Indien ist von Corona durchseucht - Na und!

Dhapa Kolkata - auf Indiens Müllbergen landen jetzt auch Millionen von benutzten Masken und Kitteln aus Krankenhäusern wie aus Privathaushalten. Bild: Gilbert Kolonko

Eine Studie nach der anderen zeigt auf, dass immer größere Teile der indischen Bevölkerung Covid-19-Antikörper in sich tragen: Bei Slumbewohnern in Mumbai ist das sogar bei 57 Prozent der Getesteten der Fall

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Offiziell hat Indien 530.620 aktuelle Fälle, die mit dem Corona-Virus infiziert sind. Runtergerechnet auf die Einwohnerzahl Deutschlands heißt das etwa 30.300 Infizierte. Somit hat Narendra Modi nicht Unrecht, als er am 27. Juli behauptete, Indien habe die Corona-Krise besser im Griff als viele andere Länder.

Die offiziellen Zahlen der indischen Regierung zeigen sogar an, dass sich die Zahl der täglich Infizierten auf knapp unter 50.000 stabilisiert hat. In der Gesamtheit hat sich laut Regierung bisher nur knapp über 1 Prozent der Menschen des Landes mit dem Corona-Virus infiziert. Dazu wies Narendra Modi darauf hin, dass Indien jetzt 11.000 Einrichtungen mit 1,1 Millionen Betten besitze, in denen die Infizierten isoliert werden können. Wer dies liest, kann eigentlich nur eins machen: Der Zentralregierung Indiens großen Respekt zollen, wie es auch die Millionen Modi-Anhänger im Land machen. Sie feiern ihn in Cartoons, in denen er als Supermann herumfliegt und Corona-Viren wegboxt.

Antikörper-Studien

Nun wurde jedoch schon vor Modis-Rede eine weitere Studie über Antikörper veröffentlicht: Dieses Mal von Thyrocare, einem privaten Diagnose-Labor, das über einen Zeitraum von 20 Tagen 60.000 Menschen auf Covid-19-Antikörper getestet hat: Im Schnitt wurden bei 15 Prozent der Getesteten Antikörper gefunden - in Delhi waren es sogar 37 Prozent. Thyrocare Managing Director A. Velumani sagte schon am 17. Juli, dass er davon ausgehe, dass 170 - 180 Millionen Inder gegen Covid-19 immunisiert sind. Für die nächsten Tage hat Thyrocare angekündigt, eine Studie mit 120.000 Testpersonen zu veröffenlichen.

Laut einer weiteren Studie aus Delhi, bei der zwischen dem 27. Juni bis zum 5. Juli 20.000 Personen getestet wurden, hatten 23,48 Prozent der Getesteten Covid-19-Antikörper im Blut.

Laut einer Studie der Stadtverwaltung in Mumbai sind bei 57 Prozent der untersuchten Slumbewohner Antikörper des Corona-Virus festgestellt worden. Dazu wurden bei der Studie Hinweise auf asymptomatische Ansteckungen von Covid-19 gefunden.

In Kolkata wurden bei Tests des Indian Council of Medical Research (ICMR) bei 14 Prozent der Untersuchten Antikörper des Corona-Virus gefunden. Das Ergebnis wurde am 26. Juni veröffentlicht.

Da in Indien die Zeiten vorbei sind, in denen Zehntausende unbemerkt vor sich hinsterben, scheinen die Studien zu zeigen, dass das Immunsystem der indischen Bevölkerung Covid-19 standhält. Überraschend wäre das nicht: Zum einen sind über die Hälfte der indischen Bevölkerung jünger als 25 Jahre. Nur 6,18 Prozent älter als 65.

Den anderen Grund deutet ein Besuch bei einem Arzt in der Kleinstadt Berhampur vor 10 Jahren an. Ich hatte mir Fieber eingefangen. Da so etwas auf Indienreisen nichts Ungewöhnliches ist und die meisten Menschen auf der Straße schlank sind, jedenfalls außerhalb der Blase der oberen Mittelklasse, wurde mir der Ernst der Lage erst bewusst, als ich 12 Kilo verloren hatte. Als mich der Doktor bei der oberflächlichen Untersuchung fragte, wie lange ich schon in Indien sei, lautete die Antwort: "Vier Monate", worauf der Doktor lachend strahlte und sagte: "Dann sind sie ja wie wir! No Problem, Sie überstehen das." Er hatte Recht...

Todesursachen

Im November 2019 hatte ich mir bei einer Recherche über vergiftete Flüsse in Uttar Pradesh Dengue-Fieber eingefangen, was kein Grund zur großen Beunruhigung ist: Ein halbwegs gesunder Mensch übersteht das in der Regel nach einigen schmerzvollen Tagen. Auch die Mehrheit der Inder. Doch nicht alle von ihnen haben eine halbwegs gesunde Ernährung. Wenn Gemüse, Reis und Obst mit Haushalts- und Chemie-Abwässern gewässert werden, ist das natürlich umso schwerer.

