Die Corona-Mauer ist gefallen, die Unsicherheit bleibt

Warten auf die Öffnung der Grenze. Foto: Ralf Streck

Spanien hat den "Alarmzustand" genauso merkwürdig beendet, wie er begonnen hat und das Chaos um Opferzahlen wird nicht aufgelöst

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Zum Sommeranfang um Null Uhr in der Nacht auf den heutigen Sonntag beendete Spanien den Alarmzustand. Und damit wurde auch die Mauer eingerissen, die 14 Wochen zwischen Spanien und Frankreich errichtet worden war und die das Baskenland und Katalonien geteilt hatte. Sie hatte beidseits der Grenzen für erheblichen Unmut gesorgt.

Als dann um Mitternacht die französische Polizei in Behobie und auf der anderen Flussseite in Behobia die spanische Nationalpolizei und die paramilitärische Guardia Civil die Absperrungen abräumten, kam dann ein wenig Feierstimmung auf. Mitten in der Nacht spazieren Menschen lachend über die Grenze, um den Vorgang zu feiern. Peio ging von Behobia nach Behobie in die Kneipe Xaia, um nach 98 Tagen mit Freunden ein Bier zu trinken.

Dass der Stadtteil Iruns im spanischen Baskenland und Urruñas im französischen Baskenland praktisch den gleichen Namen haben, zeigt die Verbundenheit beider Stadteile an, die durch eine Brücke über den Bidasoa verbunden sind. Das Leben findet hier beidseits der Grenze statt, die die Menschen nun schmerzlich zu spüren bekamen. Mehr als drei Monate war dieser Übergang wie viele andere komplett gesperrt. Auf weiter Flur gab es nur noch den Übergang auf der "Internationalen Brücke" zwischen Hendaye und Irun, auf der sich einst Hitler und Franco die Hand reichten.

Grenzbarrieren werden um 24 Uhr entfernt. Foto: Ralf Streck

Der Übergang wurde bisher streng von französischen und spanischen Sicherheitskräften bewacht und scharf kontrolliert. Für die Bewohner der Region wie Gema, die wie viele aus dem französischen Baskenland leben, aber im spanischen Teil arbeiten, war es eine grausige Zeit. Sie durfte zwar zur Arbeit über die Grenze, aber "das war eine tägliche Tortur". Der Übergang in Hendaye wurde zum Nadelöhr mit riesigen Staus am Morgen und am Abend.

Noch dramatischer war die Lage für Jean Pierre, der im französisch-baskischen Sara lebt und im spanisch-baskischen Bera arbeitet. Statt wie üblich 11 Kilometer und knapp 20 Minuten zurückzulegen, musste er 45 Kilometer über Hendaye fahren, reine Fahrzeit: eine Stunde. Dazu kamen lange Staus und Kontrollen. "Zwei Stunden musste ich für die Hin- und Rückfahrt täglich einrechnen", erklärt er. Er ist heilfroh, dass der Spuk jetzt vorbei ist. Verstehen konnte niemand hier die Grenzsperrung in einem "Europa ohne Grenzen", zumal die Infektionszahlen beidseits der Grenzen in Gipuzkoa und Lapurdi stets sehr niedrig waren. Hier wurden Stadtteile getrennt worden, Peio konnte seine Freunde und Maider ihre Familie monatelang nicht sehen.

Grenze Hendaye-Irun noch mit Kontrollen. Foto: Ralf Streck

Sicher, dass der Spuk nun wirklich vorbei ist, sind sich weder Gema noch Jean Pierre oder Peio. Sie befürchten, dass mit dem Touristen-Ansturm nun das Virus erst aus anderen Regionen eingeschleppt wird, es ein Aufflammen von Infektionen kommt und es spätestens im Herbst zu einem neuen Lockdown und Grenzschließungen kommen kann. Verstehen kann Peio die eiligen komplette Öffnung auch nicht. Er darf nun plötzlich nach Frankreich, darf sich im ganzen Land bewegen, doch bis heute durfte er noch nicht ins 15 Kilometer entfernte Bera, das in Navarra liegt, um seine Freundin zu sehen. Denn Grenzen zwischen Autonomen Gemeinschaften durften bisher auch nicht überschritten werden.

Es war ein Eiertanz, den die Regierungen im fernen Paris und Madrid aufgeführt haben. Dabei ist man sich beidseits der Grenze aber einig, dass das Vorgehen Frankreichs klarer, vernünftiger und einsichtiger war. Dass man in Spanien zunächst trotz eines absurden Alarmzustands, zunächst weiter arbeiten musste, hat niemand verstanden. Erst als die Todeszahlen explodierten, wurde ein realer Lockdown verfügt.

Doch der wurde nach nur 10 Tagen wieder gelockert und die Menschen erneut auf die Arbeit geschickt. Besonders abstrus empfanden es alle, dass man sich in Spanien außer zur Versorgung und zum Weg auf die Arbeit lange Wochen nicht auf die Straße begeben durfte. Auf der anderen Seite der Grenze durften Angehörige und Freunde in Frankreich mit Kindern oder zum Sport eine Stunde an die frische Luft. Sechs Wochen wurden in Spanien Kinder komplett in zum Teil dunkle Wohnungen verbannt.

