Für ein prinzipielles Kultur-Existenzgeld!

Sozial-kulturelle Utopie 2020

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Der Covid-19-Virus und die Folgen der Pandemie bringen die Verletzlichkeiten in einer globalisierten Welt, die maßgeblich vom Drang nach Kapitalverwertung angetrieben wird, neu und teilweise dramatisch ins Bewusstsein. Die meisten Probleme, die jetzt diskutiert werden, haben allerdings nichts direkt mit der Corona-Krise zu tun, sondern werden in den Pandemie-Zeiten wie unter einem Brennglas gebündelt und hervorgehoben.

Auch vor Corona wurden die Schlachthofarbeiter und die Spargelstecher*innen bereits ausgebeutet oder die Pflegekräfte und andere Mitarbeiter*innen im Gesundheitssektor deutlich unterbezahlt (und es ist ein Armutszeugnis, dass im 130 Milliarden-Euro-Hilfspaket des Bundes die Pflegekräfte gar nicht erst vorkommen).

Nicht nur im Gesundheitssystem, auch im Kulturbereich, der in Teilen nach wie vor komplett stillgelegt ist und wohl am längsten von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sein wird, hat die Corona-Krise Missstände, die schon länger Bestand hatten, in aller Schärfe offengelegt: Corona lässt die prekäre Kehrseite des jahrzehntelangen neoliberal geprägt Um- und Abbaus von Institutionen und Sicherungssystemen, aber auch die Beziehung zwischen "dem Leben" und "der Theorie" deutlich zutage treten. Dies gilt insbesondere für die Kulturschaffenden und die Kulturarbeiter*innen.

Kurzfristig angelegte Nothilfemaßnahmen sind zwar wichtig und ausdrücklich begrüßenswert, dauerhaft sind aber im Kultursektor - ähnlich wie in Sachen Werkverträge der Fleischindustrie oder gerechter Bezahlung der Pflegekräfte - strukturelle Änderungen und Neuerungen dringend notwendig.

Vor knapp fünfzig Jahren, zu Zeiten und auf Anregung der sozialliberalen Bundesregierung, wurde in der Bundesrepublik erstmals die soziale, berufliche und wirtschaftliche Lage der Künstler*innen und Publizist*innen untersucht. Das war die Basis für weitere Überlegungen zu einer sozialen Absicherung von Kulturschaffenden, die vor vierzig Jahren schließlich zur Verabschiedung des Künstlersozialversicherungsgesetzes führten, das gegen den massiven Widerstand der Kultur- und Verwertungsindustrie erkämpft werden musste.

Damit wurde erstmals eine gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung für selbständige Künstler und Publizisten eingerichtet, wobei diese den Arbeitnehmeranteil, die Vermarkter künstlerischer und publizistischer Leistungen dagegen einen Arbeitgeberanteil übernehmen sollten, der außerdem durch einen Bundeszuschuss finanziert wurde - ein Meilenstein in der Ideengeschichte der sozialen Absicherung von Kulturschaffenden.

Die Lage ist jedoch nicht mehr dieselbe wie in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Künstlerische Berufe erfreuen sich unverändert einer hohen Attraktivität, trotz der mit der Soloselbständigkeit verbundenen finanziellen Risiken. Vor allem aber haben sich die Herstellungsbedingungen von kulturellen Leistungen in den letzten Jahrzehnten massiv verändert: Der Anteil der fest angestellten Kulturschaffenden hat sich in fast allen Bereichen deutlich verringert, während die Zahl der euphemistisch gern als "frei" bezeichneten, also selbständig tätigen Künstler*innen seit den 1980er Jahren drastisch gestiegen ist.

