Wie gefährlich ist Covid-19 im Vergleich zur saisonalen Grippe?

Die Letalität von Covid-19 ist wahrscheinlich fünf- bis zehnmal höher als bei der Influenza

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In einer ersten Bilanz habe ich am 17.4.2020 in Telepolis beschrieben, dass es sich bei Covid-19 um eine gefährliche neue Viruserkrankung handelt. Grundlage dieser Einschätzung waren nicht so sehr Zahlen und Statistiken, die bis heute teilweise verwirrend sind, sondern vor allem die praktischen Erfahrungen, die die Behandler in den Kliniken mit der neuen Covid-19-Patientengruppe gemacht haben.

In einem zweiten Artikel habe ich dann am 7.5.2020 dargestellt, dass das Virus im menschlichen Organismus "vom Kopf bis zu den Zehen" schwere Zerstörungen und erhebliche Schäden anrichten kann. Diese betreffen vor allem die Lunge, aber auch andere Organsysteme wie Herz und Kreislauf, Nieren, das Gehirn und die Blutgerinnung.

Auch wenn es sich dabei um noch vorläufige Erkenntnisse aus den letzten Monaten handelt, die von vielen Ärzten und Wissenschaftlern weltweit zusammengetragen worden sind, so gibt es doch aus meiner Sicht keinen Zweifel daran, dass wir Covid-19 nicht unterschätzen oder auf die leichte Schulter nehmen dürfen.

In den letzten Monaten sind allerdings auch eine Reihe von Veröffentlichungen in von mir bisher geschätzten alternativen Medien ins Netz gestellt worden, in denen die Position vertreten wird, dass eine besondere Gefährlichkeit von Covid-19 wissenschaftlich nicht belegt sei und die Sterblichkeit durch Covid-19 im Bereich der saisonalen Grippe (Influenza) liege.

So heißt es zum Beispiel in einem Artikel, der am 12.6.2020 im Magazin Rubikon erschienen ist: "Inzwischen liegt eine Vielzahl weiterer Studien vor, die zeigen, dass die Letalität von Covid-19 (IFR) bei insgesamt circa 0,1 Prozent und damit im Bereich einer starken Influenza liegt." Deshalb seien besondere Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, die in der Mehrzahl aller Ländern beschlossen worden sind, wie Ein- und Ausreise-beschränkungen, Quarantäne/ Lockdown, Verbot von Massenveranstaltungen, Ausrufung des Notstands und Ausgangssperren nicht notwendig.

Was ist von derartigen Positionen zu halten, die in dieser oder ähnlicher Form auch von anderen Autoren in alternativen Medien vertreten werden?

Da die Corona-Pandemie zuallererst ein medizinisches Problem ist, werde ich mich im Folgenden mit der Frage beschäftigen, welche Schlüsse aus den vorliegenden Daten und Statistiken hinsichtlich der Gefährlichkeit von Covid-19 im Vergleich zur saisonalen Grippe jenseits der schon von mir geschilderten klinischen Erfahrungen zu ziehen sind.

Dabei ist mir natürlich bewusst, dass diese Betrachtungsweise nur eine, und nicht die einzige Rationale ist, von der die getroffenen und weiterhin zu treffenden politischen Entscheidungen zum Umgang mit der Corona-Pandemie in unserem Land abhängig gemacht werden können und sollten.

Morbidität, Mortalität und Letalität

Selten waren Zahlen, Daten und Statistiken so gefragt wie jetzt in der Corona-Krise. Politiker rechtfertigen damit die von ihnen getroffenen einschneidenden Maßnahmen, Corona-Skeptiker ihre Ablehnung der erfolgten Lockdown-Maßnahmen und "Normalbürger" suchen eine Antwort auf die entscheidende Frage, wie gefährlich denn das Virus wirklich ist.

Für die Beantwortung dieser Frage und eine vernünftige Einordnung der aktuellen Daten zum Infektionsgeschehen, die uns täglich in den Medien geliefert werden, sind zunächst die in der Überschrift dieses Abschnitts genannten sozialmedizinischen Begriffe zu klären, die für eine korrekte Beurteilung unabdingbar sind.

Unter Morbidität, auch Prävalenz genannt, versteht man die Zahl der Erkrankungen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ein anderer Ausdruck dafür ist die Krankheitshäufigkeit.

