"Es geht schon lange um Annexion"

Hawara-Checkpoint im Westjordanland. Bild: Magne Hagesæter/CC BY-SA-3.0

Interview mit dem palästinensischen Wirtschafts- und Politikberater Sam Bahour - Auswirkungen der israelischen Besatzung auf die palästinensische Wirtschaft

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Der Blick auf Israel/Palästina ist in der Bundesrepublik Deutschland durch die Geschichte von Antisemitismus und Judenvernichtung geprägt. Das führt dazu, dass nicht nur Deutsche, sondern auch Palästinenser und jüdische Israelis immer wieder pauschal delegitimiert werden, wenn sie die israelische Besatzungspolitik oder Diskriminierung palästinensischer Israelis kritisieren, selbst wenn sie sich dabei auf die Menschenrechte und das Völkerrecht beziehen.

Dies trifft in den letzten Jahren in besonderem Maße auf die BDS-Kampagne zu. Diese fordert Boykott und Sanktionen gegen Israel, bis das Land Resolutionen der Vereinten Nationen hinsichtlich einer Zwei-Staaten-Regelung umsetzt. Der Bundestag, viele Landtage und Stadträte haben nunmehr beschlossen, BDS sei antisemitisch und dürfe nicht mit öffentlichen Geldern, Räumen, etc. unterstützt werden. In Folge müssen Veranstaltungen zum Thema Palästina/Israel oft abgesagt werden, weil bereits zugesagte Räume entzogen werden - aus Angst von Vermietern, öffentliche finanzielle Unterstützung zu verlieren oder selbst in die Kritik zu geraten. Kritik an der israelischen Besatzung wird durch die Unterstellung antisemitischer Motivation oft pauschal delegitimiert.

Zugleich setzt Israel seit über 50 Jahren militärische und administrative Maßnahmen gegen die palästinensische Bevölkerung in Westjordanland und Gazastreifen um, die in ihrer Wirkung mit einem umfassenden Boykott und Sanktionen vergleichbar sind. Dies führt in Deutschland jedoch nicht zu einer entsprechenden Ausgrenzung.

Mit einer Reihe von Interviews thematisieren wir die Auswirkungen entsprechender israelischer Politik in verschiedenen Bereichen.

Sam Bahour ist Business Consultant und Politikberater. Er baute die Palestine Telecommunications Company (PALTEL) und das Palestinian Shopping Center in Al-Bireh mit auf. Derzeit ist er unabhängiger Direktor der Arab Islamic Bank und engagiert sich in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen in Palästina. Er blogt unter www.epalestine.com.

Herr Bahour, Sie sind fester Bestandteil der wirtschaftlichen Entwicklung Palästinas. Mit welchen Hoffnungen haben Sie 1994, nach der Unterzeichnung der Osloer Verträge zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, begonnen?

Sam Bahour: Ich machte mir keine Illusionen darüber, dass die Osloer Verträge ein Ende der israelischen Besatzung bedeuteten. Als ich damals von Youngstown/Ohio nach Palästina umzog, wusste ich, dass es hier nicht um Wirtschaftsaufbau in einem freien Land ging. Es war mehr die Fortsetzung eines Engagements gegen die Besatzung, aber nun in einem wirtschaftlichen Entwicklungskontext, weil das mein Fach ist.

Und ich finde auch heute immer noch, dass wirtschaftliche Entwicklung, selbst in einer Notlage wie dieser, eine wichtige Komponente ist, die viele nur halbherzig mitdenken. Aber wenn wir aus dem Land gedrängt werden, dann ist es aktiver Widerstand, den Menschen das Bleiben zu ermöglichen. Und dafür brauchen sie Einkommen.

Zu Beginn war die allgemeine Annahme, dass die Osloer Verträge nach fünf Jahren, also 1999, in die Gründung eines unabhängigen Staats Palästina münden.

Sam Bahour: Ja, niemand erwartete, dass dieser ursprünglich auf fünf Jahre angelegte Prozess nach 26 Jahren noch immer keine positiven strukturellen Veränderungen zeigen würde. Eine Vorwärtsbewegung hat sich nicht eingestellt, sondern das Gegenteil. Der Oslo-Prozess wurde von Israel dazu genutzt, die Besatzung zu vertiefen. Das heißt, die Herausforderungen heute sind größer als zum Zeitpunkt meines Umzugs nach Palästina 1995.

