Die Forderungen des IWF: Respekt vor den Regeln der Marktwirtschaft erzwingen!

Bild Wolodymyr Selenskyi: Mykhaylo Markiv / The Presidential Administration of Ukraine / CC-BY-4.0 / Grafik: TP

Von Russland befreit, bis zum Ruin verwestlicht, von Krisen überrollt. Die Ukraine in den Zeiten von Corona - Teil 2 & 3

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Der IWF nimmt die Krise regelrecht als Gelegenheit wahr, die Erpressung zu verschärfen, mit der er die Selenskyj-Regierung seit ihrem Amtsantritt konfrontiert - neuen Kredit, im Hinblick auf die Corona-Krise sogar noch ein paar Milliarden Dollar mehr, gibt es nur bei der Zustimmung zu "Reformen", eine Erpressung, die umso wirksamer ist, als die Genehmigung des IWF-Kredits auch von Seiten anderer Kreditgeber zur Bedingung für den Zugang zu ihren Krediten gemacht wird.1

Der Fonds knüpft seine Hilfe ultimativ an die Verabschiedung von zwei Gesetzen, in denen er Meilensteine für den Weg des Landes in eine vernünftige marktwirtschaftliche Zukunft sieht, die freilich aus gutem Grund bislang nicht zustande gekommen sind: Die Landreform zwingt die Regierung dazu, den Ausverkauf des Landes voranzutreiben und das Bankengesetz dazu, gegen einen der mächtigsten Oligarchen vorzugehen. Beides zusammen treibt die Regierung in eine Machtprobe, die sie sich wirklich nicht bestellt hat. Die Wahl, vor die der Staatschef sein Parlament stellt, hat dann auch eine gewisse Ähnlichkeit mit der Alternative "Geld oder Leben!":

Infolge des Coronavirus ist unser Land tatsächlich an einem Scheideweg angekommen und zwei Wege stehen ihm offen. Der erste besteht darin, zwei lebenswichtige Gesetze zu verabschieden; danach würden wir von unseren internationalen Finanzpartnern Unterstützung in Höhe von mindestens 10 Milliarden USD erhalten. Das ist notwendig, um die Ökonomie des Landes zu stabilisieren und die Krise zu überwinden. Andernfalls, nämlich bei Nichtverabschiedung dieser Gesetze - das wäre der zweite Weg - käme es zum Verfall der Ökonomie und sogar zur Gefahr eines Staatsbankrotts.
(112.ua, 9.3.20)

Jetzt brauchen wir sie [die Unterstützung des IWF] wie Blut für den menschlichen Körper... Wären wir in anderen Zeiten, herrschte Ruhe, könnten wir darüber reden, ob sie für uns profitabel ist oder nicht.
(UNIAN, 18.4.20)

Die Landreform

Aus der Hoffnung, das aus planwirtschaftlichen Zeiten übrig gebliebene industrielle Inventar der Ukraine möge sich als Basis einer regen kapitalistischen Geschäftstätigkeit bewähren, ist zwar nichts geworden. Dafür aber, dass in der Ukraine nur die Schulden wachsen, ist das Land nach Ansicht des IWF eigentlich viel zu reich. Es verfügt nämlich nach Angaben der FAO über ein Drittel der Schwarzerde-Ressourcen der Welt, riesige Flächen fruchtbaren Bodens, aus denen sich ein ebenso riesiges Agrargeschäft machen ließe, wenn die ukrainische Regierung endlich den Skandal beseitigen würde, dass Grund und Boden im Land bis auf den heutigen Tag nicht frei handelbar sind. 30 Jahre nach seinem Abschied vom Kommunismus weigert sich dieser Staat immer noch, den uneingeschränkten Zugriff von Privateigentümern auf eine elementare Bedingung des kapitalistischen Geschäfts zuzulassen und rechtlich zu schützen; der Löwenanteil an Grund und Boden gehört immer noch einem staatlichen Bodenfonds als Erben der einstigen Kolchosen und Sowchosen, und ein staatliches Moratorium sorgt dafür, dass der Boden nur zu pachten, nicht aber zu kaufen ist, sodass ein gewaltiges Kapital brach liegt, eine potentielle milliardenschwere Beute für kreditstarke Spekulanten und tüchtige Agrarkonzerne.