Mortalität bedeutet die die Zahl der Gestorbenen pro Jahr im Verhältnis zur mittleren Gesamtbevölkerung, angegeben zum Beispiel pro 100.000 Personen aus dieser Gesamtheit.

Letalität ist die Zahl der Gestorbenen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Erkrankungen pro Jahr. Sie bedeutet also die Sterberate unter den Erkrankten. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der Case Fatality Rate (CFR) und der Infection Fatality Rate (IFR).

Case Fatality Rate (CFR), auch Fallsterblichkeitsrate oder Fall-Verstorbenen-Anteil genannt, bedeutet die Sterblichkeitsrate unter definierten Fällen von Erkrankungen. Die CFR gibt also den Anteil der Personen mit einer bestimmten diagnostizierten Erkrankung an, die sogenannten Fälle, zum Beispiel die durch PCR-Tests gesicherten Fälle von Covid-19, die gestorben sind, im Verhältnis zur Gesamtzahl derjenigen Infizierten, die diagnostiziert worden sind.

Eine hohe Dunkelziffer nicht diagnostizierter Fälle lässt den Fall-Verstorbenen-Anteil jedoch höher erscheinen als die tatsächliche Letalität der Krankheit. Dieser Anteil ist von vielen Faktoren abhängig, insbesondere von der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens, aber auch von der Häufigkeit und den Modalitäten der Testung. Die CFR ist deshalb von Land zu Land wegen der vorliegenden unterschiedlichen Bedingungen nur schwer zu vergleichen.

Infection Fatality Rate (IFR), auch Infizierten-Verstorbenen-Anteil genannt, ist eine verwandte Maßzahl, die bei den Fallzahlen im Nenner auch die nicht durch PCR-Tests diagnostizierten Fälle miteinschließt. Diese können durch andere Testverfahren, wie zum Beispiel Tests auf Antikörper, ermittelt oder durch epidemiologische Modellrechnungen abgeschätzt werden.

Wenn der Begriff der Letalität im Zusammenhang mit Covid-19 oder der saisonalen Grippe in den Medien verwendet wird, ist vielfach allgemein von einer "Sterberate" die Rede. Definition und Bezugsgrößen, zum Beispiel, ob es sich bei den Angaben um die CFR oder IFR handelt, werden dabei aber häufig nicht genannt, vermischt oder verwechselt. Das ist ein wesentlicher Grund für viele Verwirrungen, die auf diesem Gebiet herrschen.

Wie tödlich ist die saisonale Grippe?

Hier muss zunächst einmal klargestellt werden, dass die häufig angegebene Letalität der saisonalen Grippe von 0,1 bis 0,2 % ein sehr grober Schätzwert ist. Bei dieser Angabe handelt es sich um eine IFR, bei der sowohl die Werte für den Zähler als auch für den Nenner des Bruches Ergebnis voneinander unabhängiger Schätzungen sind.

Der Zähler ergibt sich nicht aus einer direkten Messung wie bei Covid-19, sondern aus einer Abschätzung der für Influenza assoziierten Übersterblichkeit (Exzess-Mortalität), und der Zahlenwert für den Nenner ergibt sich aus der geschätzten Zahl der mit dem Grippevirus-Infizierten pro Jahr.1

Influenza assoziierte Übersterblichkeit (Exzess-Mortalität) in Deutschland für die Saisons von 2007 bis 2019. Daten: RKI / Grafik: TP

Das hier dargestellte Tableau zeigt die für Influenza assoziierte Übersterblichkeit (Exzess-Mortalität) in Deutschland für die Saisons von 2007 bis 2019.2 Da in Deutschland einerseits keine grundsätzliche Meldepflicht für Atemwegserkrankungen besteht und zum andern bei Todesfällen Influenza-Diagnosen nur selten in den Totenscheinen aufgeführt sind und registriert werden (vergleiche die blau eingefärbten Säulen im Vergleich zu den schwarzen in dem obigen Tableau), sind Epidemiologen für die Erfassung der Anzahl der Todesfälle durch Influenza-Erkrankungen auf Schätz- und Modellrechnungen angewiesen.

