Niederländische Regierung klagt Russland wegen MH17 vor dem Europäischen Menschengerichtshof an

Gericht im MH17-Prozess. Bild: de Rechtspraak

Über die Motive dieses Schritts parallel zum laufenden MH17-Prozess lässt sich rätseln. Unzufriedenheit mit dem Verfahren oder der von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweislage?

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Das Gericht im MH17-Prozess hatte nach der Anhörung der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung von Oleg Pulatow, der ebenso wie die weiteren Angeklagten der Verhandlung fernbleibt, in der letzten Sitzung am 3. Juli beschlossen, weitere Ermittlungen gegen den Einspruch der Staatsanwaltschaft zuzulassen und der Verteidigung Zeit zu geben, die 40.000-seitige Ermittlungsakte zu studieren und mit dem Angeklagten in Russland zu sprechen. Das deutet darauf hin, dass sich der Prozess über Jahre hinziehen könnte und dass die Richter zumindest dem Anschein nach versuchen, eine faire Verhandlung stattfinden zu lassen.

Überraschend kam nun die Bekanntgabe des niederländischen Außenministeriums, trotz des laufenden Verfahrens Russland vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (ECHR bzw. EGMR) "für seine Rolle beim Abschuss von MH17" anzuklagen. Man übergebe bei der Staatsklage alle vorhandenen Informationen dem Gerichtshof und wolle damit die individuellen Klagen der Opferangehörigen unterstützen.

Offen ist, ob der ECHR die Anklage aufnimmt. Das russische Außenministerium beschwerte sich, davon nicht in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Das ECHR müsse die Zulassung der Klage nun mit beiden Seiten klären. Das könne aber Jahre dauern, wird gewarnt und noch einmal beteuert, dass Russland bestreitet, eine Rolle bei dem Abschuss gespielt zu haben. Der niederländischen Regierung wird vorgeworfen, von Anfang nur Russland die Schuld zugewiesen zu haben. Sie habe nicht gemäß der UN-Resolution, sondern "ausschließlich im Rahmen der antirussischen Logik gehandelt", alle Zeugenaussagen und Expertenmeinungen, die dem gewünschten Szenario zuwiderlaufen, wurden deswegen abgewiesen. Der Gang vor das ECHR politisiere die Suche nach der Wahrheit weiter.

Warum will die niederländische Regierung einen Nebenschauplatz einrichten?

Daneben läuft noch eine Klage des Luftrechtsexperten Elmar Giemulla im Namen von Opferangehörigen gegen die Ukraine, weil diese den Luftraum nicht gesperrt hatte ("Die entscheidenden Fragen bleiben unbeantwortet"). Es dauerte Jahre, bis die Klage zwar noch nicht angenommen, aber den Betroffenen weitergeleitet wurde.

Die niederländische Regierung war schnell zusammen mit der australischen, ebenfalls im JIT vertreten, dabei, Russland offizielle für den Abschuss verantwortlich zu machen, die Ukraine wurde außen vorgehalten, Belgien und Malaysia, die anderen JIT-Mitgliedsstaaten, zogen nicht mit.

Warum will die niederländische Regierung einen Parallelprozess vor dem Europäischen Menschengerichtshof starten, wenn im eigenen Land der strafrechtliche Prozess stattfindet? Der betrifft aber direkt nur drei russische Ex-Militärs und Ex-Geheimdienstmitarbeiter, nicht den Staat Russland bzw. dessen Regierung. Der Zusammenhang soll dadurch hergestellt werden, dass die Führung der "Volksrepubliken" engen Kontakt mit russischen Regierungsangehörigen hatte. Es soll mehr als militärische Unterstützung gegeben haben. Für eine direkte Verantwortung der russischen Regierung gibt es aber bislang keine gerichtsfesten Beweise. Ob die niederländische Regierung solche dem ECHR vorlegen kann, ist unklar.

Man kann natürlich Vermutungen anstellen, warum die niederländische Regierung noch einen Nebenschauplatz einrichtet. Möglicherweise ist sie mit der Unabhängigkeit der eigenen Justiz nicht zufrieden oder nicht überzeugt davon, dass das Gericht den Fall schnell genug und vor allem gegen Russland entscheidet bzw. entscheiden kann. Die Einschaltung des ECHR könnte Druck auf das niederländische Gericht ausüben. Vielleicht soll auch nur der Druck auf Russland verstärkt werden, mit der niederländischen Regierung weiter über die staatliche Verantwortung zu sprechen. Was diese Gespräche überhaupt bewirken sollen, da Moskau jede Verantwortung zurückweist, bleibt das Geheimnis der niederländischen Regierung, die sich damit nur wichtig zu machen scheint (Über was wollen Niederlande und Australien mit Russland verhandeln?).

Und vielleicht will man verhindern, dass im Prozess die These von der russischen Buk-Rakete in Zweifel gezogen werden könnte. Das Gericht versucht jedenfalls zu zeigen, dass es dem politischen Druck nicht nachgibt und auch dem JIT nicht bedingungslos folgt, auch wenn die Richter durchaus eine ambivalente Richtung verfolgen, was man allerdings von der Verteidigung ebenfalls sagen kann, die bislang nicht wirklich konfrontativ auftritt.

Warum wird nur Pulatow verteidigt?

