Spanien sperrt mit erfundenen Anschuldigungen unliebsame Politiker weg

Barcelona: Angeklagte vor dem Gerichtshof, begleitet von hochrangigen katalanischen Politikern. Foto: Ralf Streck

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte brauchte Spanien noch fast zwei Jahre, um die Unrechtsurteile zu annullieren, über die fünf Basken 6,5 Jahre inhaftiert waren

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wie Telepolis vor fast zwei Jahren berichtete, hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg das angeblich so demokratische Spanien erneut abgewatscht. Dabei ging es diesmal nicht um Folter und Misshandlungen, sondern um fünf baskische Politiker, die nach Ansicht des Menschenrechtsgerichtshofs keine fairen Prozesse hatten und auf Basis von erfundenen Anklagen für 6,5 Jahre weggesperrt worden waren.

Es blieb den spanischen Gerichten, die unter Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze ein politisch gewolltes Urteil durch alle Instanzen getragen haben, nun keine andere Möglichkeit, als das Urteil nach dem EMGR-Urteil zu kassieren. Das hat der Oberste Gerichtshof nun zähneknirschend getan. Allerdings ließ man sich, so ist das bei einer politisierten Justiz üblich, aus politischen Gründen noch fast zwei Jahre Zeit.

Das hatte einen einfachen Grund. Im Baskenland standen erneut Wahlen an. Der Spitzenkandidat und Friedensstifter Arnaldo Otegi, der wie Rafa Díez Usabiaga, Miren Zabaleta, Sonia Jacinto und Arkaitz Rodriguez (siehe das Telepolis-Interview: "Es ist der Augenblick gekommen, um jetzt radikal umzusteuern") seine Haftstrafe bis zum letzten Tag abgesessen hat, war zudem noch zu einem Amtsverbot verurteilt worden.

Politische Justiz

Der charismatische Otegi konnte deshalb nun schon zum zweiten Mal nicht als Spitzenkandidat für die Linkskoalition EH Bildu (Baskenland Versammeln) antreten. So funktioniert politische Justiz und so werden Wahlen nicht nur über absurde Parteiverbote manipuliert, die die baskische Linke ebenfalls gewohnt ist.

Arnaldo Otegi mit dem ehemaligem Chef der Gewerkschaft LAB, Rafa Diez, der ebenfalls verurteilt wurde. Foto: Ralf Streck

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass keiner der Staatsanwälte oder Richter für die Erfindungen und die Urteile zur Rechenschaft gezogen werden. Es ist nur ein schwacher Trost, dass der "Star-Richter" Baltasar Garzón - der sich sogar gerne als Rächer der Menschenrechte verkauft - längst von den ehemaligen Kameraden abgesägt wurde. Er war auch für dieses Verfahren verantwortlich.

Doch der der Mann, der seine Anklagen selbst gerne auf Foltergeständnisse baute, fiel in Ungnade, als er denen auf den Füßen herum zu trampeln begann, für die er lange im Baskenland die juristische Drecksarbeit erledigt hat wie im Fall von Otegi und Co und vielen anderen.

Aufgrund seiner Erfindungen wurden auch die fünf Politiker zu Mitgliedern der Untergrundorganisation ETA gestempelt und in unfairen Prozessen ohne Beweise abgeurteilt. Die Geschichte hat längst gezeigt, dass sie tatsächlich dabei waren, die ETA abzuwickeln, was auch erfolgreich gelang. Es drängt sich sogar der Verdacht auf, dass genau das über die Repression verhindert werden sollte, der Staat also am Fortbestand der Gewalt ein Interesse hatte. Doch der einseitige Friedensprozess konnte auch durch diese weitere Episode der Repression nicht mehr gesprengt werden.

Dass ein solches Vorgehen der Justiz nichts mit Gewalt zu tun hat, zeigt sich seit gut drei Jahren in Katalonien. Dort wird mit massiver Repression gegen eine friedliche Demokratiebewegung vorgegangen. Auch hier geht die spanische Justiz wieder mit Schauprozessen nach politischen Vorgaben vor. Demnach ist das friedliche Aufstellen von Wahlurnen nun sogar "Aufruhr", schreibt der Oberste Gerichtshof absurde Rechtsgeschichte.

