Coronavirus: Verschwörung Macht Theorie

Mit dem Begriff der Verschwörungstheorie werden unausgesprochen die Grenzen des erlaubten Diskurses abgesteckt

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Der Artikel problematisiert die Verwendung des Begriffs "Verschwörungstheorie" und seiner Derivate. Dieser Begriff steht beispielhaft für eine oberflächliche Behandlung komplexer Zusammenhänge. Seine Anwendung, wie hier beispielhaft im Zusammenhang der Corona-Pandemie gezeigt, unterscheidet häufig kaum zwischen fundierter, aber politisch unerwünschter Kritik und der Widergabe unentwickelter, konfuser Argumentationen. Der undifferenzierte Einsatz des Begriffs führt so zu Tabuisierungen im gesellschaftlichen Diskurs, die eine Aufklärung wichtiger Fragen blockieren.

Die Zäsur der Corona-Pandemiesituation braucht viel Mut zu einem unverstellten Forschen wie Prüfen, will sie konstruktiv bewältigt werden. Wie es in Krisenlagen häufig ist, haben Schwachstellen und Fehler im System besonders gravierende Auswirkungen, sie können damit aber auch besonders klar wahrgenommen werden. Das Ereignis der Pandemie ist in seiner Einbettung in den Gesamtzusammenhang kompliziert und verschachtelt. Ein kompetenter Umgang mit ihm wird vermutlich immer lückenhaft bleiben und erfordert dennoch ein hohes Maß an Sorgfalt. Es wird dieses "Mehr" oder "Weniger" im Bemühen um Kompetenz sein, das wahrscheinlich darüber entscheiden wird, ob wir den weiter begangenen Weg irgendwann in der Rückschau als gut bewerten werden können.

In den vergangenen Jahrzehnten ist ganz allgemein die Qualität in der gesellschaftlichen Behandlung von Problemen in erschreckendem Maße erodiert. Viele der öffentlich geführten Debatten sind Spiegel hiervon. Einer der Schlüssel, die das besonders gut aufzeigen können, ist der Umgang mit den Begriffen "Verschwörungstheorie" und Verschwörungstheoretiker". Kennzeichen ihres Gebrauchs ist eine miteinhergehende inhaltliche Verflachung, was bei komplexen Zusammenhängen schwerwiegende Auswirkungen hat.

Vielfach selbstgerechte Haltung und pure Behauptungen bei den Demonstranten

"Verschwörungstheoretiker" wurden beispielsweise die Teilnehmer an den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, die Anfang Mai begonnen haben, häufig tituliert, als "Verschwörungstheorien" ihre Äußerungen bezeichnet. In der Tat, so sieht es aus, haben sich viele von ihnen nicht gründlich mit der Situation auseinandergesetzt und so der Aufklärung, die sie repräsentieren wollten, einen Bärendienst erwiesen. Fundierte Forderungen und Kritik von anderen Menschen wird man nun viel leichter herabsetzen oder ignorieren können, indem alles in einen Topf geworfen wird.

Bei den Aussagen der zusammengekommenen Menschen wurden vielfach vorschnelle Kategorisierungen und Simplifizierungen sichtbar, sowie ein Mangel an Bereitschaft, sich Sachverhalten von komplexeren Ausmaßen zu stellen. Demonstranten, die sich gebärdeten wie Freiheitskämpfer, während sie vielfach lediglich ihr Ego bedienten, waren zu erkennen an hitzigen Phrasen, die einer inhaltlichen Überprüfung nicht standhalten. Frappierend war hierbei oftmals die Weigerung, eine Gesundheitsgefährdung durch das Corona-Virus auch nur als Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Emotionales Unbehagen wurde unreflektiert manifestiert, als wäre es ein Faktengerüst. Dazu wurden durchaus auch Bilder von Sklaven, von der Occupy-Bewegung verwendete Guy-Fawkes-Masken und gelbe Judensterne missbraucht, um die eingenommenen Positionen emblematisch zu überhöhen.