1991 waren insgesamt 47.713 Kulturschaffende und Publizisten bei der Künstlersozialkasse versichert, im Jahr 2019 waren es 193.592, also mehr als vier Mal soviel. Heute sind 42.700 Versicherte im Bereich Wort, 67.075 in der Bildenden Kunst, 54.575 in der Musik und 29.242 in der Darstellenden Kunst tätig. Die Zahl der bei der Künstlersozialkasse Versicherten hat sich allerdings in den letzten Jahren kaum verändert (bereits 2013 waren 194.196 Menschen bei der KSK versichert), wohl aber in einzelnen Bereichen: Vor allem im Bereich Wort (minus 4.855 von 2013 bis 2019, also mehr als 10 Prozent), aber auch bei der Bildenden Kunst nimmt die Zahl der Versicherten ab, während sie im Bereich Musik, vor allem aber bei der Darstellenden Kunst ansteigt (plus 12,6 Prozent).

Der Arbeitsmarkt Kultur ist so stark von selbständiger Tätigkeit geprägt wie nie zuvor

Wie die Autoren der gerade veröffentlichten Studie "Frauen und Männer im Kulturmarkt"1 des Deutschen Kulturrats anmerken, ist die höhere Zahl von Versicherten im Bereich Darstellende Kunst "bemerkenswert, da in dieser Sparte die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung üblich ist".

Doch längst nicht alle Kulturschaffenden und Kulturarbeiter*innen sind in der Künstlersozialkasse versichert, die ja ohnedies nur Künstler*innen offensteht. Die bereits erwähnte Studie des Deutschen Kulturrats geht davon aus, dass im Kulturbereich 719.106 selbständig Tätige arbeiten, davon knapp die Hälfte etwas herabsetzend sogenannte "Mini-Selbständige", deren Jahresumsatz unter 17.500 Euro liegt. Man muss also davon ausgehen, dass im kulturellen Bereich hierzulande großflächig Armut herrscht oder zumindest prekäre wirtschaftliche Verhältnisse virulent sind, ganz abgesehen von einem massiven Gender Gap.

Der Arbeitsmarkt Kultur ist heute also so stark von selbständiger Tätigkeit geprägt wie nie zuvor - und das gilt nicht nur im Bereich der Bildenden Künstler*innen, für die die selbständige Tätigkeit seit jeher die typische Form von Beschäftigung ist, sondern auch in anderen Bereichen der künstlerischen oder publizistischen Betätigung, in denen Tätigkeiten, die früher von Angestellten in festen Arbeitsverhältnissen ausgeführt wurden, heute meist von Selbständigen ausgeübt werden.

Dies ist sowohl eine Folge der hippen Narration von der "kreativen Klasse" (Richard Florida), mit der den Menschen postfordische Tätigkeiten auf Prekariatslevel schmackhaft gemacht wurden, als auch die massiv geförderte Installation von Ich-AGs im Zuge der rot-grünen Hartz-IV-Gesetze: Jede*r eine kleine Ich-AG, alle sind Unternehmer*innen ihrer selbst und kümmern sich beherzt um Selbstvermarktung und -optimierung - eine Art outgesourctes Experimentallabor, ganz die fleißigen Kulturarbeitsbienchen mit verinnerlichtem Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben-Prinzip.

Doch gerade in Krisenzeiten zeigt sich, dass die mangelnde soziale Absicherung für viele der solo-selbständigen Künstler*innen, Musiker*innen, Schauspieler*innen und Publizist*innen ein riesiges Existenzproblem darstellt. Wenn beispielsweise den weit über 50.000 freien Musiker*innen und der deutlich sechsstelligen Zahl von sogenannten Solo-Selbständigen, Freiberuflern, Aufstockern oder Minijobbern, die Konzerte überhaupt erst möglich machen, wegen der Covid-19-Pandemie mindestens sechs, wahrscheinlicher neun und noch mehr Monate das komplette Einkommen wegbricht, hilft ihnen die Kranken- und Rentenversicherung durch die Künstlersozialkasse nicht beim wirtschaftlichen Überleben.

Es rächt sich, dass hierzulande über den Wandel der Arbeitswelt durch die Digitalisierung zwar diskutiert und geforscht wird, all dies aber keinen Einfluss auf politische Entscheidungen hat, die zu einer sozialen Sicherung der Kulturschaffenden und Kulturarbeiter*innen führen würde. Dies gilt für die Alterssicherung ebenso wie für die soziale Absicherung im Fall von Arbeitslosigkeit wie jetzt, da sie durch die Pandemie zwangsweise herbeigeführt wurde.

