"Das Plattformgeschäft ernährt sich von Opfern wie ein blutrünstiger Gott"

Darstellung eines Menschenopfers im präkolumbianischen Mesoamerika

In Sozialen Medien wirkt eine Dynamik, die sehr viel älter ist als Twitter oder Facebook

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Spätestens seit die BBC die Serie Little Britain und alte John-Cleese-Werke aus dem Programm nahm, und seit Steven Pinker, Margaret Atwood, Wynton Marsalis, Greil Marcus, Yascha Mounk, Todd Gitlin, Salman Rushdie, Garry Kasparov, Bari Weiss, Mark Lilla und 143 andere bekannte Persönlichkeiten aus dem amerikanischen Geistesleben am 7. Juli einen Letter on Justice and Open Debate veröffentlichten, wird in den USA und anderswo intensiv über die Cancel Culture gestritten.

Die meisten Teilnehmer dieser Debatte behandeln das Phänomen bislang auch aus der Perspektive direkt oder indirekt-empathisch Betroffener. Wird versucht, die Erscheinung abstrakter zu betrachten, geschieht das meist über Rückgriffe auf die amerikanische und europäische Geschichte - auf den McCarthyismus in den USA der 1950er Jahre, auf die Inquisition oder auf Hexenverfolgungen. Der Technologietheoretiker Geoff Shullenberger hat im Tabletmag versucht, einen anderen Weg zu gehen. Er analysiert die Cancel Culture aus der Perspektive des Ethnologen und ist dabei bei René Girards Ausführungen zum Phänomen des Opfers in vorindustriellen Gesellschaften gelandet.

Belohnung im Gehirn

Seiner Wahrnehmung nach verstärkten bislang alle Debattenteilnehmer - gewollt oder ungewollt - eine Dynamik, die Social-Media-Plattformen wie Twitter inhärent zu eigen ist. Sie leben davon, dass Nutzer Inhalte liefern und den Inhalten anderer Nutzer Aufmerksamkeit schenken. Die Nutzer tun das auch deshalb, weil bestimmte Erlebnisse dort ihre Dopaminrezeptoren stimulieren. Das geschieht dann, wenn sie belohnt werden. Durch Aufmerksamkeit, Zustimmung und Weiterverbreitung, die durch die technische Gestaltung der Sozialen Medien sehr schnell und deutlich sichtbar wird.

Deshalb neigen Nutzer bewusst und unbewusst dazu, ihre Beiträge so zu gestalten, dass sie möglichst viel Aufmerksamkeit, Zustimmung und Weiterverbreitung erreichen. Ein sehr einfacher Weg dazu, der auch ohne kreatives Talent gangbar ist, ist die Empörung. Sie tendiert dazu, ein Phänomen zu erzeugen, das einerseits einem Schwarm und andererseits einem Rudel ähnelt. Einem Schwarm, weil es sich ohne zentrale Führung selbst bildet und gleich agiert, da sich seine Teilnehmer gegenseitig Belohnungserlebnisse liefern. Und einem Rudel, weil dabei häufig ein einzelnes Individuum attackiert wird.

Tabus

Attacken von Schwarmrudeln auf Individuen ähneln Shullenbergers Ansicht nach dem Opfern von Sündenböcken in vorindustriellen Gesellschaften, die René Girard als Gefühlskanalisierung und zeitweise Befriedung eines Dauerwettstreits zwischen Individuen zu erklären versuchte. Girards Beobachtungen nach muss der Sündenbock dabei sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gruppe stehen, um deren Zusammenhalt durch den kathartischen Akt zu festigen. Es muss deshalb jemand gefunden werden, der ein Tabu dieser Gruppe gebrochen hat.

Findet sich keiner, müssen neue Tabus her. Damit erklärt sich Girard auch, dass es in außereuropäischen Gesellschaften Tabus gab, die auf Außenstehende oft seltsam sinnlos wirkten. Trifft seine Theorie zu, führen Zensurmaßnahmen der Plattformen oder der Politik nicht dazu, dass sich die Konflikte in Sozialen Medien irgendwann einmal beruhigen. Die Dynamik erfordert ja, dass immer neue Opfer dargebracht werden. Die Tabus, die diese verletzen, können dann auch auf Beobachter seltsam wirken, die schon etwas älter sind und Zeiten mit anderen Regeln erlebt haben.

Anstatt eines stärkeren Reagierens von Politik und Realwirtschaft auf die Konflikte in Sozialen Medien empfiehlt Shullenberger deshalb ein weniger starkes. Denn "das Plattformgeschäft ernährt sich von Opfern wie ein blutrünstiger Gott":

Viele von denen, die die Teilnahme an solch grausamen Riten verteidigen, scheinen sie als Vehikel des Fortschritts zu sehen. Aber Opferungen sind zyklisch und niemals fortschrittlich. Sie erlauben eine zeitweilige Ersatzlösung einer Krise, in der individuelle Opfer symbolisch für enorme und vielseitige Probleme stehen. Die Verantwortung dafür wird mit der Bestrafung und Ausstoßung des Opfers kathartisch und mit einem kurzzeitigen Druckablass übertragen. Geoff Shullenberger

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.