Schwerwiegende Anschuldigungen wie etwa zu einer Impfpflicht oder gegenüber Microsoft-Gründer Bill Gates und seiner Stiftung waren nicht sauber recherchiert. Die arrogante Vereinnahmung des Wahrheitsbegriffs diente der Blockade einer vertiefenden inhaltlichen Auseinandersetzung, dies mit durchaus ausgrenzender Wirkung: "Wer mir nicht folgt, ist dem System, den Herrschenden, … auf dem Leim gegangen." Als Subtext darf ruhig verstanden werden: Der hat es nicht begriffen, mit dem rede ich nicht. Oder, wie in Anspielung auf die US-Fernsehserie "Walking Dead" auf einem Plakat zu lesen war: "Sei kein Walking Depp".

Diese selbstgerechte Haltung entlarvt bei den so Agierenden nach außen projizierte Ängste und Unsicherheiten, aber auch starke hedonistisch gefärbte Egoismen. Wären die Demonstranten besonnener gewesen, hätten sie das Feld purer Behauptungen verlassen und mehr Fragen gestellt. Denn zu einer sicheren Beurteilung der Situation fehlen in vielerlei Hinsicht noch Informationen. Wie die Dinge liefen, haben sich die Demonstranten der Mühe einer Annäherung an die Wahrheit in zweierlei Hinsicht entzogen. Zum einen betrifft dies, sich eigenen Emotionen bewusst zu stellen, das ist der Bereich der Innenschau. Zum anderen wurde der Aufwand einer sorgfältigen Prüfung der zur Verfügung stehenden Information über das äußere Geschehen nicht in ausreichendem Maße vollzogen. Das zu tun ist allerdings zwingend notwendig, bevor mittels Anklagen schwere Geschütze aufgefahren werden.

Die Seite der Teilnehmenden, die sich in der beschriebenen Weise verhalten oder nicht verhalten haben, zeigt, dass psychische Faktoren die Grundlage jedweder menschlichen Äußerung bilden und daher Berücksichtigung erfahren müssen, wenn man eine Situation verstehen möchte. Was zunächst banal klingt, ist es in Wahrheit nicht. Denn unsere Kultur ist so sehr von der Ratio geprägt, dass unser Bewusstsein große Schwierigkeiten hat, mit den Seiten unserer Psyche umzugehen, die sich ihr zumindest teilweise entziehen. Diese sind der irrationale und der sensorische Bereich, aus dem Intuition und Empfinden sprechen. So sind wir geprägt von Einseitigkeiten, Unterdrückungen und Verdrängungen, was es erschwert, sich ein unvoreingenommenes Bild von einer Konfliktlage als Ganzes zu machen.

Kollektive Konditionierung

Das wird auch auf der anderen Seite deutlich, bei der Reaktion von außen auf die angesprochenen Demonstrationen. Der Begriff "Verschwörungstheorie" und seine Derivate werden von zahlreichen Medien wie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens nach dem Gießkannenprinzip ausgeschüttet, sobald ein gewisser Rahmen des Diskurses verlassen wird. Auffällig ist, dass es auch hierbei nicht um Inhaltlichkeit geht, sondern dass offenbar Maßstab für die Anwendung des Begriffs ist, ein unausgesprochen abgestecktes Feld verlassen zu haben, innerhalb dessen ein Diskurs erlaubt ist.

Auch wenn es gemein klingen sollte, sieht es so aus, als spielten in ihrer Erregung nicht wirklich präzise argumentierende Menschen wie die Demonstranten hier die Rolle der nützlichen Idioten. Sie dienen zur kollektiven Konditionierung auf die Art - "Schaut her, so sieht ein Verschwörungstheoretiker aus!". Dabei machen sie natürlich, Emotion und Unmut sei es geschuldet, eine eher unglückliche Figur. Will man nun auf der Grundlage Beiträge eines anderen Menschen als Unmöglichkeiten markieren, reicht der simple Ruf "Verschwörungstheorie!", um dessen Äußerungen einen Makel zu verleihen.