Laut einer Studie, die im letzten Dezember 2019 im Lancet Global Health veröffentlicht wurde, sterben in Indien jeden Tag mehr als 4.500 Menschen an folgenden Krankheiten: 938 an einer Infektion der Atemwege (nicht Covid-19); 1421 Menschen an Durchfall; 928 an Fieber unbekannter Herkunft; 1.026 an Tuberkulose; und 508 Menschen jeden Tag an Malaria.

Wer will in Indien also genau sagen können, ob ein Mensch an Covid-19 gestorben ist, oder an einer anderen Krankheit, wenn er vorher an Fieber oder einer Lungeninfektion gelitten hat, was für viele Menschen in den smogverseuchten indischen Großstädten ein Dauerzustand ist.

Vor allem wenn Fakten für viele indische Minister eh keine Rolle spielen: Als Delhi im letzten Winter wieder in einer Smogglocke verschwand, riet Gesundheitsminister Harsh Vardhan den Hauptstädtern Karotten zu essen, das helfe gegen Luftverschmutzung.

Dazu behauptete Vardhan, dass es keinen Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Tod gebe. Damit reiht sich Vadhan nahtlos in eine Reihe von interessanten Aussagen hoher Regierungsmitglieder ein - einschließlich Premierminister Modi mit seiner Kopf-Transplantations-Theorie.

"Äußerst wendig"

Dafür ist auch Gesundheitsminister Vardhan äußerst wendig. Als Thyrocare mit seiner Studie die Zahlen der Regierung als Witz entlarvte, schämte sich der Minister nicht in Grund und Boden, sondern er lobte sich selbst und die indischen Unternehmen, dass Indien in der Forschung eine Vorreiterrolle einnimmt.

Nun bestreiten auch die ärgsten Kritiker nicht, dass Indien schlaue Köpfe hervorbringt: Ein Drittel aller blauen Karten in Deutschland außerhalb der EU gehen an indische Fachkräfte. Sollte der Trend der letzten Jahre anhalten, werden in 15 Jahren eine Million Inder in Deutschland leben.

Auch zweifelt kein Kritiker an, dass Indien mittlerweile einige Weltkonzerne wie Reliance hervorgebracht hat. Aber schon bei Reliance von Anil Ambani kann gefragt werden, was die Mehrheit der indischen Bevölkerung davon hat, wenn Bundesregierungen wie der von Kerala eine Reliance-Krankenversicherung aufgedrückt werden sollen, nach der nur künftig noch 1,85 Millionen Bürger Keralas krankenversichert sind, obwohl es derzeit mehr als 4 Millionen sind.

Unter der Regierung von Narendra Modi haben sich die NPA (non-performing assets) der indischen Banken verfünffacht - von 32 Milliarden US Dollar auf 150 Milliarden. Bei den NPAs handelt es sich um Kredite, die mehr als 90 Tage überfällig sind. Die Schuldner von 80 Prozent dieser Kredite sind indische Konzerne wie dias Modi-freundliche Unternehmen Reliance Industries, das dem Bruder von Anil Ambani gehört.

Dazu setzte die Modi-Regierung die Staatsbanken bei Krediten im Wert von 60 Milliarden unter Druck, die Schuldner nicht zu "belästigen". Auch bekamen die Schuldner alleine zwischen März 2017 und März 2018 weitere Kredite im Wert von 32 Milliarden US-Dollar von der Regierung, um die alten zurückzuzahlen. Zeitgleich nahmen sich viele Bauern das Leben, weil ihnen die Banken Kredite verweigerten.

Zahlen-Trickserei

Nun glauben Experten schon lange nicht mehr, was die Modi-Regierung erzählt, auch nicht in Sachen Wirtschaft. Dort werden die Zahlen des indischen Wirtschaftswachstums schon lange angezweifelt und der Regierung auch in diesem Bereich Zahlen-Trickserei vorgeworfen.

Die Umsatzsteuerreform (GST), für die sich Modi im Jahr 2017 hat feiern lassen, hatte er noch vehement abgelehnt, als die Vorgängerregierung das vorhatte.

Noch im Jahr 2015 verteufelte Narendra Modi im Parlament das "100 Tage-Recht auf Arbeit (MGNREGS) Programm", dass die Vorgänger Regierung 2005 eingeführt hatte, um den Ärmsten zumindest 100 Tage im Jahr Lohnarbeit zu garantieren.

Doch schon einen Monat nach seiner Schimpfkanonade über das MGNREGS Programm kam es in Indien zu einer Dürre - nur dank des MGNREGS konnte die Modi-Regierung die Auswirkungen lindern. Gleiches jetzt während des Lockdowns: Dank des MGNREGS und seinen vorhandenen Strukturen konnte die Modi-Regierung zumindest auf dem Papier 300 Millionen Arme mit knapp 5 Milliarden US-Dollar unterstützen.

Auch wer sieht, wie auf dem Müllberg Delhis Corona-verseuchte Masken und Krankenhauskittel landen, die eigentlich Sondermüll sind, hat arge Zweifel, dass Indien alles im Griff hat. Vom Müll Indiens leben 100.000 Menschen und wie zum Beispiel in Kolkata, landet der Müll durch Plastiksammler wieder in der City. Auch Kühe werden zum Grasen auf die Müllberge getrieben und später vom Menschen gegessen - zumindest in Kolkata ist "beef" noch fast überall erhältlich.