Bei der im Tableau abgebildeten Übersterblichkeit oder Exzess-Mortalität der Influenza handelt es sich demnach um das Ergebnis einer statistischen Modellrechnung. Dabei werden von Wissenschaftlern des Robert Koch-Institutes (RKI) die Monatsdaten des Statistischen Bundesamtes zur Gesamtmortalität der Bevölkerung mit den Daten der Arbeitsgemeinschaft Influenza zum Verlauf der Grippewelle in Beziehung gesetzt.3

Das Tableau zeigt, dass die Schätzungen von Influenza-assoziierten Todesfällen stark schwanken können. In der Influenza-Saison 2017/18 war sie zum Beispiel sehr hoch und belief sich auf rund 25.100 Fälle. Dagegen war sie in den Jahren ab 2000 mehrfach sehr niedrig. Soweit zum Zähler des Bruches.

Der Zahlenwert des Nenners ergibt sich in Deutschland aus folgender Abschätzung: Nach jeder Grippesaison wird die Gesamtzahl der über das erwartete Maß hinausgehenden Arztbesuche aufgrund akuter Atemwegserkrankungen geschätzt. Daten des RKI deuten darauf hin, dass jeder zweite Erkrankte mit typischen Grippesymptomen zum Arzt geht. Davon ausgehend errechnet sich in etwa die Gesamtzahl der mit Grippe infizierten Patienten, wobei berücksichtigt wird, dass nicht jeder Infizierte erkrankt.4

Meine Darstellung soll deutlich machen, dass der auf diese Weise ermittelte Zahlenwert für die Letalität der saisonalen Grippe in Form einer IFR von etwa 0,1 % das Ergebnis zweier voneinander unabhängiger Schätzungen ist und starken jährlichen Schwankungen unterliegt.

In der aktuellen "List of human disease case fatality rates" der weltweiten Infektionskrankheiten finden sich für die saisonale Grippe folgende Angaben: Die CFR beträgt 2,3 % und die IFR 0,1 %. Eine IFR von 0,1 % bedeutet, dass 1 Person von 1000 Infizierten verstirbt. Dieser Wert wird jedoch angezweifelt, ist in der Diskussion und kann saisonal deutlich niedriger liegen, z. B. bei 0,04 %, wie es in einem lesenswerten Artikel von Justin Fox vom April 2020 ausgeführt ist.

Wie tödlich ist Covid-19?

Grundsätzlich muss zunächst festgestellt werden, dass es eine Vielzahl von Faktoren gibt, die die Corona-Pandemie von einer Grippewelle unterscheidet. Mit Sars-CoV-2 trifft ein neuartiges Virus auf eine nicht immune Bevölkerung, während bei der Grippe eine weitverbreitete (Teil)-Immunität besteht. Zudem haben wir gegen die saisonale Influenza einen Impfstoff, der bei einem großen Teil der damit präventiv Behandelten eine (teilweise) schützende Wirkung entfaltet. Diese die Schwere der Erkrankung abschwächenden Faktoren gibt es bei Covid-19 nicht.

Die Sterblichkeitsrate durch das Coronavirus (SARS-CoV-2) variiert stark zwischen den betroffenen Ländern.5 So belief sich die Fallsterblichkeitsrate (CFR) in Italien bis zum 12. Juni 2020* auf rund 14,5 Prozent. In Deutschland hingegen lag die CFR bislang durchschnittlich bei rund 4,7 Prozent.

Die kumulative Zahl der bestätigten Fälle der Lungenerkrankung COVID-19 beläuft sich derzeit (Stand: 12.6.2020) auf weltweit über 7,5 Millionen Erkrankungsfälle. Die Zahl der Todesopfer in Zusammenhang mit dem Coronavirus bis zu diesem Tag beläuft sich auf über 421.000. Das zugrunde liegende Coronavirus hat sich mittlerweile in mehr als 185 Ländern ausgebreitet. Außerhalb Chinas sind vor allem die USA, Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, das Vereinigte Königreich und zuletzt Russland und Brasilien betroffen.

Bei der weiteren Darstellung in diesem Abschnitt werde ich mich auf einen aktuellen Artikel zu diesem Thema stützen, der in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Nature am 16.6.2020 erschienen ist.6 Im Mittelpunkt der Erörterung, wie tödlich die neu aufgetretene Infektionskrankheit ist, steht die Feststellung der Infection Fatality Rate, der IFR.