Anderes Verständnis von Arbeit ist erforderlich

Im Jahr 1980 wurde nicht nur die bis heute erfolgreiche Künstlersozialversicherung installiert. Im gleichen Jahr hat auch André Gorz den "Abschied vom Proletariat" verkündet. Gorz wandte sich wortreich gegen die quasi-religiöse "Philosophie des Proletariats", wie sie von Parteien und Organisationen der Arbeiterbewegung betrieben wurde (und bis heute wird) und die zu Beginn der 90er Jahre noch in der DGB-1.Mai-Parole "Arbeit für alle" gipfelte, oder in Bekenntnissen führender Sozialdemokraten unserer Tage wie dem Statement von Finanzminister Scholz: "Wer lang und hart gearbeitet hat, soll eine Rente bekommen, die dieser Leistung Respekt zollt."

Nur diejenigen also, die "lang" und "hart" gearbeitet haben? Was ist mit den Millionen Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger*innen, die vielleicht gerne viele Jahre arbeiten würden, die dazu aber ohne eigenes Verschulden nie die Gelegenheit hatten? Wolfgang Pohrt vermerkte zu diesem besonderen Verhältnis zum "Recht auf Arbeit", dass "die Deutschen ein besonderes Verhältnis zur Arbeitslosigkeit haben, die ihnen entweder als selbstverschuldetes Versagen, als parasitäre Drückebergerei, als Schmarotzertum gilt oder als nationale Katastrophe".2

Die Chance jedenfalls, durch die Digitalisierung vieler Arbeits- und Produktionsbereiche, etwa durch den "Kollegen Roboter" am Fließband, eine gesellschaftliche Diskussion über das "außerhalb der Arbeit beginnende 'wahre Leben'", über "die kulturelle Mutation, die den Übergang zur nachindustriellen Gesellschaft einleitet" (Gorz3), zu führen, wurde verpasst. Gorz plädierte 1980 besonders auch für "gesellschaftliche Arbeit", also für "autonome Tätigkeiten, die ihren Sinn und Zweck in sich selbst haben", also "Tätigkeiten ohne Wirtschafts- und Verbrauchsziel", wie zum Beispiel "ästhetische oder erzieherische Tätigkeiten", aber auch "schmackhafte Gerichte zubereiten, Objekte herstellen oder reparieren, Musik hören oder musizieren".

Rudolf Bahro sprach in seinem 1977 erschienenen Buch "Die Alternative" davon, dass Reichtum "nicht in Mengenbegriffen des Tauschwerts, sondern in selbstbestimmten Glücksmöglichkeiten" bemessen werden sollte. Übrigens verlangte ja auch schon Karl Marx in den "Grundrissen" eine andere Definition von "Arbeit" und eine deutlich geringere Arbeitszeit, die "die freie Entwicklung der Individualitäten" fördern sollte; durch die Reduktion der notwendigen Arbeit "zu einem Minimum" sah Marx eine verbesserte Möglichkeit für "die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen".4

Etliche Menschen haben in den letzten Jahrzehnten die "selbstbestimmten Glücksmöglichkeiten" selbst in die Hand genommen, und zwar vor allem im kulturellen und künstlerischen Bereich. Denn die über 700.000 im Kultursektor selbständig tätigen Menschen sind ja nur zum kleineren Teil zu ihrer Selbstständigkeit "gezwungen" worden (auch wenn das für eine durchaus nennenswerte Zahl dieser Selbständigen gelten mag, die heute zum Beispiel über Werkverträge in Firmen das erledigen, wofür früher sozialversicherte feste Stellen dienten).

Für viele Kulturschaffende ist ihre Selbständigkeit zu einer frei gewählten Existenzform geworden, die Chancen für eine selbstbestimmte Tätigkeit und Zeitgestaltung gewährt. Fast könnte man sogar von einer Lebensweise sprechen, von einer "travail attractif", einer "Selbstverwirklichung des Individuums" (Marx). Und zu dieser freien Tätigkeit gehört für Solo-Selbständige nicht selten auch ein regelmäßiger Wechsel zwischen oder sogar ein Nebeneinander von abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit. Andere begreifen ihre Selbständigkeit "nicht als Lebensentscheidung, sondern als eine Phase im Erwerbsleben" (Schulz5).

