Covid-19: Was bedeutet Übersterblichkeit?

Bild: NIAID /CC BY-2,0

Nach einer US-Studie ist mehr als ein Fünftel der exzessiven Todesfälle nicht direkt mit Covid-19 verbunden. Wird Covid-19 also unter- oder überschätzt?

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In der 14. Woche (30.03.2020 - 05.04.2020), also in der Hochzeit der Covid-19-Pandemie, gab es nach Euromomo eine Übersterblichkeit von 88.747 Toten. Das ist mehr als die 2017 erfasste Übersterblichkeit in der ersten Januarwoche 2018 mit 66.071 und der 10. Kalenderwoche von 65.193 Toten. Dazwischen fiel die Übersterblichkeit auf 60.000 Tote.

Die Übersterblichkeit verdankte sich der 2018 nach RKI-Angaben schlimmsten Grippewelle seit 30 Jahren mit dem Influenzavirus B Yamagata, wobei die Influenza-bedingten Exzess-Todesfälle in Deutschland geschätzte 25.100 in der Grippesaison 2017/2018 betrugen. Nach dem Statistischen Bundesamt gab es 2018 in der 10. Kalenderwoche einen Peak mit 21.299 Todesfällen, 2020 während Covid-19 in der 14. Kalenderwoche mit 20.556 Toten.

Im März 2020 ist bei einer monatsweisen Betrachtung kein auffälliger Anstieg der Sterbefallzahlen im Vergleich zu den Vorjahren erkennbar. Im April lagen die Sterbefallzahlen allerdings deutlich über dem Durchschnitt der Vorjahre; seit Anfang Mai bewegen sich die Sterbefallzahlen wieder etwa im Durchschnitt.

Statistisches Bundesamt

Besonders auffällig ist die Übersterblichkeit in Deutschland im Unterschied zu anderen Ländern wie Italien, Spanien, Großbritannien, Schweden, Belgien oder den Niederlanden. Aber nach Euromomo betrifft die Übersterblichkeit keineswegs nur die ganz Alten, sondern auch die 45-64-Jährigen und sogar die 15-44-Jährigen. Ab der der 20. Kalenderwoche sind die Mortalitätszahlen normal.

In Deutschland gleicht Covid-19 eher einer schweren Influenza-Welle. Man muss aber davon ausgehen, dass die Empfehlungen und dann die Anordnungen die Covid-19-Welle deutlich gebremst haben. Schließlich sind auch andere Infektionskrankheiten wie eben Influenza zurückgegangen, das RKI stellte einen "abrupten Rückgang der Raten an Atemwegserkrankungen in der deutschen Bevölkerung" fest.

Aber was bedeutet Übersterblichkeit? Darüber gibt es schon lange Streit, denn nicht alle exzessiven Todesfälle gehen auf Covid-19-Infektionen zurück, schon gar nicht ursächlich. Während manche monieren, dass zu wenige Todesfälle mit Covid-19 verbunden werden, kritisieren andere, dass Menschen, die mit einer nachgewiesenen Covid-19-Infektion gestorben sind, auch deswegen ums Leben gekommen sind.

Interessant ist diesbezüglich eine Studie über die Übersterblichkeit in den USA von Wissenschaftlern der Virginia Commonwealth University und der Yale University, die im Journal of the American Medical Association (JAMA) veröffentlicht wurde. Vom 1. März bis zum 30. April gab es 95.235 exzessive Todesfälle, wenn man den Durchschnitt der erwarteten Todesfälle der letzten 5 Jahre zugrundlegt. Davon seien nur 78 Prozent direkt mit Covid-19 verbunden. 22 Prozent würden mithin eine andere Ursache haben.

In 14 Bundesstaaten, darunter Texas und Kalifornien, würden über 50 Prozent einer anderen Todesursache zugeordnet werden, weswegen die wirklich Zahl der Covid-19-Mortalität unterschätzt werde. Aber es bleibt schwierig, ob jemand, der eine Covid-19-Erkrankung hat, daran oder an einer Herzerkrankung verstorben ist, die etwa als Todesursache angegeben wurde. Es komme auch darauf an, wo gestorben wurde. Möglicherweise wurden mehr Patienten in Pflegeheimen als Zuhause auf Covid-19 getestet.

Covid-19 gilt als eine multimorbide Krankheit, die viele Organe befallen kann. In den USA starben im März und April auch viele Menschen an Diabetes, Herzerkrankungen oder Alzheimer auch in den Bundesstaaten, in denen die Covid-19-Todesfälle in die Höhe schossen. Todesfälle durch Diabetes steigen in diesen um 96 Prozent an, durch Alzheimer um 64 Prozent, durch Herzerkrankungen um 89 Prozent oder durch Schlaganfall um 35 Prozent. In New York City nahmen die Todesfälle durch Herzerkrankungen und Diabetes sogar um 350 Prozent zu.

Unbekannt ist, ob alle Toten getestet wurden, aber es gebe wahrscheinlich auch eine "indirekte Mortalität". Menschen, die nicht infiziert sind, können eben auch anderen Ursachen sterben, die aber mit der Reaktion auf Covid-19 zu tun haben. Beispielsweise wegen einer aufgeschobenen medizinischen Behandlung, wegen wirtschaftlichem Druck oder emotionalem Stress. Auch die Angst vor einer Ansteckung halte die Menschen ab, zum Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen. Und dann gebe es noch psychische Störungen, die durch den Lockdown verstärkt werden können.

Man müsse jedenfalls untersuchen, wie viele Todesfälle durch Covid-19 verursacht wurden und wie viele indirekte Todesfälle es "durch gesellschaftliche Störungen" gegeben hat, die "den Zugang zu medizinischen Diensten verringert oder verzögert" haben. Dazu kämen gesellschaftliche Geundheitsbedingungen wie Einkommen, Jobs oder Ernährungssicherheit. Das ist vermutlich starker ein Problem in den USA, wo Menschen auch mit Symptomen nicht zum Arzt wegen der Kosten gehen, weil es in "God's own Country" dank der Republikaner und Trump keine allgemeine Krankenversicherung gibt.

Offen bleibt, ob Covid-19, zu späte Vorsichtsmaßnahmen, die Warnungen und Anordnungen oder die Überlastung des Gesundheitssystems für die Übersterblichkeit verantwortlich sind. Vermutlich wird der Streit also weitergehen, ob die staatlichen Anti-Covid-19-Maßnahmen angemessen oder überzogen waren, sie also Übersterblichkeit verhindert oder gefördert haben. Dass darüber kaum offen diskutiert werden kann, verdankt sich dem Trend, alles, was nicht regierungs- und mehrheitskonform ist, zu diskreditieren und als Verschwörungstheorien zu disqualifizieren, mit denen man sich gar nicht auseinandersetzen muss.