Die IFR ist neben dem Schwellenwert der Herdenimmunität einer der bedeutsamen Zahlenwerte und hat Auswirkungen auf das Ausmaß einer Epidemie und wie ernst wir eine neue Krankheit nehmen sollten.

Robert Verity, Epidemiologe am Imperial College London

Inmitten eines Ausbruchs einer Infektion sei die Berechnung der genauen IFR eine Herausforderung, da man darauf angewiesen ist, die Gesamtzahl der Infizierten zu kennen - nicht nur diejenigen, die durch Tests bestätigt werden. Aber die IFR sei besonders schwierig bei COVID-19 zu ermitteln, sagt Timothy Russell, ein mathematischer Epidemiologe an der London School of Hygiene and Tropical Medicine.

Das liege zum einen daran, dass es viele Menschen mit leichten oder gar keinen Symptomen gibt, deren Infektion unentdeckt geblieben ist. Außerdem könne die Zeit zwischen Infektion und Tod bis zu zwei Monate betragen. Viele Länder hätten auch Schwierigkeiten, alle ihre virusbedingten Todesfälle zu zählen, sagt Russel.

Daten aus der frühen Zeit der Pandemie überschätzten, wie tödlich das Virus ist, und spätere Analysen unterschätzen meist seine Letalität. Zahlreiche Studien, die mit einer Reihe von unterschiedlichen Methoden arbeiten, schätzen ein, dass in vielen Ländern etwa 5 bis 10 Personen von 1000 mit dem SARS-CoV-2-Virus infizierten Menschen an COVID-19 sterben.

Die Studien, an die ich glaube, tendieren dazu, sich um 0,5 bis 1% zu konvergieren.

Timothy Russell

Aber einige Forscher sagen, dass die beobachtete Konvergenz hinsichtlich der IFR-Werte zwischen den Studien nur Zufall sein könnte. Um ein wirkliches Verständnis dafür zu haben, wie tödlich das Virus ist, müssen Wissenschaftler wissen, wie stark es verschiedene Gruppen von Menschen trifft.

Das Risiko, an Covid-19 zu sterben, kann je nach Alter, ethnischer Zugehörigkeit, Zugang zur Gesundheitsversorgung, sozioökonomischem Status und zugrunde liegenden persönlichen Risikofaktoren erheblich variieren. Es seien mehr qualitativ hochwertige Erhebungen unterschiedlicher Gruppen erforderlich, sagen die Forscher.

Die IFR sei auch spezifisch für eine bestimmte Bevölkerung und könne sich im Laufe der Zeit ändern, da die Ärzte mehr Erfahrungen im Umgang mit der Erkrankung sammeln, was sich dann auch auf die Sterberate auswirken könne.

Einige der ersten Hinweise auf das Ausmaß der Letalität des Virus wurden aus der Anzahl der bestätigten Fälle von Covid-19 in China gewonnen. Ende Februar dieses Jahres schätzte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein, dass dort 38 Menschen pro 1000 Menschen mit bestätigten Diagnosen gestorben waren. Das entsprach einer CFR von 3,8 %.

Die Fallsterblichkeitsrate (CFR) in der Stadt Wuhan, in der das Virus entstand, erreichte 5,8 %, d. h. bis zu 58 von 1.000 durch Test bestätigte Infizierte starben. Aber dadurch wurde die Letalität der Erkrankung überschätzt, weil sie nicht die vielen Menschen berücksichtigte, die infiziert waren, aber nicht getestet wurden, wodurch die tatsächliche Ausbreitung der Infektion verschleiert wurde.

Die Forscher versuchten, diese Lücke zu schließen, indem sie die IFR anhand von Modellen berechneten, die die mögliche Ausbreitung des Virus berücksichtigte. Das Ergebnis dieser frühen Analysen lag bei 0,9 %, das sind 9 Todesfälle auf 1000 infizierten Personen, mit einer Streubreite von 0,4 bis 3,6 %, so Verity.7 Er schätzte auf Grund seiner eigenen Modellierung die Gesamtzahl der Todesfälle in China auf insgesamt 7 Todesfälle pro 1000 infizierten Personen ein, d. h. die INR betrug 0,7 %. Diese stieg bei den älter als 60-Jährigen auf 3,3 % an.