In jedem Fall handelt es sich bei all dem um eine zeitgemäße "hybride Arbeitsweise". Eine moderne Arbeitsweise allerdings, die dem herrschenden "Arbeitsverständnis von fabrikartigem Industriekapitalismus" (Catharina Bruns) diametral entgegensteht und auf die die Realität der Sozialversicherungssysteme und der gesellschaftlichen Bürokratie bis heute keine Antworten weiß.

Wenig Kulturhilfe, die aber an den Selbständigen vorbeigeht, die kaum Betriebskosten haben, aber Lebenshaltungskosten

Ganz im Gegenteil, wie das "Neustart Kultur"-Programm der Bundesregierung aktuell deutlich macht: Eine Milliarde Euro haben CDU/CSU und SPD für das "Überleben der Kultur" als Teil ihres Corona-Hilfspakets in Höhe von 130 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Eine Milliarde Euro - das hört sich viel an (und um es nach noch mehr aussehen zu lassen, wird einer der obersten all der eingebetteten Kulturfunktionäre des Landes nicht müde, die Zahl als solche zu schreiben: so viele Nullen hier…). Es sind aber gerade einmal 0,77 Prozent des gesamten Corona-Hilfspakets, die für die Kultur zur Verfügung stehen - während im Konjunkturpaket bis zu zehn Milliarden Euro für neue Rüstungsprojekte vorgesehen sind, und selbst die Start-Up-Szene mit doppelt so viel Hilfsmitteln beglückt wird, nämlich mit zwei Milliarden Euro.

Im Vergleich: Frankreich hat drei Prozent seines Hilfspakets für die Kultur bereitgestellt, also vier Mal soviel wie die Kulturnation Deutschland. Oder, noch ein Vergleich, den die Gewerkschaft ver.di aufgemacht hat: Setzt man die Milliarde Kulturhilfe ins Verhältnis zur Zahl der 256.600 statistisch erfassten Kulturbetriebe, oder ins Verhältnis zu den 1,7 Millionen in der Kulturbranche Beschäftigten, dann kämen von dieser einen Milliarde Euro weniger als 4.000 Euro für jeden Betrieb oder gerade einmal knapp 600 Euro für die einzelnen Erwerbstätigen heraus. Nicht gerade viel, insbesondere, wenn man bedenkt, dass seit Anfang März und noch auf absehbare Zeit Konzerte oder andere kulturelle Veranstaltungen mit Publikum speziell in geschlossenen Räumen faktisch nicht mehr stattfinden können. Einem Konzertveranstalter, einem Musikclub oder freien Theatern helfen knapp 4.000 Euro nicht wirklich beim Überleben.

Vor allem aber zeigt sich die Bundesregierung mit ihrem "Neustart Kultur"-Paket völlig ignorant gegenüber der realen Situation der über 700.000 Selbständigen im Kulturbereich: Für diese Gruppe sind praktisch keine Hilfen vorgesehen. Die Soforthilfen der Bundesregierung für Selbständige, die "Überbrückungshilfen", die im Wirtschaftsministerium von Peter Altmaier (CDU) angesiedelt sind, beschränken sich auf die anteilige Übernahme von Betriebsausgaben, also Büro- oder Ateliermiete, Leasingraten und ähnliche Kosten. Die meisten selbständigen Künstler*innen, Musiker*innen und Kulturarbeiter*innen, und vor allem die bereits erwähnten "Mini-Selbständigen", haben aber kaum Betriebskosten. Was sie haben, sind Lebenshaltungskosten. Dafür gibt es jedoch kein Geld.

