Der "Westen" - ein Auslaufmodell?

Bild: DoD

Große Aufregung in Deutschland: Die USA wollen mehrere Tausend Soldaten abziehen. Amerika verabschiede sich damit von der "transatlantischen Wertegemeinschaft", kritisieren Politiker und Medien - Ein Kommentar

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Mit dem angekündigten Truppenabzug demonstriert US-Präsident Donald Trump erneut seinen Unmut über die seiner Ansicht nach zu geringen deutschen Rüstungsausgaben. Diese Kritik ist, um mit ihm zu sprechen, "not fair": Schließlich ist die Bundesregierung gewillt, das Militärbudget auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts bis 2024 und auf die von den USA geforderten 2 Prozent bis spätestens 2031 zu erhöhen (so Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer Grundsatzrede am 7. November 2019 vor Studenten der Bundeswehr in München).

Jedoch geht das den Amis zu langsam. Ihre "Ansage", die Ausgaben bereits bis 2024 um 2 Prozent zu erhöhen, wird von Deutschland nicht befolgt. Richard Grenell, bis Juni Botschafter der USA in Berlin, erklärte in Zusammenhang mit geplanten weiteren Sanktionen gegen die Erdgaspipeline "North Stream 2": "Deutschland muss aufhören, die Bestie zu füttern, während es zugleich nicht genug für die Nato zahlt." Mit "Bestie" meint Grenell Russland.

Sanktionen der USA? Einmischung in innere Angelegenheiten! sagt Deutschland

Die USA attackieren seit langem die zweite Gasröhre durch die Ostsee zwischen Russland und Deutschland. Mit Einreiseverboten und dem Einfrieren von Vermögen der am Pipeline-Bau beteiligten Unternehmen schaffte es Washington bereits, die Fertigstellung zu stoppen. Denn welche international tätige Firma kann es sich leisten, vom amerikanischen Markt ausgeschlossen zu werden? Also zog die Schweizer "Allseas" ihr Verlegeschiff für die letzten Röhren zurück.

Trotzdem will Deutschland, und mit ihr die EU, an dem Projekt festhalten. Empört weist sie die amerikanischen Sanktionen als "Einmischung in innere Angelegenheiten" zurück. Wann hat es diese harsche diplomatische Zurückweisung schon einmal zwischen den NATO-Verbündeten gegeben?

Offenbar kracht es gewaltig zwischen der führenden Weltmacht und den europäischen Partnern. Ganz neu ist das aber nicht: das Atomabkommen mit dem Iran, die Verhandlungen zum Handelsvertrag TTIP, der Umgang mit Russland im "Ukraine-Konflikt", die ständigen Drohungen der USA gegen Europa, ihre Exporte mit Zöllen zu belegen, sind nur einige von vielen Punkten, in denen die "transatlantischen Partner" über Kreuz lagen und liegen.

Zwar hat es schon vor Trump eine Menge Material für Dissens gegeben. Und man sollte sich nicht täuschen - das "Yes, we can!" eines Barack Obama verdankt sich der gleichen Perspektive auf die Welt wie das Trumpsche "America first!". Denn jeder amerikanischen Regierung geht es darum, die allen anderen Staaten überlegene Weltmacht der USA zu behaupten und auszubauen. Ganz gleich, ob der Präsident Republikaner oder Demokrat ist.

Undankbare Europäer, unfaire Chinesen und dreiste Russen

Allerdings unterscheiden sich die Sichtweisen auf die aktuelle Lage. Trump und seine Republikaner sehen ihre USA von vielen Staaten übervorteilt. Mit Europa und China sind zwei wirtschaftliche Konkurrenten entstanden, die tatsächlich in einigen Bereichen den Amis das Wasser reichen können oder sie sogar überflügeln.

Die Europäer gelten daher als undankbar: Sie hat man schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und vor den bösen Russen "beschützt" (tatsächlich sie aufgerüstet, um eine europäische Front gegen den "Osten" aufzumachen). Und China agiert in den Augen der Amerikaner unfair: Das Land hat sich mit unlauteren Methoden und Kopien Anteile am Weltmarkt auf Kosten der Vereinigten Staaten erschlichen! Dazu kommt noch Russland, das zwar kein realer Sozialismus mehr ist, sondern ordentlich Kapitalismus praktiziert. Das aber auf Basis eines immer noch gewaltigen Militärapparats einschließlich Atomwaffen sich dem Führungsanspruch der USA verweigern kann - und dies auch tut, nicht nur in Syrien.

