Covid-19: Ausgelieferte Altenheime

Lange wurde über die hohe Sterberate in Italien gerätselt. Nun zeigt sich: Ein desaströses Missmanagement der Altenheime trieb die Covid-19-Opferzahlen in die Höhe - wohl nicht nur in Italien

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Was muss alles schiefgelaufen sein, dass der Ministerpräsident einer norditalienischen Region wegen Morddrohungen unter Polizeischutz gestellt werden muss? Die Rede ist von Attilio Fontana, dem Präsidenten der von Covid-19 schwer getroffenen Lombardei. Die Morddrohungen, die der Lega-Politiker im Internet erhält, erschienen dem zuständigen Präfekten mehr als nur leere Worte zu sein, sodass sich die Behörde letzte Woche dazu entschied, dem lombardischen Präsidenten den Personenschutz zu gewähren.

Ausschlaggebend für die Entscheidung soll auch ein Graffiti mit der Aufschrift "Fontana assassino" (auf Deutsch: Fontana, du Mörder) gewesen sein, welches eine ganze Hausmauer im Mailänder Ausgehviertel Navigli zierte. Urheber war kein lombardischer Kleinunternehmer, dem durch die restriktiven Maßnahmen die Lebensgrundlage zerstört worden war, sondern die kommunistische Aktivistengruppe "Carc".

Die Verunglimpfung des Politikers motiviert sich wahrscheinlich durch die eklatanten Missstände in lombardischen Altenheimen. Politische Fehlentscheidungen und Missmanagement in einzelnen Heimen hatten in der Lombardei dazu geführt, dass sich das Virus beinahe ungehemmt in den Pflegeeinrichtungen ausbreiten konnte. Also dort, wo die Menschen ihm am meisten ausgeliefert waren.

Im Vergleich zu anderen Staaten ist der Anteil der Covid-19-Toten in italienischen Pflegeheimen auffallend hoch. Besonders dramatisch ist die Situation in den norditalienischen Regionen. Während verlässliche landesweite Daten der zentralen Gesundheitsbehörde ISS noch immer ausstehen, lassen die Zahlen auf Gemeindeebene auf ein böses Gesamtbild schließen. Im Einzugsgebiet Mailands waren nach Abflachen der ersten großen Infektionswelle Ende April von insgesamt 13.645 Heimbewohnern 2219 Personen mit Covid-19 (871) oder ungetestet mit Covid-19-ähnlichen Symptomen (1348) gestorben. Das ist jeder sechste Heimbewohner. Ein Aufenthalt im Altenheim also als russisches Roulette?

Insgesamt starben von Ende Februar bis Ende April 27 Prozent der Mailänder Heimbewohner - anstatt der üblichen zehn bis zwölf Prozent in früheren Vergleichszeiträumen. 4205 Personen, also ein Drittel aller Heimbewohner, waren bis Ende April in Mailand und Umgebung infiziert. Zum Vergleich: In Österreich, wo die Covid-19-bezogene Sterberate in der gesamten Bevölkerung mehr als drei Mal tiefer als in Italien liegt, waren nach Hochrechnungen der bisher durchgeführten Tests in Pflegeheimen Anfang Mai nur zwei Prozent der Bewohner infiziert.

Dass die italienischen Heime dem Virus offenbar völlig ausgeliefert waren, hängt mit gravierenden politischen Fehlentscheidungen zusammen. Während aktuell in zahlreichen italienischen Staatsanwaltschaften die Ermittlungen gegen regionale Entscheidungsträger laufen, zeichneten Forscher der mailändischen Universität Bocconi bereits am 30. April in einer Studie ein recht klares Bild der Ursachen für die Misere.

Corona-Patienten aus Krankenhäusern in Pflegeheime verlegt

Am 9. März, als Premierminister Giuseppe Conte einen landesweiten Lockdown verhängte, gab es noch keine Richtlinien für die Altenheime, geschweige denn Schutzmaterial wie Masken und Schutzanzüge für das Heimpersonal. Bei der Verteilung des vorhandenen Materials dachte man nicht daran, Pflegeheime zu priorisieren. So absurd es auch klingt: Als bereits Schulen und Universitäten geschlossen waren, standen die Heime für die Besucher noch immer offen.

Einige Altenheime verpflichteten ihr Personal damals, sich privat Schutzausrüstung zu besorgen, und arbeiteten auf eigene Faust Sicherheitsmaßnahmen aus. Andere Heimverwalter führten hingegen die Untätigkeit der Politik ad absurdum und verboten dem Personal kategorisch, Schutzausrüstung wie FFP-Masken zu tragen - angeblich, weil sie anderswo dringender gebraucht würden. Angestellte, die gegen die Anordnung protestierten, wurden entlassen.

So geschah es im Pio Albergo Trivulzio, ausgerechnet in jenem Heim, das 1992 bereits in den Korruptionsskandal verwickelt war, der Italiens erste Republik zu Fall brachte und unter dem Schlagwort "Mani Pulite" in die Geschichte einging. Der Leiter des Altenheims hatte damals "auf Kommission" Aufträge an Reinigungsfirmen vergeben. Der Korruptionsfall löste anschließend eine Kettenreaktion an Ermittlungen aus, an deren Ende ein diabolisches Netz aus Korruption und Vetternwirtschaft, das abgesehen von den Kommunisten alle großen Parteien Italiens durchzog, offengelegt wurde.

