Trotz Corona-Pandemie wird Syrien ausgehungert

In Nord- und Ostsyrien, dem Gebiet der multiethnischen Selbstverwaltung, zeigt sich die Lage besonders extrem. Die deutsche Regierung verteilt bei der Frage nach humanitären Hilfen "Nebelkerzen"

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Mitten in der Coronakrise verhängten die USA neue Sanktionen gegen Syrien. Das Land steht kurz vor der größten Hungerkrise seit Kriegsbeginn. Wieder einmal trifft es nicht die Verantwortlichen der desaströsen Situation in Syrien, sondern die Bevölkerung.

In Nordsyrien scheint die Türkei neue Annexionen vorzubereiten. Die Bundesregierung stuft die Operationen der Türkei im Gebiet der Selbstverwaltung als völkerrechtswidrig ein und will NGOs, die in Nord- und Ostsyrien tätig sind, mit einer Million Euro gegen die Covid-19-Pandemie unterstützen. Unklar ist bislang, welche im Gebiet der Selbstverwaltung aktiven NGOs die Mittel bekommen sollen und wie die medizinischen Güter und Medikamente die Region erreichen sollen.

"Regime-Change" durch Aushungern der Bevölkerung?

Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es bis zum 30.6.2020 in Syrien 256 bestätigte COVID-19-Fälle, darunter neun Todesfälle. Diese Zahlen meldete das syrische Gesundheitsministerium den UN-Institutionen, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

In Nordostsyrien, dem Gebiet der "Demokratischen Föderation", wurden weitere sechs Fälle, darunter ein Todesfall, bestätigt. Im türkisch besetzten Gebiet Nordwestsyrien soll es bislang keine bestätigten Covid-19-Fälle geben. In ganz Syrien sind die Testkapazitäten jedoch immer noch stark begrenzt. Neben dem Haupttestlabor in Damaskus wurden zwar weitere Labore in Lattakia, Aleppo, Homs und Qamishlo eröffnet, ausreichend sind diese jedoch längst nicht. Nach wie vor gibt es kaum Corona-Testkits im Land, die Testkapazitäten in Syrien stiegen zuletzt von 70 auf 90-150 Tests pro Tag. Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Helin Evrim Sommer von der Linkspartei hervor.

Obwohl niemand im Land das tatsächliche Ausmaß der Covid-19 Infektionen kennt, lockerte Präsident Baschar al-Assad die Corona-Beschränkungen. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren, vielleicht wollte er der Bevölkerung nicht noch mehr abverlangen, vielleicht waren die Beschränkungen aber auch angesichts der desaströsen Gesamtsituation einfach nicht durchsetzbar. Vielleicht wollte er auch die Bevölkerung angesichts der Parlamentswahlen am 19. Juli milde stimmen.

In Syrien steigt nicht zuletzt wegen der verschärften Sanktionen die Arbeitslosigkeit. Finanzielle Unterstützung durch die Regierung kann die Bevölkerung nicht erwarten. Die Inflation steigt in rasantem Tempo und führt zu einer Versorgungsknappheit bei der Bevölkerung. Die Zahl der obdachlosen Menschen steigt. Es fehlt praktisch an allem: an Lebensmitteln und Medikamenten, vor allem aber an Hygieneprodukten und Schutzmasken, um sich vor Corona schützen zu können.

Über neun Millionen der noch im Land gebliebenen Menschen sind von Hunger bedroht. Das Gesundheitssystem, einst vorbildlich für den Nahen Osten, steht vor dem Kollaps. Die Preise für Lebensmittel und Hygieneprodukte sind um das Drei- bis Vierfache gestiegen. Vor der Pandemie kostete z.B. Olivenöl ungefähr 35.000 syrische Pfund, heute muss man dafür 100.000 syrische Pfund berappen. Damit die Dimensionen deutlich werden: Der Durchschnittslohn eines syrischen Beamten liegt bei etwa 50.000 syrischen Pfund im Monat, das sind rund 17 Dollar.

Der Caesar-Act der USA verschärft die Lage nochmals: Personen und Firmen, die mit Syriens Regierung Geschäfte machen, sollen bestraft werden. Das hat zur Folge, dass die weitverbreitete Korruption weiter steigt, denn die Händler, die schon vor Corona die prekäre wirtschaftliche Lage ausgenutzt haben, begründen ihre astronomischen Preise nun mit dem Caesar Act.