Sam Bahour. Bild: Osama Silwadi

Welchen Zustand fanden Sie damals vor? Was war Israels ökonomischer Ansatz gegenüber dem 1967 besetzten Gebiet bis zur Oslo-Phase ab 1994?

Sam Bahour: Für die Zeit vor Oslo würde ich nicht von einer palästinensischen Wirtschaft im heutigen Sinne sprechen. Das wirtschaftliche Leben basierte auf Palästinensern, die in Israel arbeiteten, und auf dem Verkauf israelischer Produkte in unserem Markt. Darauf hat sich unser Handel beschränkt. Die Landwirtschaft hat damals zum großen Teil den israelischen Markt bedient. Wir waren also im Prinzip eine Erweiterung der israelischen Wirtschaft. Es gab damals ja keine physischen Hindernisse zwischen den beiden Seiten. Das heißt, die israelische Wirtschaft baute strategisch auf die billigen, aber gut ausgebildeten palästinensischen Arbeitskräfte.

Nach 1994 hat sich dieser Ansatz nicht geändert, aber Israel hat mit der Zeit immer mehr Hindernisse aufgebaut und das System der Zugangsberechtigungen eingeführt. Strukturell bleibt also für die israelische Wirtschaft alles gleich wie vor 1994. In Israel wurde kürzlich im Kontext der Corona-Krise darüber diskutiert, wie mit den palästinensischen Arbeitern umgegangen werden soll. Sollten sie zurückgeschickt und Verluste der israelischen Wirtschaft akzeptiert werden? Oder sollten sie bleiben dürfen und versorgt werden, falls sie sich infizieren? Am Ende durften die Arbeiter bis kurz vor den jüdischen Feiertagen bleiben. Dann wurde sowieso alles für eine Zeit geschlossen.

Also generell sind wir immer noch eine Erweiterung der israelischen Wirtschaft. Nicht mehr, nicht weniger.

Das Pariser Wirtschafts-Protokoll ist ein weniger bekannter Teil der Osloer Verträge. Ist es das Fundament einer unabhängigen palästinensischen Wirtschaft?

Sam Bahour:: Für mich ist nicht alles in den Osloer Verträgen schlecht. Es gibt ein paar politische Elemente darin, mit denen ich etwas anfangen kann. Zum Beispiel behandeln die Verträge, einschließlich das Paris Protokoll, das Westjordanland und den Gazastreifen als eine einzige Einheit. Das ist positiv, weil es klarstellt, dass das besetzte Gebiet von Israel getrennt gedacht wird.

Das Paris Protokoll gesteht uns bilaterale Handelsbeziehungen mit Drittstaaten zu. Die Bedingung ist, dass diese Staaten diplomatische Beziehungen mit Israel unterhalten müssen, weil wir israelische Grenzübergänge für den Im- und Export von Produkten nützen müssen. Aber das war ein Schritt nach vorne und wir konnten acht oder neun bilaterale Handelsbeziehungen aufbauen. Aber wie gesagt, Israel kontrolliert die Grenzen und erhebt seine Zölle. Wir sprechen von einer Zollunion. Das heißt also, wir haben das Recht auf eigenständige Handelsbeziehungen, aber Israel kann diese kontrollieren.

"Israel hat viele Möglichkeiten, um Dinge für uns zu komplizieren"

Wie funktioniert diese Zollunion?

Sam Bahour: Das bedeutet, dass Handel und Waren zwischen beiden Seiten frei ausgetauscht werden. So haben wir das in Oslo verhandelt. Tatsächlich aber verweigert Israel den freien Fluss von Waren und Arbeitskräften nach Israel. Sie regulieren es vordergründig über Sicherheitsmaßnahmen: Wer und was darf aus Palästina nach Israel, welche Produkte, welche Arbeiter? Auf der anderen Seite erlauben sie den vollen und freien Zugang aller israelischen Produkte in den palästinensischen Markt, den Gazastreifen inbegriffen. Und der Siedlungsbau im Westjordanland ging auch ungebrochen weiter. Die Zollunion wurde also nicht wie vorgesehen, sondern einseitig umgesetzt.

Wie werden Zölle auf palästinensische Waren konkret erhoben? Israel kontrolliert ja immer noch alle Grenzübergänge für Waren, auch zum Gazastreifen.

Sam Bahour: Israel erhebt unsere Zölle an den Häfen und Grenzübergängen und überweist diese an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Nach Abzug von drei Prozent für Verwaltung; das ist ein großer Betrag.

