Mehr von den Reichen wissen wollen

Bild: William Krause

Die französische Beobachtungsstelle für Ungleichheiten setzt neue Einkommensschwellen

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Man weiß mehr über die Armen als über die Reichen, lautet der Ausgangspunkt eines Berichts des französischen Observatoire des inégalités, das auf Deutsch übersetzt mit "Beobachtungsstelle der Ungleichheiten" übersetzt werden kann. Der Name lässt einen politischen Ansatz erahnen; der Anspruch, mit dem Bericht eine Première in Frankreich zu setzen, was die Auffächerung der Welt der Reichen angeht, weckt Neugierde.

Sie wird nur zum Teil befriedigt, das sei vorausgeschickt. Das "Spektakuläre" am Bericht konzentriert sich hauptsächlich auf die Festsetzung einer relativ niedrigen Schwelle, an der die Welt des Reichtums beginnt.

Reich bei einem monatlichen Nettoverdienst von 3.470 Euro im Monat

Das haben dann auch die Medien schnell aufgenommen: "Sind Sie reich?", titelt etwa Le Monde und liefert gleich unter der Schlagzeile die Antwort: Wenn man über 3.470 Euro im Monat verdient.

Gemeint ist netto, nach Steuern und Abzug von Sozialabgaben - und die 3.470 Euro gelten pro "Konsumeinheit". Bei einem Paar markiert das Anderthalbfache die Zugehörigkeit zu den "Einkommensreichen", 5.205 Euro, berücksichtigt wird dabei, dass zwei Menschen, die als Paar in einem Haushalt zusammenleben, anders konsumieren als zwei solo lebende "Konsumeinheiten".

Bei einer Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren wird der Schwellenwert mit 7.287 Euro beziffert. Die Kinder bekommen dabei den Rechenwert von 0,3 Konsumeinheiten. Sind sie älter als 14 Jahre, so erhöht sich dieser auf 0,5 - was dann 8.675 Euro netto im Monat als Einkommen ergäbe. Das ist dann schon deutlich als außergewöhnliches Einkommen erkennbar.

Zugrunde liegt diesen Berechnungen die Annahme, dass die Welt der Reichen beim Doppelten des Medianeinkommens beginnt. Der lag in Frankreich im Jahr 2017, das aufgrund der zugänglichen Daten als Basis herangezogen wird, bei 1.735 Euro, daher also die 3.470 Euro als Schwellenwert. Mit dieser Festsetzung betrete man Neuland, wird erklärt.

Sie korrespondiert mit der Festsetzung der Armutsschwelle, die in Europa bei 60 Prozent des Medianeinkommens, bei 1.026 Euro monatlichem Einkommen gesetzt wird. Der Leiter des Observatoire, Louis Maurin, legt hier die Schwelle niedriger, nämlich bei 50 %, die mit 867 Euro monatlich beziffert werden. Das sei realistischer.

Mit dieser Festsetzung der Armuts- und Reichtumsschwelle zeigt sich eine Symmetrie: Die Armen machen etwa 8 Prozent der rund 67 Millionen Franzosen aus, der Anteil der Reichen repräsentiert 8,2 Prozent, stellt der Bericht fest: "Eine interessante Koinzidenz", wird vermerkt und eine der "zuvor noch nicht beobachteten Schlüsse unserer Schätzungen". Man fragt sich allerdings, worin die Erkenntnis dieser Symmetrie denn liegen könnte, außer dass sie interessant aussieht.

5 Millionen Personen sind es, die in Frankreich über der Reichtumsschwelle liegen, so die absolute Zahl nach den Schätzungen des privaten Instituts.

Ähnliche Einkommenswerte in Deutschland

Der zugrundeliegende Medianwert (1.735 Euro monatlich) unterscheidet sich übrigens nicht erheblich vom deutschen Medianwert. Dazu konnte man im August 2019 vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Folgendes erfahren:

2016 betrug das bedarfsgewichtete Medianeinkommen in Deutschland 1.869 Euro pro Monat - eine Hälfte der Bevölkerung hatte netto mehr Geld zur Verfügung, die andere Hälfte weniger. Zu den einkommensreichsten zehn Prozent zählt, wer als Single mindestens 3.440 Euro netto verdient. Paare ohne Kinder und Paare, deren Kinder bereits ausgezogen sind, gehören ab einem Haushaltsnettoeinkommen von 5.160 Euro zu der Gruppe der reichsten zehn Prozent.