Die "Reform", die der IWF bislang vergeblich fordert und die jetzt von der Selenskyj-Regierung in Angriff genommen wird, die Verwandlung von Grund und Boden in echtes Eigentum, verlangt nicht weniger als den Umsturz der bisherigen Macht- und Einkommensverhältnisse in der ukrainischen Landwirtschaft: Wenn große Agrarkapitale Rentabilität im Weltmaßstab durchsetzen,2 erwächst den Agraroligarchen eine existenzbedrohende Konkurrenz, von der sie bisher erfolgreich verschont worden sind; ebenso den kleinen und mittleren Bauern-Betrieben, die die lokalen Märkte zu Preisen beliefern, die das Volk sich leisten kann. Und eine nicht geringe Zahl von Landarbeitern wird einsehen müssen, dass sie im Vergleich zur "sophisticated" Landwirtschaft in anderen Ländern einfach zu viele sind.

Und weit über den materiellen Schäden steht dann schließlich der Schaden, den das ukrainische Nationalbewusstsein veranschlagt: die Auslieferung der heiligen Heimaterde an fremde Interessen. Aus allen gesellschaftlichen Abteilungen erwächst eine Ablehnungsfront und verstärkt das politische Lager, das ohnehin schon in den Reformprozeduren, die die vom Westen überall eingesetzten Berater und Funktionäre durchsetzen, nichts als eine demütigende und schädliche Fremdherrschaft entdeckt: "Je länger die Ukraine die koloniale Haltung des IWF toleriert, umso schlimmer wird es." (Medwedtschuk, 112.ua, 30.4.20)3

Dass das Land mit der blau-gelben Nationalfahne, nach allgemeinem Dafürhalten Symbol des herrlichen ukrainischen Himmels über dem blühenden Kornfeld, jetzt auch noch den Inbegriff des nationalen Reichtums ausländischen Geschäftemachern opfern, fremden Diktaten unterstellen soll, empört Patrioten in allen Ständen und einigt Macher wie Statisten in der Nation. Bauernproteste blockieren immer wieder die Autobahnen, der Aufruhr lässt sich in keiner Weise einfangen und strapaziert auch das demokratische Prozedere, mit dem die Regierung ihre Reform durchsetzen will, aufs Äußerste: Es hagelt tausende von Änderungsanträgen, um den Abstimmungsprozess im Parlament zu obstruieren.

Wir gehen bis zum Äußersten im Kampf unserer Bürger, damit das Land nicht einer Plünderung zum Opfer fällt, was die Regierung will und was der zynische IWF und der Soros-Fonds von der Regierung verlangen ... und viele andere, die schon lange ein Auge auf unser Land, auf unser Nationalvermögen geworfen haben und versuchen, es um jeden Preis zu rauben. Wir tun, im Rahmen des Gesetzes, alles Mögliche und alles Nötige, alles, was in unserer Macht steht, und wir werden weiterkämpfen, trotz aller Tricks, trotz aller Erpressungsmanöver, und trotz der Tatsache, dass die Autoritäten im Parlament Stimmung für dieses Gesetz machen und damit sowohl das Regulierungsgesetz als auch die Verfassung verletzen.
(Medwedtschuk: Government presses on our party so that we surrender, but we will continue struggle, 112.ua, 31.3.20)

Damit das Gesetz überhaupt durchkommt, nimmt die Regierung Änderungen vor, die den Gegnern der Bodenreform entgegenkommen: Der Verkauf an Ausländer ist erst ab 2024 erlaubt,4 was die Opposition aber keineswegs zufriedenstellt - die Fremden bräuchten ja nur einen ukrainischen Strohmann für die "Plünderung" der Nation. Selenskyjs eigene Partei zerlegt sich im Verlauf der Auseinandersetzung in Feinde und Befürworter der Reform, die sicher geglaubte parlamentarische Mehrheit ist dahin, sodass dem Präsidenten nichts übrig bleibt, als einen politischen Offenbarungseid zu leisten und die Reform ausgerechnet mit Hilfe der Partei Poroschenkos durchzudrücken - des Mannes, den er als Inbegriff der Korruption und des Vaterlandsverrats einzusperren und seine politische Karriere für immer zu beenden versprochen hatte.5

Die "Lex Kolomojskyj"