Darüber, wo die Grenzen eines erlaubten Diskurses sind und wer sie festlegt, wird nicht gesprochen. Das ist möglich, weil der Begriff "Verschwörungstheorie" auch dank der einsatzfleißigen Medien zu einem Codewort geworden ist, das jede weitere inhaltliche Auseinandersetzung abwürgt. Die entsprechend auf den Leim gegangenen Medien stehen somit für unzulässige Simplifizierungen und unreflektierte Kategorisierungen gleicher Art, wie sie die Demonstranten gegen die Corona-Maßnahmen einsetzen. So spiegeln sich beide Seiten in gewisser Weise wider. Beide Seiten besäßen damit auch für eine im Sinne der an Informationsabschottung Interessierten erfolgreiche Verwendung des Wortes eine Funktion. Passende Schablonen wären die einen, Multiplikatoren die anderen.

Es gibt Verschwörungen

Verlassen wir nun diese zwei Seiten und begeben uns zum Faktischen hin. Es gibt Verschwörungen. Es gab sie gestern und gibt sie auch heute. Wir haben von den Enthüllungen Edward Snowdens über den amerikanischen Geheimdienst NSA [National Security Agency] und kooperierende Partnerorganisationen erfahren, über die skandalöse Behandlung des NSU-Komplexes [gemeint sind die Aktivitäten der militanten rechtsradikalen Gruppierung Nationalsozialistischer Untergrund] seitens der ermittelnden Organe wurde ausführlich berichtet. Und wir haben Lobbyisten von einer Macht, dass sie Mitglieder von Regierungen zu Marionettenfiguren werden lassen.

Das sind alles Verschwörungen, ebenso wie mafiöse und Korruptionsstrukturen es auch sind. Sie alle folgen bestimmten Mustern, die als Elemente beinhalten: Desinformation und Manipulation zur Vorteilsaneignung oder Verdunkelung kriminellen Handelns, physische oder psychische Gewaltausübung. Es tue also bitte niemand so, als gäbe es Verschwörungen nicht, als sei eine Befassung mit diesem Phänomen per se Unfug.

Der Begriff der Verschwörungstheorie hat seit den Ereignissen des 11. Septembers 2001 eine öffentlich enorm wirksame Bedeutungseinengung erfahren, gleichzeitig wurde er von da an verstärkt eingesetzt, um kritisches Potential zu diskreditieren. Er genügte, um etwa den ehemaligen SPD-Staatssekretär Andreas von Bülow in die Ecke zu stellen, der Widersprüche in der offiziellen Darstellung der Hintergründe zur Attentat Serie in den USA identifizierte. Er genügte einige Jahre später auch, um den Schweizer Historiker Daniele Ganser mit seinen Untersuchungen geheimer Armeestrukturen in Europa als scheinbar obskure Figur zu brandmarken.

Auch wenn die Analysen der beiden an bestimmten Punkten Fehleinschätzungen enthalten sollten, ist das kein Grund, die Arbeiten mit Verweis auf verschwörungstheoretische Tendenzen herabzuwürdigen. Viele Analysen liegen zunächst nicht ganz richtig, und eine an sie anschließende Debatte kann dazu dienen, die Inhalte nach und nach richtig einzujustieren. Wird ein Beitrag allerdings als verschwörungstheoretischer Natur gekennzeichnet, kappt das jede weitere Auseinandersetzung. Menschen, die mit diesem Begriff in Verbindung gebracht werden, sind aus einer breiter geführten Debatte ausgeschlossen, und das kommt faktisch einer Zensur ihrer Argumente gleich. Auf subtile Weise wirkt diese Zensur auch, weil an diesen Menschen ein Exempel statuiert wird, und Kollegen deswegen vielleicht lieber den Mund halten, um nicht in eine analoge Situation zu geraten.

"Verschwörungstheoritiker" sind keine Theoretiker

"Verschwörungstheoretiker", das kann bedeuten: ein Mensch, der Verschwörungen strategisch plant. Oder auch: ein Mensch, der sich auf akademische Weise mit dem Phänomen von Verschwörungen befasst. Bei uns bedeutet das Wort: ein Phantast, der eine Bedrohung durch Mächte oder Mächtige sehen will, wo keine ist. Ein Wirrkopf also, der nicht mehr auf dem Boden der Wirklichkeit steht. Es ist klar, dass niemand in diese Schublade gesteckt werden will. Das macht den Begriff zu einem strategisch wertvollen Instrument, will man unliebsame Diskussionen abstellen.