Die Solo-Selbständigen sollen sich, so will es die Bundesregierung, mit der Grundsicherung begnügen, mit einer Art "Künstler-Hartz-IV". Angeblich gebe es einen vereinfachten Zugang zur Grundsicherung, doch das scheint in der Realität nicht der Fall zu sein: Etliche Kulturschaffende berichten von komplizierten Verfahren, endloser Bürokratie und zahlreichen Problemen. Und die engen Vermögensobergrenzen sind zum Beispiel für Musiker*innen, die ein teures Instrument oder ein Fahrzeug für das Ausüben ihrer Tätigkeit benötigen, ebenso wirklichkeitsfremd wie für Kulturschaffende, die als Selbständige ja Rücklagen für ihre Alterssicherung schaffen müssen. Die Überprüfung etwaiger Bedarfsgemeinschaften oder minimale Zuverdienstgrenzen machen eine Lebenshaltung auf dieser Basis fast unmöglich.

Die Jobcenter scheinen in der Praxis mit den Menschen, die eigentlich Arbeit haben, aber wegen der Pandemie ihrem Beruf gerade nicht nachgehen können, ein fundamentales Problem zu haben. Die Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen sind ja nicht erwerbslos, und sie wollen auch nicht in irgendeinen Job vermittelt werden - sie haben aktuell wegen der Pandemie "nur" keine Einnahmen.

Die Bundesregierung könnte diesen Zustand leicht ändern und zumindest in der aktuellen Krisensituation gestatten, dass Soforthilfe-Zuschüsse auch für den Lebensunterhalt, nicht nur für fixe Betriebskosten verwendet werden dürfen6, wie es einhellig die Kultur- und Wirtschaftsminister aller Bundesländer sowie - auf Initiative Berlins und Bremens - der Bundesrat fordern.

Stattdessen zwingt der Bund Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen in die Grundsicherung für Arbeitsuchende - als könnte es im öffentlichen Interesse liegen, dass die Kulturschaffenden sich eine Stelle suchen und ihre künstlerische Tätigkeit aufgeben müssen. Wie aus Regierungskreisen zu hören ist, weigerten sich vor allem Finanzminister Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Altmaier (CDU), ihre Hilfspakete auch für Lebenshaltungskosten oder für einen Unternehmerlohn zu öffnen - und Kulturstaatsministerin Grütters (CDU) ist bisher auch nicht gerade als Anwältin der Solo-Selbständigen aufgefallen.

Und so bleiben die selbständigen Kulturschaffenden hierzulande auf vereinzelte Länderhilfen (allen voran Berlin mit einer Soforthilfe in Höhe von 5.000 Euro für drei Monate bereits im März, aber auch in geringerer Höhe zum Beispiel Hamburg oder Baden-Württemberg) angewiesen und können nur mit Neid auf andere europäische Staaten blicken, in denen Selbständige ganz offenbar mehr Ansehen genießen: In den Niederlanden beispielsweise erhalten alle Solo-Selbständigen für die Dauer von sechs Monaten pauschal 1.050 Euro monatlich, ohne Vermögens- und Einkommensprüfung; der Betrag erhöht sich auf 1.500 Euro für einen Zwei-Personen-Haushalt. In Norwegen erhalten Selbständige und Freiberufler 80 Prozent des Durchschnittsgehalts der letzten drei Jahre (nach oben gedeckelt), in Belgien gibt es ein Überbrückungsgeld in Höhe von 1.291 Euro (1.614 Euro mit "Familienlast) monatlich, und in der Schweiz erhalten "Selbständig Erwerbende" (ausdrücklich auch freischaffende Künstler*innen), die wegen behördlicher Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus Erwerbsausfälle erleiden, eine Entschädigungsleistung von höchstens 196 Franken pro Tag, maximal 5.880 Franken monatlich für zwei Monate.7

Es ist Zeit für ein Kultur-Existenzgeld, also für eine Art Arbeitslosenversicherung für selbständige Kulturschaffende und Kulturarbeiter*innen!

