"Black Lives Matter"-Proteste spülen Großbritanniens Kolonialgeschichte hoch

Nach dem Sturz der Statue des Sklavenhändlers Edward Coltons in Bristol. Bild: Caitlin Hobbs/CC BY-SA-4.0

Demonstranten zerstörten die Statue eines Sklavenhändlers, seitdem ist ein Kulturkampf entbrannt

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Im Londoner Stadtteil North Kensington steht immer noch die im Jahr 2017 ausgebrannte Ruine des "Grenfell Tower". Bei dem Feuer in dem 24 Stockwerke hohen Wohnblock kamen über 70 Menschen ums Leben. Die meisten der Toten waren Migrantinnen und Migranten mit dunkler Hautfarbe. Sicherheitsprobleme waren in dem Haus schon viele Jahre bekannt. Mietergruppen warnten vergeblich. Sie wurden nicht gehört, weil die Bewohner arm waren und außerdem nicht weiß. Sie interessierten einfach nicht.

Der Grenfell Tower ist nach Francis Wallace Grenfell benannt. Grenfell lebte von 1841 bis 1925 und war Feldmarschall der britischen Armee. In dieser Funktion nahm er an zahlreichen Aufstandsbekämpfungsaktionen in Afrika, Ägypten sowie Irland teil und kommandierte auch etliche davon. Ein Wohnblock, dessen Baumängel dutzenden Nachfahren der brutalen Kolonisierungsgeschichte des britischen Empire das Leben kosteten, ist nach einem Mann benannt, welcher an der gewaltsamen Durchsetzung der herrschenden Ordnung in den britischen Kolonien führend beteiligt war.

Brand im Grenfel Tower. Bild: Natalie Oxford/CC BY-4.0

Das hat bis zum siebten Juni keinen interessiert. Doch dann brachten junge "Black Lives Matter"-Demonstranten in der südenglischen Hafenstadt Bristol die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston zu Fall und beförderten sie ins Meer. Seitdem gibt es schlagartig ein brennendes Interesse an der verdrängten Unterdrückungsgeschichte des britischen Empire, wie es in der jüngeren Geschichte Großbritannien lange nicht zu sehen war. Vielerorts wollen Stadtverwaltungen plötzlich die Beseitigung von Statuen prüfen, deren Existenz man bis zum 6. Juni noch für historische Stadtbilder unverzichtbar gehalten hatte.

Vom Sklavenhändler zum Wohltäter in Bristol

Der Fall Edward Colston ist ein gutes Beispiel für die Ausmaße des Problems. Ab 1680 war er ein führendes Mitglied der "Royal African Company", welche, finanziert von Bankiers aus der City of London, das Monopol auf den Sklavenhandel hatte. Mit Colstons Schiffen wurden über 80.000 Menschen aus Afrika in die Sklaverei verschleppt. Zehntausende starben. Colston wurde damit reich und finanzierte mit seinem Geld Schulen und Kindergärten, von denen in Bristol bis heute viele seinen Namen tragen.

Das war keine uneigennützige Wohltätigkeit. Colston war für viele Jahre der konservative Unterhausabgeordnete für Bristol und trat als solcher gegen die Abschaffung der Sklaverei ein. In den Genuss der von Colston finanzierten Einrichtungen kam nur, wer nicht öffentlich gegen die Sklaverei auftrat. So sorgte der Sklavenhändler für Ruhe in seinem eigenen Hinterland.

Im Jahr 1895 wurde die nun gefällte Statue zu Colstons Erinnerung aufgestellt. Auf der Inschrift des Monuments wurde Colston als größter Wohltäter der Stadt gefeiert. Seit den 1990er Jahren existiert in Bristol eine Bewegung, welche den Abriss der Statue fordert. 11.000 Menschen unterschrieben dafür eine Petition. Fast hätte es eine neue Plakette gegeben, welche auf Colstons Rolle im Sklavenhandel hinweisen hätte sollen.

Das wurde jedoch von den "Merchant Venturers" verhindert, einer Organisation, welche die verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen Colstons finanziert und dessen Erbe verwaltet. Pikant dabei ist, dass auch die Merchant Venturers selbst ihre Wurzeln im Sklavenhandel haben. Der lange Arm des Empire reicht bis in die Gegenwart.

Das gilt nicht nur für Statuen. Für die Regimenter der britischen Armee sind die Feldzüge der Kolonialzeit immer noch identitätsstiftend. In den Schulen wird kaum über Kolonialismus, Sklaverei und die Wurzeln des britischen Militarismus im Empire unterrichtet.

Als die Labour-Partei in ihrem Wahlprogramm 2019 forderte, dass diese Geschichte Teil des nationalen Lehrplans sein müsse, wurde sie dafür aus den Reihen der Konservativen Partei scharf kritisiert. Die schwarze Labour-Politikerin Dawn Butler, welche für dieses Vorhaben in Corbyns Schattenkabinett die Verantwortung trug, wird bis heute mit rassistischen Hassbotschaften auf sozialen Netzwerken eingedeckt - auch weil sie diese Forderung im Rahmen der Black Lives Matter-Bewegung wieder erhoben hat.

Kulturkampf um Straßen- und Gebäudenamen

Doch jetzt steht vieles zur Debatte. Über tausende Namensnennungen wird nun diskutiert. Die Stadt London will extra eine Kommission zu diesem Zweck etablieren. Die Aktion in Bristol scheint hier einiges erreicht zu haben.

Doch die Gegenbewegung rollt bereits. Die konservative Innenministerin Priti Patel fordert Haftstrafen für jene, welche sich am Sturz der Statue beteiligt haben. Im nationalkonservativen Milieu ist man schwer um Schadensbegrenzung bemüht und ruft zum Kulturkampf zur Rettung von umstrittenen Straßen- und Gebäudenamen auf. Rechtsradikale und faschistische Gruppen haben begonnen, diesem Ruf auf der Straße zu folgen, bislang aber mit eher kleinen und symbolischen Mobilisierungen.

Doch es geht hier um weitaus mehr als einen Kulturkampf. Als die Sklaverei in Großbritannien abgeschafft wurde, erhielten die Sklavenhändler großzügige Abfindungen. Dafür nahm der britische Staat Schulden auf, welche erst 2015 abbezahlt wurden. Um das Ausmaß der Verbrechen des britischen Imperiums zu verschleiern, wurden umfangreiche Maßnahmen getroffen, um Dokumente verschwinden zu lassen, teilweise wurden sie ganz vernichtet.

Derweil sind es auch jetzt, drei Jahre nach dem Grenfell-Feuer, immer noch Migranten und Niedriglöhner, die sterben. Die Gewerkschaft "United Voices of the World" (UVW) wies in einer Stellungnahme darauf hin, dass "schwarze Menschen in Großbritannien bis heute an institutionellem und strukturellem Rassismus leiden". Menschen mit schwarzer Hautfarbe würden in Großbritannien zweimal so oft in Polizeigewahrsam sterben wie Weiße. Auch hätten Schwarze eine doppelt so hohe Chance, an einer Corona-Erkrankung zu sterben, wie Weiße.

Die UVW ist damit konkret konfrontiert. Die Mitglieder der Gewerkschaften arbeiten überwiegend in prekären und marginalisierten Branchen, zum Beispiel im Reinigungsgewerbe. Ein totes UVW-Mitglied trägt den Namen Emanuel Gomes. Er arbeitete für eine Reinigungsfirma im britischen Justizministerium. Aus Angst, dringend nötigen Lohn zu verlieren, schleppte er sich trotz Covid-19 Erkrankung zur Arbeit. Er starb am 24. April an der Krankheit.

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