Seit Jahren fordern Ausland und IWF von der ukrainischen Regierung im Namen von freier Konkurrenz, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit, gegen Korruption und sogenannte "Monopole" vorzugehen. Zum Inbegriff der unsauberen Machenschaften, mit denen im Land aufgeräumt werden muss, ist der Fall Kolomojskyj geraten: Der Mann kommandiert ein Firmenimperium und war Inhaber der größten Bank des Landes, die vor fünf Jahren unter IWF-Ägide aus einer bedrohlichen Schieflage gerettet und mit mehreren Milliarden Dollar rekapitalisiert und saniert wurde. Unter Anwendung der goldenen Regeln der finanzkapitalistischen Vernunft nutzt der gerettete Oligarch die Gunst der Stunde und verschiebt die Sanierungsgelder aus dem zweifelhaften Geschäftsfeld Ukraine in sichere Offshore-Bankplätze. Das gilt in diesem speziellen Fall freilich nicht als kluges unternehmerisches Handeln, sondern als krimineller Missbrauch von IWF-Geldern: Die ukrainische Regierung wird wie vom Fonds verlangt aktiv, enteignet Kolomojskyj und überführt seine Bank in Nationaleigentum.

Der klagt sich seitdem für die Wiederherstellung seiner Rechte durch sämtliche nationalen und internationalen Instanzen, keineswegs ohne Aussicht auf Erfolg, was den IWF zu einer entschiedenen Demarche in Kiew veranlasst: Solange Selenskyj nicht mit einem neuen "aggressiven" Bankengesetz ("Lex Kolomojskyj") dafür sorgt, dass der Oligarch vor Gericht keinerlei Chance auf Restitution seines Eigentums oder Kompensation seines Schadens hat,6 überlässt der Fonds die Ukraine ihrer Zahlungsunfähigkeit.

Der Verein aus Washington wird in dieser Affäre so prinzipiell und intransigent, weil hier erstens der Diebstahl seiner Gelder vorliegt, der zweitens auch noch Recht zu bekommen droht, womit seine Autorität über die weltweiten staatlichen Schuldner-Gläubiger-Verhältnisse offen missachtet wird. Diese Autorität muss wiederhergestellt und am Schuldigen ein Exempel statuiert werden, und nicht nur an dem, sondern auch an der zuständigen Staatsgewalt, die offensichtlich nicht dazu willens oder in der Lage ist, die IWF-Definition der Rechtslage durchzusetzen. Für dieses hohe Ziel und so lange wie nötig muss dann eben auch diese Staatsgewalt in ihre dank Corona immer dramatischere Schuldenkrise befördert werden.7

Die ukrainische Regierung pariert und versucht ihr Glück mit dem verlangten "aggressiven" Gesetz, gerät dabei aber in einen harten Konflikt: In eben dem Parlament, das die "Lex Kolomojskyj" demokratisch absegnen soll, sitzen dutzende Abgeordnete, die im Sold des Oligarchen stehen und ihre Rechte nutzen, um das Gesetzgebungsverfahren zur Farce zu machen, unterstützt von Kollegen, die nicht unbedingt etwas für Kolomojskyj übrig haben, aber keinesfalls gewillt sind, sich als "Kolonie des IWF" aufzuführen und die jetzigen Besitzer ukrainischer Banken unter die Kuratel der Nationalbank zu stellen. Beide gemeinsam versuchen, die Beschlussfassung mit Änderungsanträgen zu torpedieren, am 6. April sind es bereits 16 000. Selenskyj und die Seinen operieren mit der bewährten Mischung aus Erpressung und Stimmenkauf, müssen aber auch noch gewisse Rechte des Parlaments aushebeln, von wegen Beratung der eingereichten Änderungsanträge - "Die 16 000 Änderungsanträge werden uns nicht schrecken und werden die wichtige Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und dem IWF nicht aus der Bahn werfen." (112.ua, 2.5.20) - und berufen sich dabei explizit auf den Notstand: Der Fraktionsvorsitzende von Selenskyjs Partei, Arachamia, bestreitet nicht einmal die Behauptung der Gegner des Gesetzes; stellvertretend für viele Julia Timoschenko: "Das ist ein Gesetz, das den Verlust der Souveränität der Ukraine bestimmt" - er argumentiert mit der verloren gegangenen Souveränität.8 Das Parlament soll sich das endlich eingestehen.