Die Verteidigung von Pulatow, der jede Schuld bestreitet, besteht aus den Niederländern Boudewijn van Eijck und Sabine ten Doesschate und der russischen Anwältin Yelena Kutyina von der Kanzlei Kovler and Partner, die regelmäßig für das russische Innenministerium und die Generalstaatsanwaltschaft arbeitet. Finanziert wird die Verteidigung von einer russischen Stiftung, sagte van Eijck, von der aber nichts Näheres wissen oder sagen will (dazu siehe die Ausführungen von John Helmer). Die Verteidigung vertritt also vermutlich noch nicht recht ersichtliche russische Interessen.

Unklar ist, warum nur Pulatow von Anwälten verteidigt wird - ist etwa Girkin in Ungnade gefallen? Der ehemalige FSB-Offizier war 2014 "Verteidigungsminister" der "Volksrepublik Donezk" und hatte damals schon Moskau kritisiert, die Separatisten nicht ausreichend zu unterstützen. Den Vorwurf erhebt er weiter (Interview mit Girkin sorgt für Aufregung). Girkin wird die Hinrichtung mehrerer Menschen vorgeworfen, er war im Unterschied zu Pulatow direkt an Kampfhandlungen beteiligt. Oder vielleicht sind Ex-GRU-Offizier Dubinskiy und Girkin direkt in den Abschuss verwickelt, während Pulatow nichts damit zu tun hat, oder werden sie einfach als zu unzuverlässig gehalten?

Gericht blockiert viele Ermittlungen

Genehmigt vom Gericht wurde auch die Anhörung von Zeugen und Experten, um festzustellen, ob eine Buk-Rakete neben oder im Flugzeug explodiert ist und ob das Ziel eigentlich eine Militärmaschine gewesen sein könnte, die in der Nähe von MH17 flog. Überdies kann die Verteidigung mit Experten die Rekonstruktion des Flugzeugs besichtigen, um zu prüfen, ob, wie Zeugen der Verteidigung sagen, Spuren mehrerer Waffen zu sehen sind. Weiter im Spiel sind die angeblich vorhandenen amerikanischen Satellitenbilder. Das Gericht verlangt erneut Einsicht, blockiert aber erst einmal die Befragung des niederländischen Geheimdienstmitarbeiters, der sie eingesehen haben soll.

Die Verteidigung kann nach dem Gericht allerdings nur verlangen, dass alternative Szenarien, die nach dem Gericht angeblich mit guten Gründen ausgeschlossen wurden, einbezogen werden, wenn sie die Grundlagen des Buk-Szenarios begründet bestreitet. Die wird von der Staatsanwaltschaft als alternativenlos dargestellt. Ob zu einer anderen Hypothese ermittelt werden kann, die Verteidigung verweist vor allem auf einen möglichen Abschuss durch ein ukrainisches Kampfflugzeug, entscheidet das Gericht zu späterer Gelegenheit. Die Argumentation des Gerichts, so merkte John Helmer richtig an, ist seltsam, weil damit der Angeklagte im Prinzip seine Unschuld beweisen müsste, um andere Beweismittel einbringen zu können, während eigentlich der Angeklagte so lange als unschuldig betrachtet werden muss, so lange seine Schuld nicht durch die Staatsanwaltschaft bewiesen wurde.

Das Buk-Szenario geht davon aus, dass ein Buk-System aus Russland in die Separatistengebiete gebracht wurde, dass mit diesem von einem Ort in der Nähe von Pervomaisky MH17 abgeschossen wurde, dass das System wieder nach Russland zurückgebracht wurde und dass die vier Angeklagten für den Transport leitend verantwortlich waren. Das Gericht lässt auch die Überprüfung der Beweise für den Abschussort zu und eine Befragung eines Experten über die maximale Reichweite einer Buk-Rakete.

Abgewiesen wird die Herausgabe von Radardaten, die die Staatsanwaltschaft nicht haben will, oder dass die Nato aufgefordert wird, Daten der AWACS-Maschinen weiterzugeben, da diese erklärt hat, es gebe keine relevanten Daten. Schon kurios ist die Abweisung der Forderung, die gesamte 30-minütige Audio-Aufzeichnung eines zweiminütigen Ausschnittes des MH17-Stimmenrecorders (CVR) im Beisein eines eigenen Experten hören zu können. Die Staatsanwaltschaft habe erklärt, dass die Verteidigung die gesamte CVR-Datei hören könne, auch wenn dies nicht notwendig erscheine: "Das Gericht ist der Meinung, dass dies hinreichend den Wunsch der Verteidigung nach einer Untersuchung zufriedenstellt, so dass die Forderung abgewiesen wird." Zumindest für einen Nicht-Juristen eine seltsame Logik.

Abgewiesen wurde auch, die Authentizität der Datei zu prüfen, da der Dutch Safety Board (DSB) festgestellt habe, dass es keine Zeichen für eine Manipulation gebe. Vor allem wurde abgewiesen, der Frage durch Vernehmung des russischen Generalmajors Igor Konashenkov und anderer Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums nachzugehen, wo nach Dokumenten des russischen Verteidigungsministeriums die Buk-Rakete, von der Teile angeblich gefunden wurden, gewesen ist. Russland behauptet, sie sei 1986 in die Ukraine gebracht worden und dort geblieben.