Diese Zolleinnahmen konstituieren 65% des Haushalts der Autonomiebehörde. Aber Israel bestraft die PA immer wieder durch die Zurückhaltung der Überweisung unserer Zölle. Sie haben also einen großen Hebel, den sie umlegen können, um der PA zu schaden. Netanjahu hat das oft genutzt, insbesondere als wir bei den Vereinten Nationen die vollständige Anerkennung der palästinensischen Staatlichkeit beantragten oder als wir dem Internationalen Strafgerichtshof beitraten. Israel war dagegen und hat uns deshalb unser eigenes Geld abgedreht. Wenn das passiert, können die Gehälter im öffentlichen Sektor nicht bezahlt werden, die Krankenhäuser geraten in eine Notlage und so weiter.

Das palästinensische Exportprodukt, das ab und zu nach Deutschland kommt, ist das Taybeh-Bier. Das scheint also ausgeführt werden zu können.

Sam Bahour:: Ja, aber hauptsächlich exportieren wir nach Israel, weil die Maßnahmen, die sie uns auferlegen, den weiteren Export unprofitabel machen. Israel hat viele Möglichkeiten, um Dinge für uns zu komplizieren. Sie können den Transport durch langsame Abfertigung verzögern, ihn an verschiedenen Kontrollpunkten stoppen und uns dazu zwingen, Waren an einem Kontrollpunkt von einem Lastwagen auf einen anderen zu verladen. Das betrifft selbst Exporte nach Israel. Diese Transportweise führt natürlich zu hohen Kosten und oft auch Verlusten. Für den Gazastreifen ist dieses Regime noch restriktiver.

Das ist also der Export nach Israel. Wenn wir mit Drittstaaten handeln, kommen noch die Kosten für das Umladen auf israelische Transportmittel dazu, Kosten für israelische Hafenanlagen, Sicherheitsprüfung und ähnliches.

Aber selbst der innerpalästinensische Handel ist betroffen. PalTrade hat ausgerechnet, dass die Kosten für den Containertransport von Nablus nach Gaza höher sind, als von Nablus nach Hong Kong.

Und was ist mit dem palästinensischen Bier?

Sam Bahour:: Ja, ein gutes Beispiel. Taybeh muss für die Produktion Hopfen importieren. Den müssen sie auf dem letzten Stück oft mit Eseln über die Berge bringen, weil die israelischen Soldaten das nicht durchlassen. Ein anderer Rohstoff für Bierproduktion ist Wasser, das wird im Westjordanland auch von Israel kontrolliert. Darüber können sie nicht nur die Bierproduktion drosseln, sondern die Agrarproduktion generell. Über den teuren Exportweg haben wir ja schon gesprochen.

"Drittstaaten müssen Israel, unsere Besatzungsmacht, zur Verantwortung ziehen"

Eine wichtige Säule der internationalen Unterstützung für den palästinensischen Staatsaufbau im Kontext der Osloer Verträge ist ja die Wirtschaftsentwicklung. Wie bewerten Sie diesen Fokus?

Sam Bahour:: Diese Priorität sehe ich positiv. Die internationalen Geber setzen das jedoch nur halbherzig um. Wenn sie die Staatsbildung wirklich unterstützen wollten, müssten sie Israel für die genannten Restriktionen gegen unsere Wirtschaft zur Verantwortung ziehen. Sie handeln gegen die Osloer Verträge und gegen die Vierte Genfer Konvention. Wenn es den Ländern also ernst wäre, müssten sie die israelische Seite konfrontieren.

Das beste Beispiel für die Entwicklungshindernisse sind die israelischen Maßnahmen im sogenannten C-Gebiet des Westjordanlands. Israel übt dort die vollständige Kontrolle über Land und Menschen aus. Das sind 62 Prozent des Westjordanlands, die wir für die wirtschaftliche Entwicklung Palästinas nicht nutzen können. Die internationalen Geberorganisationen haben ihre Unterstützung aus dem C-Gebiet abgezogen, weil sie israelischen Unwillen vermeiden wollen. Auf jenem Gebiet liegt aber der größte Teil unserer Agrarflächen, dort ist Wasser. Da die internationalen Geber Israel nicht zur Verantwortung ziehen, ist die Wirtschaftsförderung also eher ein Lippenbekenntnis und keine Umsetzung der postulierten Ziele oder Verträge.

In Europa sorgen Pläne für palästinensische Wirtschaftsentwicklung aber immer wieder für Schlagzeilen und vielleicht sogar Hoffnung auf Frieden. Die letzte Idee in diesem Zusammenhang war der Kushner-Plan. Und viele Geber fördern seit 25 Jahren kleine und mittlere Unternehmen.

