Hiroshimas Unglück und Heidelbergs Glück

Bild Hiroshima: U.S. Department of Energy; Bild Heidelberg: Jwan Ibrahim / CC-BY-SA-3.0

Warum Heidelberg im Zweiten Weltkrieg der Vernichtung entging

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Während im Zweiten Weltkrieg fast alle deutschen Städte von den Alliierten in Schutt und Asche gelegt wurden, blieb dem idyllischen Heidelberg dieses Schicksal auf geheimnisvolle Weise erspart. Das Verschonen der Neckarstadt rief zwei Mythen auf den Plan: Heidelberg sei früh als Hauptquartier der US-Streitkräfte in Deutschland ins Auge gefasst worden und Dwight D. Eisenhower, seit Dezember 1943 Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Nordwesteuropa, habe hier studiert.

Beide Behauptungen sind aus der Luft gegriffen. Tatsächlich hatten Strategen in Washington nämlich das genaue Gegenteil im Sinn: Die Stadt mit ihren damals knapp 100.000 Einwohnern war als unverfälschtes Testgebiet für den ersten Abwurf der Atombombe reserviert.

Analog dem Kriterium für Nagasaki, das wegen seiner Kessellage ausgewählt worden war, standen auch Dresden und Heidelberg im nuklearen Zielkatalog. Der militärische Leiter des Manhattan-Projekts, Leslie Groves, bestätigte 1962 in seinen Memoiren1, dass US-Präsident Franklin Roosevelt ihn Anfang Februar 1945 angewiesen habe, Vorbereitungen für einen Atomwaffeneinsatz gegen Deutschland zu treffen, falls das NS-Regime bei der Fertigstellung der Bombe noch nicht besiegt sei. Das US-Verteidigungsministerium habe bereits die Industriezentren Ludwigshafen am Rhein und Mannheim als mögliche Ziele ausgewählt, während andere Kreise Berlin als möglichen Einsatzort der Atombombe favorisiert hätten.

Die bereits ausgebombten Städte Berlin, Mannheim und Ludwigshafen taugten nicht für den Ersteinsatz einer Atomwaffe, deren Auswirkung auf unzerstörte Ziele von einem Begleitflugzeug dokumentiert werden sollte, wie dann geschehen in Japan. Denn Berlin war ab dem 25. August 1940 wieder und wieder angegriffen worden, das Stadtgebiet von Mannheim war bereits am 1. Juni 1940 fast völlig zerstört worden und Ludwigshafen wurde im Oktober 1941 von der Royal Air Force bombardiert.

Doch erst am 16. Juli 1945 gelang auf den White Sands Proving Grounds in New Mexico mit dem Trinity-Test die erste erfolgreiche Zündung einer Atombombe auf Plutoniumbasis - gut zwei Monate nach der Kapitulation des Dritten Reichs, so dass Deutschland das nukleare Inferno erspart blieb, dem Elbflorenz allerdings nicht die massive Zerstörung im Februar 1945.

Offizielle Quellen für Heidelberg und Dresden als Zielgebiete sind nicht bekannt, jedoch war der legendäre "Atomspion" Klaus Fuchs über solche Details informiert. Der deutschstämmige Nuklearphysiker war maßgeblich an der Konstruktion der Plutoniumbombe Fat Man beteiligt. 1950, vier Jahre nach seiner Rückkehr nach Großbritannien, wurde Fuchs als der sowjetische Spion entlarvt, der es Stalin ermöglicht hatte, das amerikanische Atomwaffenmonopol schnell zu brechen. Fuchs wurde 1959 begnadigt, ging in die DDR und arbeitete am Zentralinstitut für Kernforschung in Rossendorf bei Dresden. Bereits im April 1967 wurde er ins Zentralkomitee der SED aufgenommen und wechselte 1974 an die Akademie der Wissenschaften nach Berlin.2

Nachdem Wolfgang Herger - Mitglied im ZK der SED seit 1976 - im Jahr 1985 dort die Leitung der Abteilung Sicherheitsfragen übernommen hatte3, organisierte er in der Hauptstadt der DDR Symposien zu militärpolitischen Themen. Am Rande einer solchen Veranstaltung teilte Fuchs ihm und dem Hochschullehrer Prof. Dr. Bernhard Gonnermann mit, dass es auch für Deutschland Planungen zum Abwurf von Atombomben gegeben habe. Er machte Heidelberg und Dresden namhaft.

Der Verlauf des alliierten Bombenkriegs stützt die Aussage von Fuchs über die tatsächliche Zielplanung. Dresden wurde erst im Oktober 1944 - fünf Jahre nach Beginn der britischen und amerikanischen Luftangriffe - erstmals und am 13./14. Februar 1945 so massiv bombardiert, dass 90 Prozent der Innenstadt zerstört wurden. Heidelberg überstand den Zweiten Weltkrieg nahezu unversehrt, stand nur am 1. März 1945 als Ersatzziel für Bruchsal, das dann in Schutt und Asche gelegt wurde, im Kampfauftrag der 303. Amerikanischen Bombergruppe.

Am 6. und 9. August 2020 jähren sich die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki zum 75. Mal. Die Kernwaffen Little Boy mit einer Ladung aus Uran und die Plutoniumbombe Fat Man töteten 65.000 Menschen sofort, bis zum Jahresende 1945 stieg die Zahl der Opfer auf über 200.000. Das seltene Glück, im Zweiten Weltkrieg nicht durch alliierte Luftangriffe zerstört worden zu sein, verdankt die älteste Universitätsstadt Deutschlands demnach der Tatsache, dass man sie als deutsches Hiroshima einplante.