Aber das war noch nicht genug. Zum Versagen der nationalen Regierung und einzelner Heimverwaltungen gesellte sich Anfang März eine fatale Entscheidung der lombardischen Regionalregierung, die eine Verlegung "leichter" Covid-19-Patienten aus überfüllten Krankenhäusern in Pflegeheime mit freien Zimmern veranlasste. So nahm die Ausbreitung des Virus in den Heimen erst richtig an Fahrt auf.

Aufgrund solcher Fehler müssen sich der lombardische Präsident Attilio Fontana und der Gesundheitslandesrat Giulio Gallera aktuell vor der Staatsanwaltschaft Bergamos verantworten. Zu den Ermittlungspunkten gehört auch das Versäumnis, frühe Infektionsherde wie die Gemeinden Nembro oder Alzano nicht rechtzeitig isoliert zu haben. Bei der ersten Anhörung am 29. Mai beschränkten sich Fontana und Gallera, darauf hinzuweisen, dass auch die nationale Regierung in Rom eine solche Schließung veranlassen hätte können. Ähnlich im Wortlaut auch der Kommentar Matteo Salvinis, der seinen Parteifreunden umgehend zur Seite sprang: "Fontanas Anhörung ist eine Schande. Dann müsste man auch gegen Giuseppe Conte ermitteln", sagte Salvini.

Je mehr Infektionen in den Heimen, desto höher die Sterberate

Während über Italien landesweite Zahlen noch fehlen und sich die Katastrophe nur anhand von Einzelfällen und politischem Versagen nacherzählen lässt, gaben andere Länder bereits bekannt, wie hoch der Anteil der Corona-Toten in den Pflegeheimen ist. Eine Studie der London School of Economics and Political Science hat diese Daten zusammengetragen und einen bemerkenswerten Trend festgestellt.

Obwohl internationale Vergleiche aufgrund verschiedener Testkapazitäten und unterschiedlichen Auswertungsmethoden immer noch schwierig sind, halten die Forscher fest, dass Länder mit vielen Covid-19-Todesfällen (und mit einer hohen Covid-19-Sterberate) auch dazu tendieren, einen ausgesprochen hohen Anteil von Pflegeheimbewohnern an der Gesamtzahl der Toten aufzuweisen. Je exponierter die Pflegeheime sind, desto tödlicher ist also das Virus.

So gab es beispielweise in Hongkong bei über 1000 Infizierten in der Gesamtbevölkerung nur vier Tote. Der Hafenstadt war es gelungen, die Zahl der Infektionen und damit auch der Todesfälle in den Pflegeheimen vollständig bei Null zu halten. In Ländern, die mehr als 100 Todesfälle verzeichnen, reicht der Anteil verstorbener Altenheimbewohner an der Gesamtzahl der Toten hingegen von 24 Prozent in Ungarn bis 82 Prozent in Kanada.

Während Länder, die in der Pandemie vergleichsweise glimpflich davonkamen, einen niedrigen Anteil aufwiesen, machten in Frankreich die Altenheimbewohner 51 Prozent der verzeichneten Covid-19-Todesfälle aus, für Schweden waren es 49 Prozent, für England 38 Prozent und für die USA 41 Prozent. Nach ersten Schätzungen soll sich dieser Anteil in Italien und Spanien sogar um 53 beziehungsweise 57 Prozent bewegen.

In Deutschland beträgt der Anteil der Heimbewohner an der Gesamtzahl der Covid-19-Toten laut RKI 37 Prozent. Allerdings werden in Deutschland die Bewohner aller gemeinschaftlichen Unterkünfte - also auch von Gefängnissen und Flüchtlingsheimen - mitgezählt. Der Anteil der Pflegeheimbewohner dürfte somit geringer sein.

Für einige wenige Länder konnten die Forscher auch abschätzen, wie hoch der jeweilige Anteil der Covid-19-Toten in den Pflegeheimen gemessen an der Gesamtzahl aller Heimbewohner ist. Dieser Anteil reicht von 0 Prozent in Hong Kong, 0,3 Prozent in Österreich, 0,4 Prozent in Deutschland und 0,9 Prozent in Kanada bis hin zu 2 Prozent in Schweden, 2,4 Prozent in Frankreich, 2,8 Prozent in Großbritannien und 3,7 Prozent in Belgien, wo übrigens knapp 90 Prozent der Heime mindestens einen Corona-Fall verzeichneten. Es fällt auf, dass der Anteil in jenen Ländern am höchsten ist, die auch insgesamt die höchsten Covid-19-Sterberaten und die meisten Todesfälle verzeichnen.

In Turin hat sich am Samstag deswegen ein Protest der Pfleger und Pflegerinnen formiert, um auf die "tausend Toten" wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen in den Pflegeheimen aufmerksam zu machen. Gleichzeitig schlägt das Pflegepersonal in einem offenen Brief verschiedene Maßnahmen vor, die eine Verbreitung des Virus in den Heimen künftig verhindern soll. In der Hoffnung, dass die Politik sie erhört. [S1]