Das Team von Russel nutzte auch Daten, die von einem großen Covid-19-Ausbruch auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess Anfang Februar gesammelt wurden, um eine IFR zu schätzen.8 Fast alle der 3711 Passagiere und Besatzungsmitglieder wurden mit PCR getestet, so dass die Forscher die Gesamtzahl der Infektionen, einschließlich asymptomatischer Infektionen, und der Todesfälle in einer bekannten Population feststellen konnten. Daraus schätzte das Team im Februar 2020 eine IFR von 0,6% oder 6 Todesfälle auf 1000 infizierte Menschen.

Angemerkt sei, dass Lorenz Borsche in einem Artikel in Telepolis im April 2020 berichtete, dass nach Worldometer-Daten mittlerweile 13 von 700 durch PCR-Test bestätigten Infizierten der Diamond Princess verstorben seien. Das ergebe eine ICR von 1,8 % für dieses Kollektiv.

Bevölkerungsweite Seroprävalenz-Untersuchungen auf Antikörper gegen das Corona-Virus sollen dazu beitragen, die IFR-Schätzungen weiter zu verbessern. Eine der frühesten Studien testete 919 Personen in der Stadt Gangelt in Nordrhein-Westphalen, wo in der Faschingszeit ein großer Corona-Ausbruch aufgetreten war.9 Von diesen Personen hatten etwa 15,5 % Antikörper gegen das Virus. Dieser Anteil war fünfmal höher als die Zahl der Infizierten in der Stadt, bei denen Covid-19 per PCR-Test diagnostiziert worden war. Auf Grund dieser ermittelten Werte wurde die IFR mit 0,36 % eingeschätzt. Die Forscher um Streeck stellten jedoch fest, dass die Studie auf einer relativ kleinen Fallzahl beruhte.

In einigen frühen Seroprävalenz-Studien seien Sensivität und Spezifität der verwendeten Antikörper-Testkits nicht ausreichend berücksichtigt worden, sagt Verity. Dadurch können die Zahlen bei den Infizierten höher und das Virus weniger tödlich erscheinen. Wenn andererseits Covid-19-Todesfälle unentdeckt blieben - ein Problem in vielen Ländern, die nicht alle Verstorbenen auf das Virus testen -, könne auch die Todesrate verzerrt werden.

In den letzten Wochen sind einige größere Seroprävalenz-Studien erschienen, die eine höhere IFR als frühere Studien ergeben haben. Eine Studie an mehr als 25.000 Menschen in ganz Brasilien ergab eine IFR von 1%.10

Bei einer weiteren Studie, in der mehr als 60.000 Menschen in ganz Spanien auf Antikörper getestet wurden, fand sich eine Prävalenz von 5 %. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wurde für Spanien die IFR auf etwa 1% geschätzt - oder 10 Todesfälle pro 1000 infizierte Personen.

Mehrere Forscher, darunter Russell und Verity, finden es interessant, dass eine wachsende Anzahl von Studien aus verschiedenen Regionen IFR-Werte im Bereich von 0,5-1% ergeben haben. Andere Wissenschaftler beurteilen diese Ergebnisse jedoch vorsichtiger und sprechen von einem möglichen Zufall.

Andere warten gespannt auf große Studien, die es erlauben, die Letalität in Abhängigkeit von Altersgruppen und Vorerkrankungen besser einzuschätzen, damit ein genaueres Bild entsteht, wie tödlich Covid-19 ist. Eine der ersten großen Studien, die die Auswirkungen des Alters berücksichtigte, wurde letzte Woche auf einem Preprint-Server veröffentlicht. Die Studie, die auf Seroprävalenz-Daten aus Genf, Schweiz, basiert, schätzt einen IFR von 0,6% für die Gesamtbevölkerung und eine IFR von 5,6% für Personen ab 65 Jahren.

Diesen Abschnitt möchte ich mit einem Zitat aus dem Artikel von Justin Fox beschließen, auf den ich schon oben bei der Erörterung der Letalität der Grippe Bezug genommen habe (Übersetzung durch den Autor).

Der Schweregrad von Covid-19 ist natürlich stark abhängig vom Alter. Die geschätzten IFR-Werte aus dem oben genannten Lancet-Artikel steigen auf über 0,5% erst nach dem 50. Lebensjahr an und auf über 13% für die über 80-Jährigen. Einen gewissen altersabhängigen Anstieg der Schwere der Erkrankung gibt es auch bei der saisonalen Grippe, aber dennoch scheinen die Risiken des Coronavirus mit denen der saisonalen Grippe nur bei Kindern vergleichbar zu sein. Für jede Altersgruppe über 20 Jahre ist die Letalität von Covid-19 - nach den Schätzungen des Lancet-Artikels und den saisonalen Influenza-Schätzungen des CDC - viel, viel höher.

