"In der Gesellschaft ist keine Energie da, dem anderen einfach einmal "Danke!" zu sagen"

Robert Harting. Bild: privat

Olympiasieger Robert Harting über Corona, Olympia, soziale Ungerechtigkeit, Windeln, Eiweißshakes und das Finanzsystem - in seinem ersten Interview nach seiner Auszeit

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"Wir können nicht beeinflussen, an welchen Ort wir geboren werden", so eines von Robert Hartings Lebensmotti. Vorurteile sind seine Sache nicht, obwohl sie ihm wohl oft begegneten. Der bekennend atheistische 2-Meter-Mann Robert "Shaggy" Harting gehört zu den sehr wenigen im internationalen Spitzen-Sport, die ohne Rücksicht auf Verluste sehr oft eine klare Meinung bezogen. Der aus Cottbus stammende Diskuswerfer holte bei Olympia 2012 in London Gold und wurde unter anderem dreimal Welt- und zweimal Europameister gegen seinen sportlichen Duzfeind Piotr Malachowski aus Polen. Trotz vieler gesundheitlicher Krisen und persönlicher Schicksalsschläge kämpfte er sich immer wieder zurück. 2012, 2013 und 2014 wurde er unter anderem zum Sportler des Jahres gewählt - vor dem Formel 1-Helden Sebastian Vettel.

Sehr sympathisch und selbstironisch wirkten auf viele Fans wohl auch seine südeuropäische Gelassenheit und seine für Leistungsträger ungewohnten Bekenntnisse zu eigenen Schwächen, wenn er mal ein Spiel im Leben verliert: Bei Olympia in Rio de Janeiro 2016 erlitt der damalige Athletensprecher noch während der Qualifikation einen Hexenschuss, als er am Vorabend in seinem Zimmer mit dem Fuß den Lichtschalter betätigen wollte, wie er dann lachend gestand. Seit seinem Karriereende als Sportler beim ISTAF Berlin 2018 studiert er nun wieder an der Berliner Universität der Künste (UdK) und lebt als Vollbartträger und Fan von Union Berlin mit seiner jungen Familie in der Berliner Innenstadt. Das Interview wurde Anfang April nach der Entscheidung geführt, die OLympischen Spiele zu verschieben.

Sie sind bekannt für Ihren Einsatz für die Rechte der Sportlerinnen und Sportler. Wie bewerten Sie die Absage und Verschiebung von Olympia 2020 in Tokyo vor dem Hintergrund Ihres Engagements?

Robert Harting: Ich bin ja nur noch im Hintergrund tätig, zum Beispiel bei der Rule 40, dort geht es darum, den Athleten Raum zur Kommunikation zu geben, damit sie auch mit denjenigen kommunizieren können, durch die sie es geschafft haben, dort teilzunehmen. Beispielsweise auch zu der ganzen Corona-Situation und den Problemen mit Olympia ...

Der Spitzensport ist aber zur Zeit "außer Kontrolle" durch Corona, auch der Breitensport ist getroffen. Sport repräsentiert Gesundheit - wird diese Ruhepause zu einem großen Umdenken führen, gesellschaftlich, sozial ... Oder trügen die Anzeichen?

Robert Harting: Ich glaube, das ist momentan Aktionismus, aber es hat das Potential, sich über den Konsum von Sport und vor allem über eine gewisse soziale Binnenfähigkeit auch online zu verbreiten. Dann machen sich die Leute vielleicht einmal ein wenig mehr Gedanken ... Krisen bieten auch Chancen.

Aber vor allem Thomas Bach wurde nun von vielen Seiten stark kritisiert. Hat das IOC versagt?

Robert Harting: Es war nicht sehr souverän vom IOC!

Aber auch die Sprecher der Athlet/innen haben sich ja in der Öffentlichkeit in den letzten Tagen zurückgehalten - national wie international. Ein Versäumnis oder gerechtfertigt?

Robert Harting:Ganz klar: Das war ein Versäumnis. Aber niemand von uns oder vom AD e.V. ist nun mal Gesundheitsexperte und weiß auf Anhieb, was in solch einer Situation zu tun ist.

Der Sport geht in eine Richtung, die einigen Fans und Kritikern nicht gefällt: Finanzrekorde im Fußball, Katar ist der neue, große Player, autoritäre Staaten gewinnen an Macht auch in einigen Verbänden. Wird das alte Motto Brot & Spiele nun Wirklichkeit - und die im Dunkeln sieht man nicht, um es mit Brecht zu sagen?

