Türkei: Oppositionsabgeordnete verhaftet

Mitten in der Coronakrise verschärft Erdogan den Kurs gegen die Opposition und lässt Hunderte verhaften, darunter auch drei Abgeordnete von Oppositionsparteien

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Die Umfragewerte des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan sind schlecht. Wieder mal. Dazu trägt auch sein Agieren in der Corona-Krise bei, in der er keine klare Linie hat und lieber reihenweise Kritiker seiner Politik hinter Gitter bringt, als einen ernstzunehmenden Plan vorzulegen, wie er das Land durch die Krise zu steuern gedenkt.

Aktuell käme die regierende AKP selbst in Koalition mit der rechtsradikalen MHP nicht auf die erforderliche Mehrheit von fünfzig Prozent der Stimmen. Schon seit Monaten macht das Gerücht die Runde, dass Erdogan einmal mehr vorgezogene Neuwahlen anpeilt und dafür das erst vor zwei Jahren reformierte Wahlrecht erneut umkrempeln will.

Die Verfolgung von Oppositionellen geht derweil ungebrochen weiter. Der Großteil der im März 2019 bei den Kommunalwahlen im Südosten gewählten kurdischen Bürgermeister ist inzwischen wieder abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt, viele wurden obendrein inhaftiert.

Da sie politische Gefangene sind, gilt für sie die Corona-Amnestie nicht, mit der rund 90.000 Haftstrafen unlängst in Hausarrest umgewandelt wurden, offiziell mit der Begründung, dass die Gefahr eines Corona-Ausbruchs in den Haftanstalten zu groß sei. Die Opposition kritisierte, dass von der Amnestie Schwerstkriminelle profitieren, unter ihnen auch Kader der Terrororganisation Islamischer Staat (IS).

Die Gefängnisse füllen sich wieder

Die vielen freigewordenen Gefängniszellen füllen sich derweil wieder. Seit Anfang Juni wurden allein 270 Menschen, die der Gülen-Bewegung nahestehen sollen, unter dem Vorwurf der Beteiligung am Putschversuch vom Sommer 2016 verhaftet.

Ein größerer Schlag gegen die Opposition im Parlament folgte am 4. Juni, als nach einer Debatte um das Agieren der Staatsführung die Immunität der Abgeordneten Enis Berberoglu (CHP), Leyla Güven (HDP) und Musa Farisogullari (HDP) aufgehoben und alle drei noch am selben Tag festgenommen wurden. Während Berberoglu die Corona-Amnestie gewährt wurde und er sich nun im Hausarrest befindet, müssen die beiden HDP-Abgeordneten in Haft bleiben.

Beide sind wegen Terrorunterstützung rechtskräftig verurteilt und haben deshalb bereits mehrere Jahre Haft abgesessen, die Urteile wurden jedoch vor zwei Jahren erneuert, worauf sich die erneute Inhaftierung stützt. Zumindest Leyla Güven unterstützt offen die PKK und beteiligte sich ab Ende 2018 an einem Hungerstreik gegen die Isolationshaft von PKK-Führer Abdullah Öcalan.

Berberoglu wird vorgeworfen, der Tageszeitung Cumhuriyet unter dem damaligen Chefredakteur Can Dündar Informationen über Waffenlieferungen des türkischen Staates in Islamisten in Syrien zugespielt zu haben. Die Offenlegung dieser Affäre durch die Zeitung führte zur Inhaftierung Dündars, der später nach Deutschland flüchtete, wo er bis heute lebt. Berberoglu wurde zu einer langen Haftstrafe wegen Spionage verurteilt, die allerdings aufgrund seiner Abgeordnetenimmunität ausgesetzt wurde - bis jetzt.

In einer ersten Reaktion sprach die HDP von einem "Putsch im Parlament", auch CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu übte scharfe Kritik am Vorgehen der AKP und MHP, die gemeinsam die Immunitätsaufhebung erwirkt hatten.

Erst zwei Tage zuvor hatte die HDP eine Roadmap für den Weg aus der anhaltenden Staatskrise vorgelegt, die direkt darauf zielt, Staatspräsident Erdogan seine umfassenden Machtbefugnisse abzunehmen und zu einer demokratischen Verfassung zurückzukehren.

Nach aktuellem Stand soll die nächste Parlaments- und Präsidentschaftswahl 2023 stattfinden, im Jahr des 100. Jubiläums der Gründung der türkischen Republik. Bei vorgezogenen Neuwahlen stünden der AKP auch zwei neue, von AKP-Aussteigern gegründete Parteien gegenüber.