Justin Fox

Ganz zum Schluss sei noch auf Fefes Blog verwiesen, auf den mich gestern eine Kollegin aufmerksam gemacht hat. Unter dem Datum Sat 20.6.2020 findet sich dort ein Link zu einer eindrucksvollen grafischen Visualisierung der Entwicklung der Zahl der weltweiten Todesfälle an Covid-19 im Vergleich zu verschiedenen anderen Todesursachen von Jahresbeginn bis Anfang Juni 2020. Während in diesem Zeitraum weltweit etwa 400.000 Menschen Covid-19 zum Opfer gefallen sind, wird die Zahl der Toten an Influenza auf etwa 90.000 geschätzt.

Fazit

  1. Im vorliegenden Artikel wird die Gefährlichkeit von Covid-19 mit der saisonalen Grippe anhand der Daten verglichen, die zur Letalität beider Erkrankungen vorliegen. Unterschieden werden muss zwischen der Case Fatality Rate (CFR) und der Infection Fatality Rate (IFR).
  2. Dabei ergibt sich, dass die IFR bei der Grippe meist in der Größenordnung von 0,1 bis 0,2 % angegeben wird. Das bedeutet, dass von 1000 Infizierten etwa 1 bis 2 Personen, die sich mit dem Grippevirus angesteckt haben, versterben. Es gibt aber auch Hinweise dafür, dass die IFR saisonal wesentlich niedriger ausfällt und z. B. mit 0,04 % eingeschätzt wird.
  3. Bei Covid-19 wird die IFR nach den neuesten Untersuchungen bei ca. 0,5 bis 1 % angenommen. Somit muss mit 5 bis 10 Toten von 1000 Infizierten, die sich mit dem SARS-CoV-2- Virus angesteckt haben, gerechnet werden. Das bedeutet, dass die Coronavirus-Infektion wahrscheinlich etwa fünf- bis zehnmal tödlicher ist als die Influenza.
  4. Der Unterschied hinsichtlich der Gefährlichkeit beider Virusinfektionen ist besonders bei alten Menschen ausgeprägt. Während die IFR in der durchschnittlichen Allgemeinbevölkerung mit ca. 0.6 % angenommen wird, beträgt sie bei über 65-Jährigen 5,6 %. Das heißt, bei dieser Altersgruppe muss damit gerechnet werden, dass 56 von 1000 infizierten Personen versterben.
  5. Wenn man die Daten zur Letalität von saisonaler Grippe und Covid-19 miteinander vergleicht, dann muss man sich darüber klar sein, dass sich die beiden IFR-Werte nicht nur quantitativ um wahrscheinlich bis zu einer Größenordnung unterscheiden, sondern auch qualitativ, so dass man Äpfel mit Birnen vergleicht. Der IFR-Wert bei der Influenza wird durch zwei von einander unabhängige Schätzungen generiert, während dem IFR-Wert bei Covid-19 direkte Messungen zugrunde liegen.
  6. Die Feststellung, dass die genannten Daten dafür sprechen, dass Covid-19 wesentlich gefährlicher ist als die saisonale Grippe, bedeutet aber nicht, dass die beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie außerhalb jeder Kritik stehen und in den nächsten Wochen und Monaten unverändert aufrechterhalten werden müssen.
  7. Nach drei Monaten Lockdown sehnen sich die meisten Menschen in Deutschland nach einer schrittweisen Beendigung dieser Maßnahmen. Von einem rationalen Standpunkt aus müssen diese Schritte zunächst einmal davon abhängig gemacht werden, wie die Pandemie weiter verläuft. Falls es Anzeichen dafür gibt, dass sich eine "zweite Welle" entwickelt, werden diese Fragen aus medizinischer Sicht anders zu beurteilen sein, als wenn das nicht der Fall ist, was wir alle erhoffen.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin- Gastroenterologie-, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin-, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Er ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Nikotin- und Tabakforschung e.V. (DGNTF) und arbeitet in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. Email: klaus-dieter.kolenda@gmx.de