System Fußball: Spielen um jeden Preis

Alarmierender Missbrauch von Schmerzmitteln und Opioiden - Mannschaften und Trainer unter Dauerdruck, Ibuprofen an der Tagesordnung, Experten sehen "verkapptes Doping"

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"Ich bin 26 Jahre alt und habe über mehrere Monate (…) Schmerzmittel genommen. (...) Ich habe mir Ibus reingeballert, sodass ich spielen konnte. (…) Schmerzmittel sind eine Sucht wie Alkohol und Drogen."

Das Bekenntnis findet sich auf der Plattform "Pillenkick", die dieser Tage von sich reden macht. "Spielen" meint: Kicken. Über tausend Fußballerinnen und -fußballer haben sich an einer Befragung des Rechercheteams Correctiv und der ARD-Dopingredaktion beteiligt. Ihre Geschichten reichen von Ibuprofen in hoher Dosierung bis hin zu Opioiden und gewähren einen Blick in ein brachiales System namens Amateurfußball, aber es kommen auch Stimmen von Professionellen und Kreisligisten zu Wort.

Spielen, um jeden Preis

Ein System, in dem Gesundheit nicht viel zählt. Pillenkick erzählt nach eigenen Worten "die Geschichte, wie die Fußball-Industrie tatenlos bleibt, während Fußballer von Schmerzmitteln abhängig werden." Das Problem: Sie wollen spielen, um jeden Preis. Sie sollen und wollen über ihr Limit gehen. Mit den Konsequenzen müssen sie meistens allein zurechtkommen.

Der Zeitraum der Umfrage lag zwischen Dezember 2019 und März 2020. Sogenannte verifizierte Antworten lieferten 1142 Teilnehmer und Teilnehmerinnen; die Teilnehmenden kommen aus unterschiedlichsten Regionen Deutschlands, und das zur Debatte stehende Problem ist sowohl unter Amateuren als auch Profis verbreitet.

Der Großteil der jetzt Befragten kommt allerdings aus dem Lager der Amateure (96 Prozent). Darin könnte man eine methodische Schwäche der Befragung sehen. Jedoch leuchtet ein, dass Profis mit ihren satten Gehältern sich weniger gern äußern möchten. Man darf zudem vermuten, dass der Erfolgsdruck, der hinter den erhobenen Aussagen sichtbar wird, gerade bei den Aufstiegswilligen eine besondere Rolle spielen dürfte.

Das Ergebnis ist deutlich: Mehr als 40 Prozent der Befragten würden nach Auswertung der Befragung Schmerzmittel zur Leistungssteigerung nehmen, rund die Hälfte greift mehrmals pro Saison zu den chemischen Helfern, 21 Prozent sogar einmal bis mehrmals pro Monat. Wie die ARD-Redaktion vergangene Woche wissen ließ, wurde im Rahmen des Projekts - zusätzlich zu der Umfrage unter Fußballern und Fußballerinnen - auch mit mehr als 150 Bundesliga-Spielern, Ex-Profis, Trainern, Team-Ärzten, Wissenschaftlern und Funktionären gesprochen.

Der Filmbeitrag (Geheimsache Doping: "Hau rein die Pille!") lief in der Sportschau und sorgte für Diskussionsstoff bis weit in die lokale Szene.

Die chemischen Helfer

November 2019. Freitagabend, Flutlicht. Der Fußball-Bezirksligist Rheydter Spielverein empfängt in Mönchengladbach den SV Lürrip. Der Gastgeber gibt sich vorbereitet: "Wir nehmen generell vor Spielen Schmerzmittel, mehr oder weniger die ganze Mannschaft", erklärt Kapitän Silvio Cancian (25) im Trainerzimmer. Er selbst habe schon lange nicht mehr ohne Pillen gespielt. "Man fühlt sich dann sicherer, wenn man Ibuprofen drin hat, als wenn man jetzt keine drin hat."

Die Pillenkick-Recherche befragt Einzelne, im Mosaik der Aussagen erscheint ein System. Wie sich zeigt, ist der Missbrauch von Schmerzmitteln offenbar an der Tagesordnung.

Das jedenfalls behauptet auch Neven Subotic (31), Profi des FC Union Berlin und langjähriger BVB-Verteidiger. "Ibuprofen wird wie Smarties verteilt." Über mögliche Folgen würden die Spieler nicht aufgeklärt. Es heiße dann: "Wenn du spielen willst, kannst du das nehmen, dann fühlst du dich gut, und dann spielst du."

"Die Tabletten holen wir meistens in Holland", sagt René Schmitz (35), der heute den Rheydter SV trainiert und früher beim FC St. Pauli spielte. Sein Co-Trainer Ferdi Berberoglu steuert etwas zur Wirkung bei: "Die werden durch die Schmerzmittel lockerer. Damit die diesen Druck loswerden", sagt er.

Jochen Kientz (47), Sportlicher Leiter des Drittligisten Waldhof Mannheim, hielt es als Profi ganz ähnlich. "Ich habe es auf jeden Fall übertrieben", sagt Kientz, der in Spanien, beim Hamburger SV, 1860 München und Hansa Rostock spielte. "Das ist Raubbau am Körper, und das schleppt man dann auch die Jahre danach mit."

Übermäßiger Konsum der "Smarties" kann das Herz, die Leber, die Nieren und den Magen angreifen. Verletzungen lassen sich mit den Tabletten gut verschleppen und werden dann unter der Hand chronisch. Mannschaftsärzte aus dem Profifußball haben das Problem angeblich erkannt, jedoch setzt der Arbeitsalltag oft genug die Maßstäbe; die medizinische Einschätzung der Mannschaftsärzte ist dann leider alles andere als bindend. Das Ergebnis: Spieler, die nach Verletzungen schneller als empfohlen wieder auf den Platz kommen. Trainer, die sich über die ärztliche Expertise hinwegsetzen.

Alarmierender Missbrauch

Einige Amateurspieler schildern drastische Erlebnisse, beschreiben ihre Abhängigkeit, berichten von "ständigem Verlangen", von "chronischen Entzündungen", "Blut im Stuhl" und "Leberwerten, die durch die Decke gehen". Andere lassen wissen, dass bei den Klassikern wie Ibuprofen, Aspirin, Diclofenac oder Paracetamol noch nicht Schluss ist: Spieler greifen auch zu synthetischen Opiaden wie Tilidin oder Traumadol. Beides Mittel mit Suchtpotenzial.

So wie Neven Subotic fordern unterdessen immer mehr Beobachter, Berichterstatter, aber auch Ärzte, Schmerzforscher und Spieler selbst endlich Aufklärung, ganz unabhängig von der Frage, ob Schmerzmittel auf einer Dopingliste stehen sollten. Für den Kölner Biochemiker und Dopinganalysten Hans Geyer ist der Konsum von Schmerzmitteln im Sport klar Doping. Die Kriterien "Leistungssteigerung" und "Gesundheitsgefährdung" sieht er "auf jeden Fall erfüllt".

Schmerz-Experte Toni Graf-Baumann, Ex-Berater des Weltverbandes FIFA und Mitglied der Anti-Doping-Kommission des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), prangert seit Jahren den alarmierenden Missbrauch an. "Da läufst Du gegen Mauern", sagt er. "Da spielen das Geld, die Sponsoren, die ausufernden Gehälter und auch die Medien eine viel größere Rolle für die Sportverbände als die medizinische Vernunft."