu treffen, der nicht stramm steht. In der gleichen Ausgabe der Zeit, die ich oben erwähnte, wird sich positiv auf den Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzes bezogen, der vor einer "Phalanx aus Verschwörungsideologen, Rechtsextremisten, Kapitalismuskritikern, Antisemiten, Reichsbürgern und Impfgegnern" warnt. Die Kapitalismuskritiker*innen sind also hier eingereiht. Kapitalismuskritik ist in den Augen des Verfassungsschutzes und von Zeit-Autorinnen wie Mariam Lau Teil der Gefährdung, nicht der Aufklärung. Wir müssen uns also warm anziehen.

(M.R.) Leider kann ich Deinem Befund nur beipflichten. Kapitalismus bzw. die Thematisierung des Antikapitalismus als notwendiges Ziel wird ja auch schon unter Antisemitismusverdacht gestellt, nach dem Motto: Wird mit Kapital nicht in Wirklichkeit "die Juden" gemeint, weil Juden=Geldwirtschaft=Kapitalisten. Dieses antisemitische Bild war schon immer sehr dumm und konnte auch bei den Nazis immer nur durch Ausblendung des großen Heers an verarmten und gerade in Berlin, der Reichshauptstadt, sichtbaren Juden aus den osteuropäischen Schtetl funktionieren. Dennoch spielt das ja auch für Nazis von heute keine Rolle.

Aber einer linken Kritik am Kapitalismus antisemitische Tendenz zu unterstellen, ist verquer, dennoch gibt es das. Das hast Du ja auch in Deinem letzten Buch "Die andere Querfront" an einigen Beispielen wie Moishe Postones Schriften dargelegt. Einige aus dem ehemaligen linken Lager vertreten das ja auch. Für Jutta Ditfurth z.B. ist ja eine Argumentation, in der die weltökonomisch nicht ganz unwichtige US-Notenbank Federal Reserve eine Rolle spielt, schon ein hinreichender Verdacht auf antisemitische Haltung, weil jemand, der so argumentiert, verdeckt auf den jüdischen Einfluss auf die US-Finanzwelt anspielen würde. Wenn dies ausreicht, können wir jede Debatte gleich beenden. Ein Reden über Zinspolitik ist dann ebenso wenig gestattet wie über Profitmaximierung.

Unter dem Strich dürften wir dann kaum noch den Kapitalismus kritisieren, da sich dahinter vielleicht der Kampf gegen das "jüdische Kapital" verstecken könnte. Was tun?

Gerhard Hanloser: Nun ja, uns nicht beirren lassen. Wichtig ist ja, dass sich eine Kritik an den Verhältnissen "im Handgemenge", wie Marx meinte, entwickelt. Und es gibt und gab - gerade auch in Corona-Zeiten - antikapitalistische Initiativen. Ich erinnere nur an die tollen Kampagnen der Freien Arbeiter Union für die Spargelstecherer*innen, die für bessere Arbeitsbedingungen gekämpft haben. Die antirassistischen Initiativen wie "Seebrücke" und deren Forderungen, die griechischen Lager aufzulösen.

Doch: "I have a dream"; nämlich dass diese Kampagnen und Initiativen aus ihrem linken, linksradikalen oder kulturellen Milieu heraustreten und andere in der Gesellschaft mit ihrem Anliegen konfrontieren. Das wäre "Intervention" und "Kritik im Handgemenge", ein solches Agieren wurde von einigen Ordnungslinken mit großen Worten abgewehrt.

(M.R.) Du meinst Linken, denen mehr an der Aufrechterhaltung der Ordnung liegt, als diese zu bekämpfen und für andere Verhältnisse einzutreten?

Gerhard Hanloser: Die identitätspolitische Antifaschistin wie der anständige DKP-Kommunist von der Jungen Welt warnten ja gleichermaßen, man dürfe sich nicht "einlassen" mit den Schmuddelkindern vor der Volksbühne. Aber selbst Lenin war sich nicht zu schade, den Bauern Spoken-words-Schallplatten aufzulegen und vorzuspielen, um gegen Antisemiten zu agitieren und die Verhältnisse radikal und aufklärerisch zu kritisieren - der wusste immerhin, was Intervention ist.

Matthias Reichelt, Kulturjournalist, und Gerhard Hanloser, Autor von "Die andere Querfront", haben via Email zwischen dem 21.5. und 25.5.2020 diskutiert.