Das Wort Theorie leitet sich ursprünglich aus dem altgriechischen theoréein ab, was mit "beobachten", "betrachten", "anschauen" übersetzt werden kann. Im wissenschaftlichen Sinne ist eine Theorie ein kausal schlüssiges Modell des Ausschnitts der Wirklichkeit, den es beschreibt. Allgemeiner wird "Theorie" auch als Kontrapunkt zur "Praxis" verwendet. Damit ist eine rein verbale oder begriffliche Befassung mit einem Thema im Gegensatz zu handfestem Tun gemeint. Aus etymologischer Sicht sind also die beiden ersteren der drei im vorigen Absatz genannten Bedeutungsmöglichkeiten passender, und weniger die dritte. Es scheint beinahe widersinnig, einen Menschen, der sich von der Betrachtung der Wirklichkeit zumindest teilweise abgewandt haben soll, Verschwörungstheoretiker zu nennen.

Aus wissenschaftlicher Sicht kommt eine Theorie nach der Hypothesenbildung - während eine Hypothese auf teils noch nicht miteinander verknüpften schlüssigen Hinweisen aufbaut, liegt einer Theorie bereits ein umfassendes mathematisch oder anderweitig logisch verifiziertes Gerüst zugrunde. Einmal formuliert, kann eine Theorie von entsprechend geschulten Menschen unabhängig ihres Urhebers nachvollzogen werden.

Ganz anders sieht es bei den genannten Demonstranten aus: Sie verknüpfen Faktenfragemente in einer Weise, die sich an den Kontext ihrer eigenen ungeklärten emotionalen Befindlichkeiten anlehnt. Sie in irgendeiner Form als "Theoretiker" zu bezeichnen, ist auch aus diesen Gründen nicht richtig. Verrückte sind sie trotzdem nicht. Sie haben lediglich die Sortierarbeit der auf verschiedenen Ebenen gelagerten Inhalte unvollständig vollzogen, wie es bei vielen anderen Menschen auch der Fall ist, bei denen die Auswirkungen dann andere sind.

Eine der Wurzeln der akademischen Beschäftigung mit Verschwörungen liegt bei dem 1929 geborenen kanadischen Politologen Peter Dale Scott, der zahlreiche mit der US-Außenpolitik verknüpfte Ereignisse untersuchte. Er kreierte den Begriff der Tiefenpolitik [deep politics], um eine Dimension politischen Geschehens zu beschreiben, bei dem die Akteure sich konspirativ verhalten. Für Scott ist der Einbezug der tiefenpolitischen Komponente notwendig, um viele Ereignisse von historischer Bedeutung umfassend verstehen zu können.

Hierbei spannt er den Bogen vom Attentat auf John F. Kennedy bis hin zu den Begebenheiten um den 11. September 2001 und deren Folgen. "Um eine ernsthafte 'Verschwörungstheorie' zu vermeiden, kannst du nichts Besseres bringen, als etwa '19 einsame Spinner haben zusammengearbeitet'", lautete im Jahr 2006 im Rahmen einer Vorlesung schnoddrig sein Resümee zu den Flugzeugattacken auf die New Yorker Twin Towers, das Pentagon und in Pennsylvania. Man sieht hier, dass Scott das Wort "Verschwörungstheorie" nicht in einem abwertenden Sinne gebraucht. Und so könnte man tatsächlich auch Persönlichkeiten wie von Bülow und Ganser als Verschwörungstheoretiker bezeichnen - dies aber eben nicht in despektierlicher und ausgrenzender Weise. In Abgrenzung zu ihnen gingen dann die Demonstranten bestenfalls etwa als Emotionalrhetoriker durch.

Hypothesen zum noch ungeklärten Ursprung von Sars-CoV-2

Im Zusammenhang der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen haben viele Medien bei der Verwendung des Begriffs "Verschwörungstheorie" übersehen, dass bei aller argumentativen Unausgegorenheit innerhalb der von den genannten Demonstranten geäußerten Kontexte dennoch Fragen anklingen, die einer Klärung bedürfen.

