Stuttgarter Krawalle: Wozu die "Stammbaum-Erforschung" der Verdächtigen?

Polizeichef soll angekündigt haben, dass bei den Tatverdächtigen mit deutschem Pass mithilfe der Landratsämter deutschlandweit die Herkunft ermittelt und dies auch öffentlich gemacht wird. Update

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Die gewalttätigen Ausschreitungen in Stuttgart in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni haben ein bizarres Nachspiel. Wie die Stuttgarter Zeitung berichtet, kündigte der Polizeipräsident der Stadt, Franz Lutz, an, "dass die Polizei auch bei den Tatverdächtigen mit deutschem Pass mithilfe der Landratsämter deutschlandweit Stammbaumrecherche betreiben werde".

"Vermutlich wird die Öffentlichkeit bald die Stammbäume der Tatverdächtigen der Stuttgarter Krawallnacht vom 21. Juni kennen", mit dieser Aussage öffnet der Bericht vom gestrigen Samstag. Er gibt wieder, so jedenfalls der Eindruck, den der Bericht macht, was am 9. Juli bei einer Gemeinderatssitzung besprochen wurde. Dem eben zitierten Satz folgt die Feststellung: "Das hatte Polizeipräsident Franz Lutz am Donnerstagabend im Gemeinderat angekündigt, als er dort auf einen Antrag der CDU hin zum aktuellen Ermittlungsstand berichtete."

"Stammbaumrecherche" bei der Polizei und dazu die angedeutete Absicht ("vermutlich") einer öffentlichen Bekanntmachung der "Stammbäume" von Tatverdächtigen in Deutschland, wo Stammbaum-Nachweise sofort an eine grauenhafte, nicht ferne Vergangenheit denken lassen? Man fasst sich an den Kopf, was ist da los? Dass damit eine nächste Empörungswelle losgetreten wird und das nächste Fass überschwappt, müsste doch der Stuttgarter Polizeiführung klar sein?

Wer hats gehört?

So wird jetzt auch "Deeskalation" mit der Formulierung betrieben. "Der Begriff 'Stammbaumforschung' gehört nicht zum Wortschatz der Stadt oder der Polizei", zitiert der SWR den Pressesprecher der Stadt Stuttgart, Sven Matis:

"Weder ich noch weitere Zuhörer können sich daran erinnern. Auch in der folgenden Aussprache spielt dieser Begriff keine Rolle."

Man werte derzeit die Gesprächsprotokolle aus, wird Matis wiedergegeben. 60 Stadträtinnen und Stadträte sitzen im Gemeinderat der Stadt Stuttgart, dazu Oberbürgermeister Fritz Kuhn. In den offiziellen Pressemitteilungen zur Gemeinderatssitzung am 9. Juli wird nichts über die Äußerungen des Polizeichefs berichtet, nur dass es eine "Allianz für ein lebendiges und sicheres Stuttgart" gibt und die Landeshauptstadt und die Polizei Stuttgart haben am 22. Juni, also unmittelbar nach den Gewaltausschreitungen, eine Sicherheitspartnerschaft gegründet.

Selbst wenn nicht alle Gemeinderatsmitglieder anwesend waren, müsste sich doch feststellen lassen, ob Begriffe wie "Stammbaumforschung" oder "Stammbaumrecherche" gefallen sind.

[Update: Mittlerweile korrigierte die Stuttgarter Zeitung das "Zitat". Polizeipräsident Lutz habe nicht wörtlich "Stammbaum-Recherche" gesagt, heißt es in einer späteren, unten an den Artikel angefügten Anmerkung. Er soll laut Auswertung des Sitzungsprotokolls von "bundesweiten Recherchen bei Standesämtern" gesprochen haben, "um den Migrationshintergrund (einzelner Tatverdächtiger) festzustellen.