In Deutschland erleben wir im Angesicht der mangelhaften Corona-Hilfen für Selbständige vor allem einen generellen Konstruktions- und Denkfehler der herrschenden Politik. Hier kann sich die Politik Menschen, die sich für Selbständigkeit entschieden haben, offensichtlich ausschließlich als arbeitssuchend oder als auf Arbeitsvermittlung hoffend vorstellen, also als Arbeiter*innen oder Arbeitssuchende wie im 20., wenn nicht sogar im 19.Jahrhundert. Man hängt sozusagen einem in Teilen veralteten Arbeits-Fetisch an.

Der Staat, der den Selbständigen in der Pandemie die Weiterarbeit unmöglich macht, entzieht so Hunderttausenden letztlich die Existenzgrundlage. Dabei ist es knapp vierzig Jahre nach Einführung der Künstlersozialversicherung höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel und für eine neue soziale Utopie zugunsten der Kulturschaffenden. Es ist Zeit für eine neue Form der Grundsicherung für Musiker*innen, Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen. Es ist Zeit für ein Kultur-Existenzgeld, also für eine Art Arbeitslosenversicherung für selbständige Kulturschaffende und Kulturarbeiter*innen!

Wie kann ein derartiges Kultur-Existenzgeld aussehen? So, wie die bisherige Künstlersozialversicherung die Grundgedanken und -regeln der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung für Arbeitnehmer*innen aufgegriffen und in ein spezielles Modell transformiert hat, das der Lebensrealität selbständiger Kulturschaffender entspricht, kann ein Existenzgeld für Kulturschaffende sich am Prinzip der Arbeitslosenversicherung anlehnen.

Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen, die regelmäßig eine entsprechende kulturspezifische Tätigkeit nachweisen können, sollten bei Nichtbeschäftigung oder Honorarausfällen eine Kompensationszahlung, eben ein "Existenzgeld", von mindestens 1.200 Euro und maximal 2.400 Euro netto monatlich erhalten, je nach Höhe des Einkommens aus ihrer kulturellen Tätigkeit im Vorjahr.

Die Kontrolle und Abwicklung, aber auch die Finanzierung könnte grob gesagt analog der bestehenden Künstlersozialversicherung erfolgen: Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen zahlen einen geringen prozentualen monatlichen Beitrag als eine Art "Existenzgeld-Versicherung" wie bei der Kranken- und Rentenversicherung der Künstlersozialkasse (KSK). Die Kulturindustrie trägt entsprechend eine Art Arbeitgeberanteil bei, zum Beispiel Konzertveranstalter einen geringen Prozentsatz auf Gagen von über 1.500 Euro, oder man könnte die Ticketinghändler, die mit ihrem weitgehend risikolosen Provisionsgeschäft von den Events profitieren, mit einer Ticketabgabe zur Kasse bitten. Außerdem sollte es wie bei der KSK einen Bundeszuschuss geben. Die Finanzierungsdetails können an Runden Tischen und von Fachleuten erarbeitet werden.

Vor allem aber scheint es mir eminent wichtig, dass das neue Kultur-Existenzgeld auch den Kulturarbeiter*innen zur Verfügung steht. Insbesondere in der Konzertwirtschaft, aber auch etwa an Schauspiel- und Opernhäusern gibt es längst ein Dienstleistungsprekariat, also eine Heerschar von selbständigen Arbeiter*innen, seien es Bühnenarbeiter*innen, Stagehands, Securities, Roadies, Catering-Kräfte, Tourmanager*innen oder Ton-, Licht- und Backline-Techniker*innen. Diese meist solo-selbständigen Kulturarbeiter*innen und Crew-Mitglieder sind das Rückgrat der Veranstaltungsbranche, ohne sie könnten keine Konzerte oder Theateraufführungen stattfinden; häufig sind sie allerdings schlecht bezahlt und profitieren auch nicht vom Distinktionsvorteil, wie ihn die Kultur-Mittelschicht in Anspruch nehmen kann. Die, die hinter den Bühnen und jenseits der Scheinwerfer arbeiten, müssen ebenso ein Kultur-Existenzgeld erhalten wie die Musiker*innen oder Schauspieler*innen, die auf den Bühnen und im Licht stehen; das gebietet die selbstverständliche Solidarität unter den Akteuren.