Aus dieser Sicht verbietet sich für US-Führer ein "Weiter so!" Vielmehr geht es darum, "klare Kante" zu zeigen. Dazu gehören dann regelmäßig starke und ganz undiplomatische Äußerungen: "Man würde jetzt nicht unbedingt an die EU denken, aber sie sind ein Feind." Trump benutzte das englische Wort "foe" - was Feind oder Gegner heißen kann. Der Präsident bezog sich dabei auf die aus seiner Sicht unfairen Handelspraktiken der Europäer. Und Deutschland lasse Millionen in die Kasse derer fließen, vor denen die USA die Deutschen schütze - ein Dauerbrenner-Vorwurf, lange vor dem Grenell-Zitat.

Ein Abzug, der zum Vorstoß wird

In diesen Rahmen passt nun der angekündigte Truppenabzug. Er schwächt nicht wirklich die NATO-Front gegen Russland. "Im vergangenen Jahr haben wir gesehen, dass die Vereinigten Staaten ihre Präsenz in Europa eigentlich verstärkt haben - mit mehr Truppen, mehr Übungen und mehr Ausrüstung", hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärt. Und definitiv beschlossen ist der Abzug auch noch nicht. Außerdem sollen einige Einheiten aus Deutschland nach Polen verlegt werden, verknüpft mit einem bilateralen Abkommen über eine Verteidigungskooperation. Ein weiterer Affront: gegen das Mehr-Staaten-Bündnis NATO, das Abkommen zwischen einzelnen Staaten ja erübrigt; und gegen Russland, weil weitere Truppen der USA direkt an seine Grenze postiert würden.

Die deutsche Öffentlichkeit schwankt zwischen Sorge um den Zusammenhalt des westlichen Bündnisses, Unverständnis über den amerikanischen Alleingang und der Hoffnung, Ende des Jahres würde Joe Biden zum Nachfolger Trumps gewählt - und dann kehre wieder "Normalität" zurück. Politiker wiederholen mantraartig, wie wichtig US-Truppen in Deutschland seien - für die Sicherheit in Europa, und auch für die Amis selbst. Kommentatoren befürchten das Ende der "transatlantischen Wertegemeinschaft", schätzen das Ganze aber auch als "Wahlkampfmanöver" Trumps ein.

Einzig "Die Linke" riskierte eine andere Sicht: "Wenn die Soldaten abgezogen werden, sollten sie gleichzeitig die US-Atombomben mitnehmen", empfahl Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Damit blieb er allerdings unter den Politikern allein. Auch eine neue Friedensbewegung ließ sich nicht vernehmen.

Schluss mit den Trittbrettfahrern!

Das Zähneknirschen der deutschen Machtinhaber ist nicht zu überhören: Sie können gegen die Aktionen der USA nichts unternehmen. Einmal mehr bekommen sie und die EU demonstriert, wie sehr sie vom überlegenen Gewaltapparat der Vereinigten Staaten abhängig sind. Nur mit ihm lassen sich die erfolgreichen Geschäfte weltweit absichern, können Deutschland & Co. ihre Handelsinteressen gegen andere Staaten vorteilhaft gestalten und durchsetzen. Es macht halt einen Unterschied, ob Frau Merkel mit einer NATO im Rücken verhandelt oder nur mit der Bundeswehr. Und entscheidender Truppensteller in dem Bündnis sind nun einmal die USA.

So hat Deutschland lange Zeit von der "westlichen Integration" profitiert, ist zum "Exportweltmeister" aufgestiegen und hat sich mit dem europäischen Binnenmarkt eine hervorragende exklusive Geschäftssphäre erschlossen. Auch diplomatisch ging man eigene Wege, zum Beispiel im Verhältnis zu Russland oder auch China. Man wechselte zwar nicht die Fronten, setzte jedoch eigene "Akzente", sprich: versuchte, durch "besondere Beziehungen" für sich Vorteile herauszuschlagen. Diese Tour praktizierten auch andere europäische Nationen wie Frankreich, Italien oder die EU in ihrer gemeinschaftlichen Außenpolitik.

Aufrüstung und Bündnisse schmieden: Sieht so ein globaler Rückzug aus?

Mit dieser - aus amerikanischer Sicht - "Trittbrettfahrerei" soll nun Schluss sein. Das ist nicht zu verwechseln mit einem Abschied der USA aus der NATO oder einem generellen Rückzug aus der Weltpolitik. Das würde ja auch gegen Trumps Schlager "America first!" sprechen. Denn damit formuliert er schließlich den Anspruch gegen die ganze Welt, dass in dieser Welt die amerikanischen Interessen vor allen anderen zu zählen haben. Also geht es um eine radikalere Definition des Anspruchs, überall auf dem Globus überlegen zu sein - und die Früchte dessen gefälligst mehr zu ernten als bisher.