IW

Dazu gab es Rechenmasken, die dem Leser die Frage beantworteten, wie wohlhabend sie oder er im Vergleich ist. Auch Die Zeit nahm das auf. Die Frage danach, was dieser Vergleich über die Verhältnisse, in denen wir leben, aussagt, wird dabei nicht erörtert.

Die Zahlen im deutsch-französischen Reichtumsvergleich fallen aus dieser Perspektive ganz ähnlich aus. Auch der Überraschungsmoment, der darin besteht, dass die Eintrittsschwelle doch tiefer liegt, als es die Zahlen vermuten lassen, die sonst so im Unterhaltungsgenre kursieren ("Reich ist man erst mit mehreren Millionen…"), ist ganz ähnlich.

Der französische Bericht will aber mehr.

Den wenig bekannten "Block der Reichen" weiter aufschlüsseln

Es gebe viel Zahlenmaterial, Statistiken, wissenschaftliche Arbeiten und Literatur zu den ärmeren Schichten, aber vergleichbar viel weniger zu den reichen Schichten. Man wolle nun einen Anfang machen und den wenig bekannten "Block der Reichen" weiter aufschlüsseln. Dabei zeige sich nämlich, dass die Welt der Wohlhabenden und Reichen sehr heteroklit sei. Es würden sich große Unterschiede zeigen. Dabei baut man vor allem auf Zahlen.

Nach Einkommen gestaffelt sehen die Unterschiede so aus: 5,1 Millionen sind über der Einkommensschwelle von 3.470 Euro. 3,2 Millionen haben ein Einkommen über 3.950 Euro im Monat und gehören damit zu den 5 Prozent der Einkommensreichsten. Zu den 1 Prozent der Einkommenreichsten - die Schwelle liegt hier bei 6.650 Euro netto (in Deutschland sind es 6.500 Euro) für die volle "Konsumeinheit" - werden 630.000 gezählt. Zu den 0,1 Prozent (14.800 Euro im Monat) zählen 63.000 und zu den 0,01 Prozent (ab 38.500 Euro im Monat) 6.300 Menschen.

Doch das betrifft nur die Einkommen, wobei die Verfasser des Berichts anmerken, dass diese Zahlen Schätzungen sind und Informationsmaterial nicht leicht zu bekommen sei. Noch viel schwieriger sei dies bei den Vermögenswerten, wo sich deutliche Abgrenzungen der Reichen und Wohlhabenden zu den Ärmeren zeigen.

Hier liegt der Schwellenwert für "Reichtum" bei 490.000 Euro. Das ist der dreifache Wert des Medians. 4,6 Millionen Haushalte in Frankreich erfüllen dieses Kriterium. Es gebe eine Million Millionäre in Frankreich erfährt man und dass der Abstand zu den Superreichen gigantisch ausfallen kann. Als Beispiel zieht man Bernard Arnault heran, dessen Vermögen auf 70 Milliarden Euro geschätzt wird.

Das ist - mit Ausnahme vielleicht der konkreten Angaben von Schwellenwerten - nichts Überraschendes. Auch dass die Vermögenswerte gegenüber den Einkommen in den letzten Jahren weitaus stärker zugelegt haben, zeigte sich bereits in anderen Berichten.

Die "kollektive Solidarität"

Dass die Reichen im Durchschnitt älter sind, war zu erwarten, auch wenn der Anteil schon beeindruckend ausfällt: 69 Prozent sind über 65 Jahre. Was genauere Einsichten in die Welt der Reichen anbelangt, so verweist der Bericht, wie unzählige andere zuvor, darauf, wie schwierig es ist, Zugang zur mit allerhand Signalen und Verhaltenskodizes der Zugehörigkeit abgeschirmten Welt zu erlangen.

Als Beispiel werden die langjährigen Anstrengungen der Reichtumsforscher Michel und Monique Pinçon-Charlot ("Der Gedanke, dass sich etwas ändern könnte, ist nicht mehr denkbar") erwähnt - und dann bringt man letztlich doch noch einen politischen Punkt unter.

Es gehe darum, dass die Welt der Reichen und Wohlhabenden auf eine Weise gezeigt wird, dass sie sich nicht mehr als privilegierter unbekannter Block von der Gesellschaft abschirmen kann, sondern dass diese Welt mehr einbezogen werde und ihren Tribut für die Gesellschaft stärker beisteuere.

Die Schwellen, die man neu aufgestellt hat, seien "eine wichtige Referenz, um zu sehen, wer zur kollektiven Solidarität beitragen kann", so Louis Marin. Die Politik könne nicht bei dem bequemen Satz stehenbleiben: "Der Reiche ist immer der andere."