Warten auf die Öffnung der Grenze. Foto: Ralf Streck

Und besonders der Madrider Eiertanz zieht sich bis heute durch. Zwischenzeitlich hatte Spanien sogar noch einen Quarantäne-Krieg mit Frankreich losgetreten. Den legte man heimlich still und leise bei. Und ganz plötzlich wurde die Grenze nun doch schon am 21. Juni geöffnet, statt am 1. Juli wie in Madrid eigentlich geplant war. Nur die Grenze mit Portugal bleibt bis zu diesem Datum noch geschlossen.

Es ist offensichtlich, dass der Schwenk in Madrid mit den fatalen wirtschaftlichen Prognosen zu tun hat. Wie kein Land in der EU soll demnach die spanische Wirtschaft in diesem Jahr um 14,4% einbrechen. Madrid tut, gegen die frühere Strategie, nun alles, um die Tourismussaison noch zu retten, denn die Ökonomie des Landes hängt zu 30% an den Urlaubern aus aller Welt. So durften vor einer Woche deutsche Urlauber schon wieder nach Mallorca fliegen, während der Baske Peio seine Freundin in der Nachbarregion nicht besuchen durfte. Verständlich ist das nicht.

Sicher ist sich der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez bei seinem neuen Kurs allerdings nicht, als er bei seiner samstäglichen Ansprache nun die "Neue Normalität" nach 98 Tagen im Alarmzustand eingeläutet hat. Er warnte: "Das Virus kann zurückkehren und wir könnten von einer zweiten Infektionswelle erfasst werden." Deshalb appellierte der Regierungschef an die Bürger, weiter vorsichtig zu sein, Masken zu benutzen, Abstand zu halten und sich häufig die Hände zu waschen.

Mit reichlich Selbstbeweihräucherung sprach er vom "unbekannten Virus", das "leise in unser Leben eingedrungen" sei. Niemand habe gewusst, "dass wir vor einer der größten gesundheitlichen Herausforderungen standen." Sánchez sprach von einem "Alptraum, der jedes Land heimgesucht hat." Oberstes Ziel sei es gewesen, Menschenleben zu retten, weshalb das Alltagsleben angehalten werden musste. "Wir haben es getan, und wir haben es gemeinsam getan und die Ausbreitung des Virus eingedämmt." Er verstieg sich sogar zu der Aussage, dass mit den Maßnahmen 450.000 Menschenleben gerettet worden seien. Wie er auf die Zahl kommt, ist völlig unklar.

Klar ist dagegen, dass tausende Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn Spanien wie Portugal frühzeitig Schlüsse aus den Vorgängen in Italien gezogen hätte. Die Verantwortlichen fabulierten im Februar aber davon, dass "Spanien nur eine Handvoll Fälle bekommen" werde.

Gesperrter Grenzübergang zwischen Irun und Hendaye. Foto: Ralf Streck

So schaut die sozialdemokratische Zentralregierung bis heute dabei zu, dass die Beschäftigten im Gesundheitswesen, für das die Regionen zuständig sind, ohne vernünftige Schutzausrüstung in den "Krieg" geschickt wurden, wie Sánchez gerne martialisch erklärte. Noch immer fordern sie vernünftige Ausrüstung, Arbeitsbedingungen und Bezahlung Die Zentralregierung schaute auch bis zum bitteren Ende dabei zu, dass die Rechtsregierung in der Hauptstadtregion tausende alte Menschen in Altersheimen sterben ließ. Denen wurde nach vorliegenden Protokollen die Einlieferung in Krankenhäuser verweigert. Nur wer eine Privatversicherung hatte, bekam noch medizinische Behandlung im Hospital.

Fast ein Fünftel aller Bewohner von Altersheimen verstarb in der Region Madrid, genau 7.690 von 42.523 Bewohnern. Und da man sich in Madrid bei der Zentralregierung schwertut, dies zu akzeptieren, führt die offizielle Todesstatistik für die Region nur 8.691 Corona-Tote. In dieser Frage ist sogar die rechte Regionalregierung ehrlicher, die schon im Mai von mehr als 15.000 sprach. Und so eiert die Zentralregierung auch weiter mit den Todeszahlen herum. Die wurden am Freitag plötzlich deutlich um mehr als 1000 auf 28.313 Todesfälle nach oben korrigiert. Zuvor hatte das Gesundheitsministerium zur einer weiteren Umstellung der Datenerhebung für zwölf Tage ausgesetzt. Näher an die Realität kommt man aber nicht, sondern verschleiert sie weiter. Sogar das Nationale Statistikamt (INE) spricht allein in der Zeit von 9. März bis zum 10. Mai von einer Übersterblichkeit von mehr als 48.000 angibt.

Der Chef-Epidemiologe des Gesundheitsministeriums, Fernando Simón, räumt inzwischen sogar ein, dass es etliche Coronavirus-Tote gibt, die nie getestet wurden und nicht in der Statistik auftauchen. Die Übersterblichkeit zeige aber auch die Menschen an, die aus Angst vor dem Virus nicht in Krankenhäuser gegangen sind oder wegen deren Überlastung gestorben seien. Weder die eine noch die andere Zahl bilde die Realität ab.