Laut einem später veröffentlichten Bericht der Stuttgarter Zeitung soll der Grünen-Stadtrat Marcel Roth den Polizeichef zuerst auf seiner Facebook-Seite mit dem Begriff "Stammbaumrecherche" zitiert haben - "drei bis vier Fraktionskollegen hätten ihm bestätigt, dass der Begriff so gefallen sein soll. Auch Christoph Ozasek vom Linksbündnis im Gemeinderat sagte, Roths Darstellung des Gesagten treffe zu".

Die Stuttgarter Polizei trete dem "vehement entgegen".]

Was aber ändert es grundsätzlich, wenn der Begriff "Stammbaumforschung" in der Aussprache keine Rolle spielte, wie es Sprecher Sven Matis behauptet, aber Ermittlungsergebnisse in dieser Richtung veröffentlicht werden sollen - gegen diese Ankündigung erfolgte ja kein Dementi? (Einfügung: Nachdem nun in der Republik "die Wellen hochschlagen" (Stuttgarter Zeitung), werden Polizei und der Stuttgarter Bürgermeister wahrscheinlich vorsichtiger damit umgehen.)

Das öffentliche Interesse

Im Gegenteil begründet die Stuttgarter Polizei das Vorgehen "mit dem öffentlichen Interesse an den Ausschreitungen".

"Die grundlegende Erhebung personenbezogener Daten bemisst sich an der Schwere des Delikts, hier kommt dazu, dass ganz Deutschland auf den Fall blickt", sagt Jens Lauer, ein Sprecher des Polizeipräsidiums Stuttgart. Es würden Fragen gestellt wie: Wer waren die Täter, politisch, geschlechtlich, welche Nationalität, Migrationshintergrund oder nicht? Diesen sehe die Polizei per Definition bei "einem Elternteil ohne deutsche Staatsbürgerschaft" erfüllt.

Stuttgarter Zeitung

Auf die Frage, was die Pässe bzw. die Herkunft der Eltern der Tatverdächtigen, zu denen man Genaueres über Landratsämter deutschlandweit erfragen will, an strafrechtlicher Relevanz haben könnte, antwortet der Sprecher des Polizeipräsidiums Stuttgart: "Beim Jugendstrafrecht kann es zum Beispiel schon eine Rolle spielen, ob ein Angeklagter aus einem Kriegsgebiet kommt."

Was für eine Antwort… Das ist für Richter interessant, für Gerichtsverhandlungen, wo die Fälle genau angeschaut werden und dann erst ein Urteil gefällt wird. In der Öffentlichkeit ist das anders, da werden Urteile nach anderen Kriterien, nach politischen Zugehörigkeiten und passenden Vorurteilen gefällt, nicht selten gnadenlos und ideologisch verzerrt - das gilt für viele Fälle, auch bei #metoo, um hier keinen Missverständnissen über Einseitigkeiten Bahn zu geben.

Man sieht in der Öffentlichkeit im Unterschied zum Gericht keine Personen, die ihre Sicht darbringen können, sondern "Platzhalter" und "Figuren". Dass im Rechtsstaat Verdächtige erst dann als Schuldige gelten, wenn sie von einem Gericht dazu verurteilt werden, hat seine guten Gründe. Man spürt sie umso mehr, je fragiler das gesellschaftliche Zusammenleben wird.

Allianz für Unsicherheit

Der Polizeichef in Stuttgart gibt mit seiner Ankündigung dem Druck der Öffentlichkeit nach, das vermitteln die Aussagen der Polizei zur Sache eindeutig, jenseits des "Wordings". Und das ist ein Schritt in ein empfindliches Gelände, weil dort schnell Pranger aufgebaut werden und nicht einsichtig ist, welches Erkenntnisinteresse damit verknüpft ist. Was weiß die Öffentlichkeit mehr über die "wahren Hintergründe" des Hergangs in der Stuttgarter Gewaltnacht, wenn man die Herkunftsländer der 20 Tatverdächtigen kennt?

Der Eindruck ist der einer durch die Öffentlichkeit verunsicherten Polizei und politischen Verantwortlichen in Stuttgart; Sicherheit vermitteln sie durch solche Ansagen, die im Machtbereich der Empörung stattfinden, nicht.