Das alles hört sich völlig unrealistisch an? Nun, in unserem Nachbarland Frankreich sind derartige Regelungen seit langem üblich. Dort hat Jack Lang als sozialistischer Kulturminister in den achtziger Jahren das bereits seit 1936 existierende System der "Intermittent du Spectacle" massiv ausgedehnt. Hierbei handelt es sich um eine Art Arbeitslosenversicherung für freie Mitarbeiter*innen und Selbständige in der Kulturindustrie, vor allem für Auftretende, zum Beispiel für Musiker*innen, Schauspieler*innen, Regisseur*innen, aber auch für das technische Personal und die Arbeiter*innen, die für künstlerische Aufführungen notwendig sind.

Wer dort in zehn Monaten eine bestimmte Zahl von Arbeitsstunden oder eine bestimmte Zahl von Auftritten vorweisen kann, erhält bei Nichtbeschäftigung acht Monate lang Kompensationszahlungen in nennenswerter Höhe, mindestens den französischen Mindestnettolohn von derzeit 1.521 Euro, maximal 4.380 Euro monatlich. Weit über 100.000 Kulturschaffende Frankreichs profitieren von dieser Regelung, die es ähnlich auch Luxemburg gibt.

Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass das Musikleben Wertschöpfung erzeugt. Zuschüsse der öffentlichen Hand für Kultureinrichtungen bringen laut einer aktuellen Studie der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig das Vierfache der Investition in die Kommunen zurück. Und der "Arbeitsmarkt Kultur" trägt sowieso wesentlich mehr zur Bruttowertschöpfung bei als die meisten anderen Branchen; nur Maschinenbau und Fahrzeugbau leisten einen größeren Beitrag.8 Die fragile Arbeitssituation der selbständigen Kulturschaffenden, wie sie sich in der Coronära zeigt, steht dieser wirtschaftlichen Realität allerdings diametral entgegen.

Kulturschaffende und Kulturarbeiter*innen dürfen nicht länger als Bittsteller*innen angesehen werden, über die man flapsige Bemerkungen der Art "man kann ja bis zur Wiedereröffnung der Clubs auch mit dem Partner zuhause tanzen" machen kann (so etwa der bayerische Ministerpräsident Söder). Es ist an der Zeit, dass die Menschen, die die kulturellen Institutionen beleben und überhaupt erst die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft erzeugen, sozial abgesichert werden.

Ein an die Arbeitslosenversicherung angelehntes prinzipielles Kultur-Existenzgeld entspricht der gesellschaftlichen Realität von Hunderttausenden von selbständigen Kulturschaffenden und Kulturarbeiter*innen, die frei von Angst um wirtschaftliches Überleben ihren kulturellen Tätigkeiten nachgehen können sollten. Und das Kultur-Existenzgeld kann dieser Personengruppe auch ein freieres Handeln jenseits von Anpassung an den kulturellen Mainstream und an wirtschaftliche Erfordernisse ermöglichen.

Gewiss, das hier vorgeschlagene Kultur-Existenzgeld kann nicht alle sozialen Probleme der selbständigen Künstler*innen, Musiker*innen und Kulturarbeiter*innen lösen. Es ist keine eierlegende Kultur-Wollmilchsau. Viele weitere Schritte müssen folgen, etwa verbindliche Mindestgagen oder ein gesetzlicher Kulturraumschutz. Das Kultur-Existenzgeld kann jedoch ein wichtiger erster Schritt hin zu einer langfristigen sozialen Absicherung sein - und ein Baustein für eine neue soziale und kulturelle Utopie jenseits veralteter Modelle, die mit der Lebenswirklichkeit der Solo-Selbständigen lange schon nichts mehr zu tun haben.

Berthold Seliger ist Publizist und seit über 32 Jahren Konzertagent und Tourneeveranstalter. Er hat Bücher wie "Das Geschäft mit der Musik" (Edition Tiamat 2013, aktuell 7.Auflage), "Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle" (Matthes & Seitz 2017, aktuell 2.Auflage) und zuletzt "Vom Imperiengeschäft. Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören" (Edition Tiamat 2019, aktuell 3.Auflage) veröffentlicht.

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