Robert Harting: Hm, ich war ja nie philosophisch unterwegs, zumindest nicht bewusst. Es ist nun in der Tat so, dass diese Pandemie alltagsökonomische Dinge und kritisch-materialistische Kategorien wie Konsum und Wert neu definiert. Ich kann mir vorstellen, dass so ziemlich jede Sportart finanziell betroffen ist. Auch Fußball, natürlich. Die Menschen werden aufgrund ihrer Erfahrungen der nächsten Wochen viele Dinge anders beurteilen. Die Menschen, die ich meine - das können auch die sein, die im Sport-System arbeiten, wie zum Beispiel auch im Fußball. Auch die in hohen Positionen.

Und wer weiß das schon ... Vielleicht reicht es ja zur Besinnung. Die Vergabe-Problematik von Olympia ist ohnehin sehr skurril - es gibt viele Stimmberechtigte, die eine neue Uhr gebrauchen könnten!

Robert Harting: Vielleicht, und das ist meine Hoffnung, könnte man eventuell sogar davon ausgehen, dass durch die nun globalen und neuen Lebenserfahrungen, also durch Corona und durch die Folgen, mal ganz neue Prioritäten gesetzt werden. In der Zukunft! Und vielleicht sind diese ganz neuen Prioritäten, auch global gedacht, dann auch menschlicher.

In Israel aber zum Beispiel traut man dem IOC seit München 1972 nicht mehr, in Argentinien wird man die "Folter-WM" von 1978 nie vergessen, Samaranch war nachweislich mit Faschisten Seite an Seite, in der Seria A ist der Hitler-Gruß nach Torjubel fast normal, vor allem bei Lazio Rom, was Miroslav Klose auch stark kritisierte und dann von Fans beleidigt wurde. Leben manche Sport-Funktionäre in einer ganz anderen Welt, ohne Gedächtnis, ohne Menschenrechte?

Robert Harting: Es ist eben wie in der Finanzwelt! Oder auch der heutigen Kunstwelt. Es ist immer so, dass es Parallelsystemdenken hervorruft.

... auch andere Kulturbereiche haben sich ja stark verändert. Nach den Sexismus-Skandalen im Nobelpreis-Komitee für Literatur meinten manche Beobachter, auch solche Preise seien heute nicht mehr zeitgemäß. Sind auch große Wettbewerbe der großen Sportarten so nicht mehr zeitgemäß?

Robert Harting: Ich glaube, das kann man nicht gleichsetzen ... Beide Systeme bewirken ja etwas für ihre jeweiligen Anhänger! Ich glaube, dass große Veranstaltungen wichtig sind, um Globalisierung im Sport und durch Sport zu erreichen ... oder auch einfach gewisse Kulturszenen kurzweilig zu zentrieren, um Unterschiedlichkeit und Diversifikation wertzuschätzen.

Sie meinen auch, dass verschiedenste Menschen sich begegnen können?

Robert Harting: Es geht um die Art und Weise! Das wird alles zunehmend sensibler bewertet von den Menschen. Auch die Werte, um die es geht ... Darauf ist zu achten!

Müsste es nicht im internationalen Sport mehr sozialen Ausgleich geben, verstärkt durch die Corona-Folgen - afrikanische Sportler sind im Radsport immer noch unterrepräsentiert trotz einiger großer Talente, ähnlich in anderen Sportarten, die von finanzieller Herkunft bestimmt sind wie dem Motorsport, dem Tennis oder gar dem Polo, um es zuzuspitzen. Gibt es einen Sport der Reichen & einen der Armen?

Robert Harting: Ja, na, klar, so ist es! Man muss das doch nur bei den Laureus Awards in Augenschein nehmen: Was da nicht in Wohlstandsnähe ist, auch an anderen Sportarten zum Beispiel, manche nennen es verächtlich dann sogar "Bauernsportarten", das hat da keine Chance.

Aber auch Doping war immer wieder ein großes Thema in vielen Sportarten. Geht das Dopen munter weiter?

Robert Harting: Das weiß ich nicht. Der Planet ist nun mal von Menschen besiedelt und es gibt jene, die betrügen, und jene, die es nicht tun. Egal, ob im Sport oder in der Finanzwelt!

