Schweden nach dem Corona-Peak

Bild: NIAID/CC BY-2.0

Die Fallzahlen sinken - jetzt kommen die unangenehmen Fragen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Vor einem Monat, am 24. Juni 2020, registrierte die schwedische Behörde für Gesundheit (Folkhälsomyndigheten) 1.803 neue Covid-19-Infizierte an einem Tag. Für deutsche Touristen galt Schweden da bereits als Risikogebiet, ein Urlaub dort könnte ihnen das Virus einbringen, mindestens aber Quarantäne bei der Rückkehr. Während überall in Europa über Lockerungen diskutiert wurde, schien die Lage in dem Land mit dem Corona-Sonderweg weiter kritisch. Und als Staatsepidemiologe Anders Tegnell darauf hinwies, die hohen Zahlen lägen nur an den vielen Tests, klang das für die meisten nach Trump-Logik. Nach mehr als 5.000 Covid-19-Todesopfern war der schwedische Weg ohnehin diskreditiert.

Einen Monat später: Alle Kurven fallen, obwohl es keine weiteren Maßnahmen gab und die Schweden inzwischen selbst im eigenen Land fleißig reisen. Das RKI hat Schweden von der Liste der Risikoländer gestrichen. In den Intensivstationen des Landes liegen noch insgesamt 50 Covid-19-Patienten - immer noch viele, aber nur noch ein Bruchteil früherer Werte. Was ist passiert?

Tegnell und seine Kollegen führen dies auf drei Faktoren zurück: - Sämtliche Hygiene- und Abstandsregeln sind weiterhin in Kraft und die Leute hielten sich auch größtenteils daran, trotz einer gewissen "Corona-Müdigkeit". - Das Sommerwetter trägt dazu bei, dass Menschen sich mehr draußen aufhalten, wo die Ansteckungsgefahr geringer ist. - Menschen, die die Krankheit durchgemacht haben, sind nun immun - und das sind insbesondere in Stockholm inzwischen so viele, dass es die Verbreitung der Infektion deutlich verlangsamt.

Wie viel Immunität eine überstandene Covid-19-Erkrankung bietet und wie lange diese anhält, ist nach wie vor nicht sehr gut erforscht. Antikörper-Untersuchungen in Stockholm kamen bisher zu Ergebnissen, die um mehrere Prozentpunkte voneinander abweichen. So hat die Privatfirma Werlabs gratis 83.000 Stockholmer auf Antikörper getestet und kam auf einen Prozentsatz von 14,5 Prozent. Ein anderer Antikörpertest der Region Stockholm ergab eine Quote von 17,7 Prozent. Die Unterschiede werden unter anderem damit erklärt, dass das Virus sich sehr ungleich verbreitetet hat und dass es deshalb extrem schwer ist, repräsentative Tests durchzuführen. Bekannt ist inzwischen, dass vor allem die leichteren oder asymptomatischen Covid-19-Infizierten nicht unbedingt diese einfach nachweisbaren Antikörper entwickeln. Zur Immunität verhilft aber auch eine Reaktion der T-Zellen, die allerdings schwerer nachzuweisen ist.

Eine neue Studie des Stockholmer Karolinska Instituts, die noch auf ein Peer-Review wartet, kommt sogar zu dem Schluss, dass die Immunität doppelt so hoch sein könnte: Neben den schwer erkrankten Personen, die sowohl Antikörper als auch T-Zellen Reaktion ausbildeten, gebe es etwa genauso viele Menschen, bei denen nur die T-Zellen reagiert hätten und die offenbar trotzdem immun seien.

Johan Carlson, Direktor der zuständigen Behörde (Folkhälsomyndigheten), schätzte daraufhin optimistisch in einem gegenüber Dagens Nyheter, in Stockholm seien inzwischen etwa 40 Prozent immun. Wäre diese Annahme richtig, und wäre die Berechnung richtig, die der Mathematiker Tom Britton vor einiger Zeit vorgelegt hat, dann wäre Stockholm damit kurz vor einer Herdenimmunität.

Tatsächlich nimmt die Zahl der Neuinfizierten dort ab, obwohl inzwischen sehr umfangreich getestet wird und auch wieder Infektionsketten nachverfolgt werden. In Woche 29 waren es allerdings immer noch 627 Neuinfizierte, was einer Inzidenz von 26 pro 100.000 Einwohnern entspricht. Sicherheitshalber sei hier noch einmal erwähnt: Herdenimmunität war nie das Ziel der schwedischen Strategie. Die bremsende Wirkung der Immunität ist aber ein äußerst willkommener Nebeneffekt, dem viel Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Das Aufräumen beginnt: Missstände in Pflegeheimen unter des Lupe

Ende gut, alles gut also? Dafür sind zu viele Leute gestorben - und dafür sind inzwischen auch zu viele Details bekannt geworden, die nicht gut gelaufen sind. 171 Hinweise auf ernsthafte Probleme sind bei IVO (Inspektionen för vård och omsorg) eingegangen, einer Institution, deren Aufgabe es ist, Missständen im Pflegebereich nachzugehen. Zu den Vorwürfen gehört, dass ältere Erkrankte mit Covid-19-Symptomen nicht individuell von einem Arzt begutachtet wurden, bevor sie statt therapeutisch nur noch palliativ behandelt wurden. Mehr ältere Menschen hätten gerettet werden können, wenn man sie nicht vorschnell abgeschrieben hätte, sondern beispielsweise mit Sauerstoff versorgt oder ins Krankenhaus gebracht hätte. IVO untersucht aktuell konkret Missstände in 91 Seniorenwohnheimen.

Offiziell wurde nach wie vor überall eine individuelle Diagnose verlangt. Allerdings hatte die Sozialbehörde verfügt, zum Schutz der Seniorenheime sollten dort so wenige Menschen wie möglich hineingehen, auch Arztbesuche sollten reduziert werden, und die Beurteilung müsse nicht immer in physischer Anwesenheit erfolgen. Darauf wies jüngst Dagens Nyheter hin. Dies ermöglichte offenbar Fehlinterpretation und Missbrauch. Zudem gab es die Befürchtung, die Krankenhauskapazitäten könnten nicht ausreichen. Geriatrieprofessor Yngve Gustafsson von der Universität Umeå schätzte laut DN, dass mehr als 1.000 Menschen nur mangels geeigneter Versorgung zu früh gestorben sind, die Hälfte davon in Stockholm. Diese Missstände traten vor allem zu Beginn der Pandemie auf.

Frühere Untersuchungen in Seniorenheimen hatten bereits mangelnde Hygiene und häufig wechselndes Personal dafür verantwortlich gemacht, dass das Virus trotz all der guten Vorsätze in die Einrichtungen eindringen und sich dort ausbreiten konnte. 50 Prozent der schwedischen Corona-Todesopfer lebten in Seniorenheimen, weitere 25 Prozent lebten zuhause, waren aber auf einen ambulanten Pflegedienst angewiesen. Inzwischen gelingt es den meisten Einrichtungen besser, ihre Bewohner zu schützen - auch das trug dazu bei, dass die Zahlen der Infizierten und der Opfer gesunken sind.