Sam Bahour:: Ja, ich weiß. In Palästina hören wir jedoch wenig Lob für diese Pläne und Projekte als Basis für Staatenbildung. Ehrlich gesagt können wir das nicht mehr hören, die großartigen Wirtschaftspläne, Investitionsversprechen und das Gerede vom "ökonomischen Frieden".

Solange die, in Ihrem Fall, deutsche Außenpolitik für die Zwei-Staatenlösung eintritt, muss sie politische Rechenschaft mitdenken. Wenn sie israelischen Firmen die Plünderung palästinensischer Bodenschätze erlaubt, dann nimmt sie ihre eigene Politik nicht ernst. Wirtschaftsentwicklung funktioniert nicht losgelöst vom politischen Rahmen. Und der ist im Falle Deutschlands immer noch die Zwei-Staatenlösung.

Was könnte diese politische Rechenschaftspflicht praktisch bedeuten?

Sam Bahour:: Drittstaaten müssen Israel, unsere Besatzungsmacht, zur Verantwortung ziehen. Der diplomatische Werkzeugkoffer hält hierfür verschiedene Instrumente bereit. Zunächst mal das zwischenstaatliche Prinzip der Gegenseitigkeit. Ich behandle Dich so, wie Du mich behandelst. Die Europäische Union könnte ihren wirtschaftlichen Austausch mit Israel reduzieren, wenn es gegen die international anerkannten Friedensverträge verstößt. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben in palästinensische Entwicklung viel Geld investiert, aber sie wollen diese Investitionen politisch nicht schützen.

"Israel hat die palästinensische Wirtschaft quasi umzingelt. Wir sprechen von einem gefangenen Markt"

Für Israel scheint der Jetzt-Zustand also sehr profitabel zu sein. Lässt sich dieser Nutzen beziffern?

Sam Bahour: Israel hat die palästinensische Wirtschaft quasi umzingelt. Wir sprechen von einem gefangenen Markt. Wie gesagt, unter israelischer Kontrolle macht es für palästinensische Firmen mehr finanziellen Sinn, nach Israel zu exportieren oder Waren aus Israel zu kaufen, als mit einem anderen Land zu handeln. Die Restriktionen fesseln ungefähr 75 Prozent unserer Wirtschaft an Israel. Den Profit Israels beziffern wir auf rund 5 Milliarden US-Dollar jährlich. Das heißt, die Besatzung ist für die Besatzungsmacht sehr profitabel.

Nach dem Oslo-Abkommen verlagerte sich die israelische Seite völlig auf die Sicherheitskooperation mit der Palästinensischen Autonomiebehörde. Auf diese Weise hat Israel einen sehr profitablen Markt zur freien Verfügung, mit sehr reduziertem Sicherheitsrisiko, da jetzt die Autonomiebehörde quasi als externer Dienstleister israelische Sicherheitsinteressen schützt. Sie bedienen sich an unseren Ressourcen, ohne ihre Soldaten zu gefährden.

Was sagt das Oslo-Abkommen eigentlich zur israelischen Nutzung palästinensischer Bodenschätze?

Sam Bahour:: Nichts. Aber der Oberste Gerichtshof in Israel urteilte, dass israelische Firmen das Recht haben, Stein und Marmor im besetzten Gebiet abzubauen und es auf dem Weltmarkt als israelisches Produkt zu verkaufen. Das ist ein klares Beispiel dafür, dass Israel das besetzte Gebiet bereits lange vor Trumps "Deal of the Century" als Teil Israels betrachtete. Es geht also schon lange um Annexion, es wird nur nicht so genannt.

Wäre eine unabhängige palästinensische Wirtschaft denn eine Bedrohung israelischer Interessen?

Sam Bahour:: Sollte eine palästinensische Wirtschaft sich tatsächlich entwickeln dürfen, würde Israel unter anderem den Zugang zu unserem Land, dem Wasser und den Minen verlieren. Das wäre aus israelischer Sicht sicherlich ein Schaden für seine Wirtschaft. Aber wir sollten auch die politischen Kosten betrachten. Die Frage ist: Will Israel die Zwei-Staatenlösung? Wenn ja, wäre eine unabhängige, funktionsfähige palästinensische Wirtschaft in seinem Interesse, denn ein palästinensischer Staat braucht auch eine unabhängige Wirtschaft. Ganz offensichtlich ist das nicht Teil israelischer Strategie.