Die rasant steigenden Preise erschweren auch die Arbeit der Hilfsorganisationen. Schon vor den neuen US-Sanktionen war es ein großes Problem, dass kein Geld aus westlichen Staaten über Banken überwiesen werden konnte, um vor Ort für entwicklungspolitische oder humanitäre Projekte die notwendigen Güter zu kaufen. Alles musste über den Transfer von Bargeld erfolgen. Nach Europa Geflüchtete nutzen für Überweisungen an ihre Familien in den Heimatländern, in denen kein funktionierendes Bankensystem besteht, wie z.B. in Syrien, das weitverbreitete, inoffizielle Hawala-Finanzsystem.

Für NGOs und Hilfsorganisationen ist dies wegen der offiziellen Abrechnungsmodalitäten mit den Geldgebern keine Option. Der Streit der Großmächte über die Kontrolle der humanitären Hilfe und darüber, wer nun Assad wie in die Knie zwingt, nimmt mittlerweile absurde Ausmaße an. Darunter hat sicherlich nicht Assad und seine Familie, sondern vor allem syrische Bevölkerung zu leiden. Es gehört schon eine große Portion Skrupellosigkeit dazu, den Regime Change durch das Aushungern der Bevölkerung erlangen zu wollen.

Der Norden Syriens ist doppelt betroffen

In Nord- und Ostsyrien, dem Gebiet der multiethnischen Selbstverwaltung, zeigt sich die Lage noch extremer. Wenn die Selbstverwaltung Güter aus dem von der Zentralregierung kontrollierten Gebiet kaufen muss, um ihre Bevölkerung mit dem Notwendigsten zu versorgen, packen die Händler noch einen extra Aufschlag dazu.

Beim Transport z.B. von Damaskus nach Nordostsyrien fallen dann an den Checkpoints der syrischen Regierung weitere "Gebühren" an. Hinzu kommen die ständigen Angriffe der Türkei und ihrer islamistischen Söldner in den annektierten Gebieten Nordsyriens, sowie die Sperrung des Wassers durch die Türkei. Was zu immer mehr Binnenflüchtlingen führt.

Die Zeitschrift "Cicero" berichtet, dass aktuelle Teile der christlichen Bevölkerung, die Nachfahren der Überlebenden des Völkermords an Armeniern und Christen, wieder durch die Türken auf der Flucht sind - und das in einem Gebiet, in dem sie 1915 Zuflucht gefunden hatten. Die Selbstverwaltung wollte allen religiösen und ethnischen Minderheiten ein sicheres Zuhause schaffen und damit Fluchtursachen bekämpfen. Wegen der wirtschaftlichen Sanktionen ist das, nunmehr seit 8 Jahren existierende, basisdemokratische Modell nach dem IS jetzt durch Erdogans islamistische Söldner bedroht.

In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei (Quelle s.o.) zur Situation des Gesundheitssystems im Gebiet der Selbstverwaltung berichtet die Bundesregierung:

"Die Kapazitäten des öffentlichen Gesundheitswesens in Nordost-Syrien sind im Vergleich zu anderen Landesteilen schwach. Nur 10% der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sind voll funktionsfähig, und nur in einem Distrikt Nordost-Syriens wird der humanitäre Mindeststandard in Bezug auf das zur Verfügung stehende medizinische Personal erfüllt. Unterversorgt sind insbesondere Teile der Provinzen Raqqa und Deir ez Zor.

Nach Kenntnis der Bundesregierung sind in Nordost-Syrien derzeit neun Gesundheitseinrichtungen als Referenzeinrichtungen mit intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten für schwere Covid-19-Fälle vorgesehen. Davon werden derzeit in sieben Einrichtungen Intensiv-6-Stationen eingerichtet, zum Status der zwei weiteren liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor. In Nordost-Syrien stehen insgesamt 13 Beatmungsgeräte für Covid-19-Patienten zur Verfügung, weitere Geräte sollen beschafft werden."