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2020 dementierte denn auch US-Außenminister Mike Pompeo, man verabschiede sich aus der internationalen Gemeinschaft: Im Gegenteil, für die internationale Gemeinschaft tue kein Land so viel wie die USA, so Pompeo. Man habe die Ukraine bewaffnet und die baltischen Länder gegen Russland gestärkt. Gerade sei beschlossen worden, eine Milliarde Dollar in Osteuropa zu investieren im Rahmen der Drei-Meere-Initiative, "um freie Demokratien zu schützen". Die USA setzten sich dafür ein, das NATO-Budget auf 400 Mrd. US-Dollar zu erhöhen. Gegen den internationalen Terrorismus habe man über 80 Staaten zu einer Koalition vereinigen können, sowie 59 Staaten gegen das venezolanische Regime, so Pompeo. Die USA sicherten zudem die Straße von Hormus und das südchinesische Meer. Zusammengefasst: "Der Westen siegt, wir siegen zusammen."

Kein Abschied aus der internationalen Gemeinschaft: "America first" überall!

Für das gemeinsame Siegen müssen dann eben Staaten wie Deutschland auf Linie gebracht werden. Vor allem, wenn es gilt, gegen die zwei großen Hauptfeinde auf der Welt vorzugehen: Russland und China. Da vermissen die USA eine einheitliche Front - zumal die wirtschaftlichen Interessen diesen beiden Konkurrenten gegenüber auch sehr verschieden ausfallen.

Handelsbeschränkungen der Amerikaner gegen China folgt beispielsweise die EU nicht. Da bemühen sich die Europäer lieber, für ihre Unternehmen weiter günstige Geschäftsbedingungen aufrecht zu erhalten oder sogar zu erweitern, zum Beispiel durch ein exklusives Investitionsabkommen mit Peking. Was sich negativ auf die Geschäftschancen des amerikanischen Kapitals auswirken kann, dessen Beziehungen zu China ohnehin aus politischen Gründen vom eigenen Staat erschwert werden.

Wer verabschiedet sich also aus der "transatlantischen Wertegemeinschaft"? Eigentlich keiner: Die USA wollen diese "Gemeinschaft" stärker auf Linie bringen, sie für ihr Vorgehen gegen ausgemachte Gegner in der Welt viel mehr in die Pflicht nehmen. Mit den vielstimmig beklagten Alleingängen und nicht abgesprochenen Aktionen demonstrieren die Amerikaner ihre überragende Macht, was sie autonom überall in der Welt veranstalten können. Mit "Isolationismus" hat das nichts zu tun. Trump definiert die verschworene Staatentruppe einfach neu: Sie hat für ihn nur dann einen Wert, wenn sie sich für "America first!" einspannen lässt.

Europäischer Eiertanz: Zwischen halbherzig mitmachen und harsch ablehnen

Die führenden Mitglieder auf europäischer Seite, Deutschland und Frankreich, verstehen das auch durchaus richtig. Trotzdem können sie auf die Hilfe der USA bei der Absicherung der für sie so nützlichen Weltordnung nicht verzichten. Und gleichzeitig können und wollen sie sich in für sie wesentlichen Fragen der Außenwirtschaft und Außenpolitik nicht von den USA vorschreiben lassen, wie sie ihre nationalen Interessen verfolgen. Eine unschöne Situation für unsere europäischen Führungsmächte! Ihre Konsequenz zur Zeit: Sie versuchen, den bisher für sie so erfolgreichen Rahmen doch irgendwie aufrecht zu erhalten. Mehr Rüstung liegt ja durchaus auch in ihrem eigenen Interesse, die Erhöhung des Rüstungsetats fällt ihnen also so schwer nicht - eher schon die Frage, welche Waffen angeschafft werden sollen.

Zudem sind Konzessionen gegenüber amerikanischen Ansprüchen in der Weltpolitik möglich: Aktionen gegen gewählte, aber aus US-Sicht lästige Regierungen auf der Welt (Iran, Syrien, Venezuela, Bolivien) wären in manchen Fällen nicht unbedingt die eigene Option. Man kann das aber diplomatisch unterstützen oder sogar dabei mitmachen, um die USA freundlich zu stimmen. Und dabei versuchen, gleichzeitig noch irgendwie ein eigenes Profil zu wahren - ein Eiertanz, bei dem man kaltblütig Regierungen & Völker über die Klinge springen lässt.

Eine Grenze gibt es allerdings auch: Die Deutschen, die ansonsten am allermeisten versuchen, den Gegensatz, den die USA ihnen aufmachen, unter den Tisch zu kehren, wollen sich in der heiklen Frage ihrer Energie-Souveränität den Forderungen aus Washington nicht beugen. An "North Stream 2" halten sie trotz des amerikanischen Widerstands fest. Kein Wunder also, dass die westliche "Wertegemeinschaft" etwas bröckelt ...