Ganz weit vorne rangiert hier die Frage nach dem Ursprung des Covid 19 verursachenden Coronavirus. Sie ist deswegen von hoher Bedeutung, weil es möglich ist, dass sich aus ihrer Beantwortung - je nachdem, wie sie ausfällt - ganz unterschiedliche Anforderungen für eine Weiterbehandlung der durch die Pandemie verursachten Krisensituationen ergeben. Als Beispiel können drei von bestimmt noch mehreren möglichen Hypothesen angeführt werden, die nach Stand der öffentlich zugänglichen Information alle weder eindeutig verifiziert noch eindeutig widerlegt sind.

  • Erste Hypothese: Das Virus entstand durch natürliche Mutation und wurde durch eine Fledermausart auf den Menschen übertragen.
  • Zweite Hypothese: Das Virus entstand mittels genetischer Manipulation auf künstliche Weise in einem chinesischen Labor.
  • Dritte Hypothese ist: Das Virus wurde in einem militärischen Labor zur Forschung und Produktion von Biowaffen gezüchtet.

Das Feld der öffentlichen Debatte ist scheinbar so abgesteckt, dass ernsthaft nur die erste Hypothese zugelassen ist. Wagt man es, die beiden anderen Hypothesen mit ins Spiel zu bringen, so läuft man Gefahr, als "Verschwörungstheoretiker" abgestraft zu werden. Man muss diese Hypothesen noch nicht einmal vertreten, es reicht schon, sie nur sauber ausschließen zu wollen. Wissenschaftlich ist es ein- und dasselbe, ob ich verifizieren oder falsifizieren will, ist man seriös, muss man das Ergebnis in jedem Fall anerkennen. Es ist also nur eine Frage der Herangehensweise, ob man von der einen oder anderen Seite ausgehend beginnt.

Nun könnte man sagen, ja gut, aber man sollte sich doch nur mit Hypothesen beschäftigen, bei denen es Hinweise, eine gewisse Wahrscheinlichkeit gibt, dass sie der Wirklichkeit entsprechen könnten. Das ist völlig richtig. Aus diesem Grund wurde auch keine Hypothese aufgeführt, zu deren Formulierung es keine Anhaltspunkte gibt.

Ein renommierter Wissenschaftler aus dem Fachgebiet der Genetik äußert, dass eine spezifische Struktur des Erbmaterials im Virus auf genetische Manipulation hindeutet. Er kann mit seinem Spezialwissen diese Struktur auch lokalisieren und ihre Eigenheiten erklären. Nichts anderes hat der französische Nobelpreisträger für Medizin Luc Montagnier im vergangenen April getan, was auch durch die Medien ging. Diese Information ist ein starkes Argument für die Formulierung von Hypothese zwei. Mit ihr kann im wissenschaftlichen Sinne nur auf dreierlei Art umgegangen werden: Erstens, sie wird bestätigt. Zweitens, sie wird widerlegt. Drittens, es wird weitergeforscht, wenn ein eindeutiges erstens oder zweitens noch nicht möglich ist, so lange, bis eines möglich ist. Die Information auszuschließen, die Hypothese zu ignorieren, ist im Sinne der Wahrheitsfindung nicht zulässig. Eigentlich ist das ganz einfach. Kompliziert wird es erst durch eine Tabuisierung.

Das zeigt gegenüber der zweiten noch deutlicher die dritte Hypothese, denn Sicherheitsfragen sind in hohem Maße tabuisiert. Es gibt auch hier Hinweise, die dazu führten, die Hypothese zu formulieren. Ein Beispiel sind Äußerungen des amerikanischen Biowaffenexperten Francis Boyle, der darauf aufmerksam machte, dass die in Wuhan eingesetzte Laborstruktur BSL 4 [biosafety lab level 4] auf Forschung im Biowaffensektor zugeschnitten sei und für zivile Forschung keinen Sinn mache. Außerdem sei in Wuhan - auch mit aus den USA stammenden Geldmitteln - an einer Modifizierung des SARS-Virus zu militärischen Zwecken gearbeitet worden.