Im Vergleich zum türkisch besetzten Nordwestsyrien berichtet die Bundesregierung:

Nach Angaben der WHO (Stand Juni 2020) verfügen die derzeit aktiven Gesundheitseinrichtungen im Nordwesten Syriens über 421 Betten auf Intensivstationen. Insgesamt stehen 253 Beatmungsgeräte für Patientinnen und Patienten mit respiratorischen Krankheiten in Nordwest-Syrien zur Verfügung.

In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage steht unter anderem, dass in den nicht von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten unterschiedliche Instrumente für Nexus- und Friedenspartner zur Verfügung stehen, die gemäß der Bedarfe der notleidenden Bevölkerung genutzt werden. Darunter fallen die Basisversorgung der Bevölkerung mit Wasserzugang, Gesundheitsleistungen sowie Ernährungssicherung.

Hört sich gut an, aber in Nordost-Syrien scheint das nicht anzukommen, zum Beispiel hat die Türkei die Wasserversorgung in Nordost-Syrien nach wie vor gekappt. Die Selbstverwaltung versucht das Problem mit Tanklastern zu lösen.

Die Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen lässt weiter auf sich warten. 2020 sollen angeblich Mittel in Höhe von rd. 8,3 Mio. Euro für Gesundheitsversorgung, Ernährung, Hygiene und Schutzmaßnahmen zur Verfügung gestellt worden sein. Auch hier kann Telepolis die Empfänger der Mittel nicht identifizieren.

Einzig in die Flüchtlingscamps fließen Gelder der landesweiten Hilfsprogramme des Welternährungsprogramms (United Nations World Food Programme, WFP), des Hochkommissars für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR) und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) mit bislang mit insgesamt 264 Mio. Euro. Diese beinhalten Maßnahmen zur Nahrungsmittelversorgung und zum Schutz der besonders bedürftigen Bevölkerungsgruppen in Nordostsyrien.

Die Basis-Gesundheitsversorgung in den Camps wird insbesondere von Nichtregierungsorganisationen und von der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung angeboten. In den formalen Camps Al Hol, Areesha, Mahmoudi und Roj sind Gesundheitseinrichtungen vorhanden, in einigen informellen Camps sind lediglich mobile Kliniken im Einsatz.

Allerdings verschweigt die Bundesregierung in der Beantwortung der Kleinen Anfrage, dass die Selbstverwaltung in Nordost-Syrien zwar die Grundlage für die internationalen großen Hilfsorganisationen schafft, aber nicht an den Hilfsprogrammen beteiligt wird. Auch kleine NGOs, die sich im Gebiet der Selbstverwaltung engagieren, sind von den Hilfsprogrammen ausgeschlossen.

Humanitäre Hilfslieferungen bedroht

Seit Beginn des Jahres erfolgen UN-Hilfslieferungen nur nur noch über die zwei türkisch-syrischen Grenzübergänge Bab al-Salam und Bab al-Hawa. Es liegt auf der Hand, dass diese Hilfen im türkisch besetzten Gebiet Afrin und Idlib verbleiben. Zuvor gab es noch zwei Grenzübergänge aus Jordanien und dem Irak.

Im UN-Sicherheitsrat blockieren sich die Mitglieder gegenseitig, wenn es darum geht, welche Grenzübergänge für humanitäre Hilfe geöffnet sein dürfen. Ein deutsch-belgischer Vorschlag, die Grenzübergänge von Jordanien und Irak (in Yaroubiyah) offenzuhalten, scheiterte am Votum Chinas und Russlands. Russlands Vorschlag, nur noch einen Grenzübergang im von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiet zu nutzen, scheiterte ebenfalls.

Für die Anrainerstaaten Syriens, Türkei, Irak und Jordanien hat das Auswärtige Amt

...zusätzliche Mittel in Höhe von 300 Mio. Euro für humanitäre Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie bereitgestellt. Diese Summe soll um 150 Mio. Euro erhöht werden. Ein Großteil dieser Mittel wird den Vereinten Nationen und der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung im Rahmen ihrer globalen Hilfsaufrufe zur Verfügung gestellt.

Dies geht aus der schon zitierten Anfrage im Bundestag in Frage 6 hervor. Das dürfte nach allen Erfahrungen der Vergangenheit bedeuten, dass vor allem der türkische Roten Halbmond zu den Profiteuren gehört, obwohl er in einen handfesten Korruptionsskandal in der Türkei verwickelt ist.