Sie beklagten auch oft den Verlust des Respekts. Fühlen Sie sich in der Gesellschaft von heute denn nicht mehr wohl?

Robert Harting: Ich stelle mir diese Frage ganz einfach nicht. Ich(!) bestimme mein Umfeld und damit meine gesellschaftliche Muse.

Wenn ein junger Mensch heute Spitzensportler werden will - würden Sie ihm abraten? Oder welche Ratschläge hätten Sie an ihn?

Robert Harting: Wenn Dein Bauch daran glaubt, dann werde es!

Im Sport von heute ist vieles "neu" - transsexuelle und intersexuelle Spitzensportler, "behinderte" Sportler, schwule Fußballer, schwerster sexueller Missbrauch in etlichen Sportarten. Ist der Sport von morgen ein anderer? Ein besserer?

Robert Harting: Ja, ich denke, das wird er sein! In gewissen Teilen zumindest ...

Sie dienten bei der Bundeswehr und sind Stabsunteroffizier. Was geht Ihnen als sehr weltoffener Mensch & Kämpfer für Demokratie durch den Kopf, wenn sie zum Beispiel von den Nazi-Skandalen beim KSK hören?

Robert Harting: Das habe ich nicht mitbekommen und kann dazu nichts sagen.

Es war in der Zeit publik, als Sie gerade Vater von Zwillingen wurden ...

Robert Harting: Wir Spitzensportler brauchen die Bundeswehr im Existenziellen. Sonst würden wir hier zum Beispiel kein Interview fuhren können.

Sie verloren einen guten Freund, als er in Afghanistan diente ... Apropos Respekt und die Mitmenschlichkeit: Sanitäter werden ja auch angegriffen, Reichsbürger schossen auf Polizisten, im Internet gilt hate speech als chic. Woher kommt der ganze Hass und die Respektlosigkeit nach Ihrer Meinung?

Robert Harting: Das liegt an der Ermüdung, der Ermüdung an der permanenten Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft. Es ist KEINE Energie da, dem anderen einfach einmal "Danke!" zu sagen. Oder einem anderen einfach dessen Erfolg zu gönnen!

Wir sind alle nur noch durstig nach Lob! Und dieser Durst, der wird nicht gestillt! Die Erfüllung fehlt vielen ...

Robert Harting: Als Konsequenz gönnen wir dem Gegenüber nichts.

Im Moment sind Sie aber eher Privatmensch - trotz Ihrer diversen Engagements. Wechseln Sie eigentlich die Windeln? Treiben Sie noch Sport? Schaffen Sie zumindest noch die 100kg-Langhantel?

Robert Harting: Windeln? Ja, sehr viele wechsele ich. Sport? Ich? Nein, sehr wenig, seit der Geburt.

Wirklich gar keinen mehr?

Robert Harting: Es kommt auf die Übung an. Viele Übungen sind es nicht mehr. Ich habe zu viel anderes zu tun. Zumal ich seit Jahresbeginn auch CEO meiner Sportkommunikationsagentur bin.

Haben Sie eigentlich den Eindruck, dass die Gesellschaft in den letzten zehn, zwanzig Jahren wirklich sportlicher geworden ist - oder tut sie nur so, durch Jogginghosen allüberall zum Beispiel?

Robert Harting: Hahaha, ja, der Style ändert sich nun mal ... Aber ich glaube, Gesundheit ist schon wichtiger geworden. Und dadurch ist vielen Menschen auch Sport wichtiger geworden.

Sie gelten auch als Kenner der Malerei. Welche Bilder, welche Maler drücken Ihre Gefühlswelt denn am besten aus?

Robert Harting: Ich bin kein Kenner!

Kein falsches understatement, Herr Harting!

Robert Harting: Ich setze mich nur mit Gestaltung auseinander.

Die wichtigste Frage nicht nur für Jogginghosen-Trägerinnen und -Träger nun zum Schluss: Wieviel Eiweiß haben Sie eigentlich pro Tag zu sich genommen? Braucht man wirklich Aminosäuren? Oder reicht die Rocky-Methode: pures, flüssiges Ei im Glas?

Robert Harting: Hahahaha ... Das soll jeder mal schön selbst für sich entscheiden! Man kann das alles selber herausfinden ... Nicht nur das!