Diese Aussagen sind einfach im Internet zu recherchieren. Nun ist Boyle wegen vergangener unliebsamer Äußerungen zu US-eigenen Biokampfmitteln zwar bereits als Verschwörungstheoretiker klassifiziert. Aber inzwischen wissen wir auch, dass genau das unter Umständen ein ganz besonderes Qualitätsmerkmal sein kann.

Eine Verifizierung oder Falsifizierung der für Hypothese drei vorgebrachten Argumente ist wahrscheinlich ungleich schwieriger als bei der zweiten Hypothese. Grund dafür ist die Geheimhaltungspolitik, mit der Sicherheitsfragen im Allgemeinen ummäntelt sind. Ein triftiger Grund, den Kopf in den Sand zu stecken und die Inhalte einfach zu ignorieren, ist das allerdings nicht, sondern das Problem muss dann auch ehrlich beim Namen genannt werden. Bestimmte Zusammenhänge lassen sich eventuell auch unter den gegebenen Umständen nachvollziehen, etwa inwiefern Boyles Einschätzung zur Laborform BSL 4 zutreffend ist. So erhielte man Hinweise, die zu einem klareren Bild verhelfen könnten.

Wenn es - wie festgestellt - Verschwörungen gibt, besteht immer auch ein Interesse der Verschleierung seitens der mit ihnen verknüpften Akteure. Ob jene nun ganz gezielt die eingeengte Verwendung des Begriffs "Verschwörungstheorie" lancierten, oder ob sich dieser Sprachgebrauch als Folge allgemeinen Verlusts verbaler Sensibilität eingeschlichen hat, ist schwierig zu beurteilen. Selbstverständlich ist es nicht so, dass all die Menschen, die das Wort "Verschwörungstheorie" auf unachtsame Weise verwenden, dies mit einem Täuschungsansinnen tun.

Doch unsere Gesellschaft baut in Politik und Wirtschaft hohem Maße auf macht- wie egobasierten Hierarchien auf. Zum Weiterkommen innerhalb dieser Strukturen müssen Ziele definiert und Faktoren, die ihre Erreichung beeinträchtigen könnten, möglichst eliminiert werden. In der Fixierung auf diese Ziele geht allzu oft die Sicht aufs Ganze verloren. Innezuhalten, um einen Sachverhalt unter einem veränderten Blickwinkel zu prüfen, wird zum Karrierenachteil. In dieser Situation stören unbequeme Fragen oder Umstände, die sie aufwerfen könnten. Da ist es praktisch, wenn man sie mittels eines gleich verfügbaren Etiketts aussondern kann. Längerfristig hat eine solche Einstellung allerdings eine Wertelabilität zur Folge. Aufklärung ist nur dann erwünscht, wenn sie auch entsprechend zielstützend ist. Das führt zu Lücken und Mängeln in der Beurteilung von Zusammenhängen.

Die Gesamtlage zeigt, dass wir Fragen stellen müssen, weil die Information, die wir zunächst zur Verfügung haben, oft aus verschiedenen Gründen zunächst fragmentarisch ist und erst nach und nach zu einem Ganzen zusammengesetzt werden kann. Sie zeigt auch den Schaden, den Fehlinformationen oder die Verweigerung der Preisgabe von Information anrichten kann. Beides zwingt uns dann, durch Mutmaßungen die vorhandenen Leerstellen zu überbrücken. Dadurch stehen wir jedoch bereits mit einem Fuß in der Verschwörungstheoretikerfalle, aufgestellt von denjenigen, die den Begriff besonders gerne verwendet sehen. Dies können wir nur lösen, indem wir uns der Verantwortung zur Aufklärung stellen, generell und ganz besonders in der uns alle betreffenden Corona-Krise.

Claudia Lorenz, Schriftstellerin, Studium der Landwirtschaft, Schauspielerin, Kulturmanagement. Literarische Arbeiten u. a.: Essayistische Aufsätze und Lyrik. Beschäftigt sich seit mehreren Jahren von feministischer Seite mit der Opposition von Ratio und Irrationalität.

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