Arkaitz Rodríguez. Foto: Ralf Streck

Das Problem der Spanier ist nur, dass diesen Unfug kein unabhängiges Gericht in keinem europäischen Staat nachvollziehen kann, weswegen die Auslieferungen von politischen Flüchtlingen wie dem ehemaligen katalanischen Regierungschef in Deutschland, Belgien, Großbritannien und der Schweiz verweigert wurden.

Urteil trotz Immunität

Doch es kommt noch dicker. Der Chef der Republikanischen Linken (ERC) und ehemalige katalanische Vizepräsident hätte nie verurteilt werden dürfen, da Oriol Junqueras Immunität genießt. Obwohl das sogar der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg festgestellt hat, sitzt der Mann aber nicht im Europaparlament, sondern ebenfalls weiter illegal im Gefängnis. Und gerade hat die politische spanische Justiz sogar die zustehende Hafterleichterung gestrichen. Die Initiative kam vom Ministerium für Staatsanwaltschaft - also der angeblich progressiven Regierung.

Sie hat dafür gesorgt, dass Junqueras und anderen "politischen Gefangenen" - wie sie die UNO-Kommission für willkürliche Verhaftungen so bezeichnet, Hafterleichterungen gestrichen bekamen.

Oder wie Katalane Pere Grau in seinem Blog über "Spanische Eigentümlichkeiten" schreibt:

Die prominenten katalanischen politischen Gefangenen, die in einem skandalösen Prozess zu unverdienten Gefängnisstrafen verurteilt wurden, durften seit kurzem (im Einklang mit dem geltenden spanischen Recht) einige Tage in der Woche tagsüber das Gefängnis verlassen, um einer Arbeit nachzugehen, und 3 Nächte in der Woche zu Hause schlafen. Das schien für den spanischen deep state unerträglich zu sein, und jetzt hat die Staatsanwaltschaft den Obergerichtshof gebeten, diese Erleichterungen für diese "wegen Aufruhr verurteilten Gefangenen" zu verbieten, und zwar "vorsichtshalber mit sofortiger Wirkung"

Pere Grau

Daran ist wirklich alles eigentümlich. Allerdings gibt es auch einen Richter, der für die Überwachung des Strafvollzugs in Katalonien real zuständig ist, der die Erleichterungen für Dolors Bassa und die ehemalige Parlamentspräsidentin Carme Forcadell bestätigt hat. Er hat schlicht nach Recht und Gesetz entschieden und das lasse seiner Ansicht keine andere Entscheidung zu.

Da die Regierung das über das Ministerium für Staatsanwaltschaft vor den Obersten Gerichtshof ziehen wird, der bisher dafür nie zuständig war, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Bassa und Forcadell wieder einsitzen müssen. Forcadell dafür, da sie als Parlamentspräsidentin ihren Job gemacht und Debatten im Parlament zugelassen hat. Elf Jahre Haft bekam sie dafür.

Dass sich der Oberste Gerichtshof plötzlich für die Ausführung der Haft zuständig erklärt hat, ist eine neue Amtsanmaßung von ihm, da er dafür nicht zuständig ist und bisher nicht war. Dahinter steht der Vorsitzende Richter des Schauprozesses Manuel Marchena, der nur unter sehr zweifelhaften Umständen auf seinen Posten gehoben wurde.

Protest am Obersten Gerichtshof in Barcelona zum Auftakt des Verfahrens gegen Mitglieder des Parlamentspräsidiums. Foto: Ralf Streck

Eigentlich sollte er sogar als Chef des Gerichtshofs und als Präsident des Kontrollrats für Justizgewalt die Justiz und den Gerichtshof sogar durch die "Hintertür" kontrollieren. Das hatte der Sprecher der ultrakonservativen Volkspartei (PP) herausposaunt, weshalb der Deal mit den Sozialdemokraten scheiterte.

In jedem demokratischen Staat hätte ein solcher Richter ausgedient, doch in Spanien durfte Marchena sogar den wichtigen Prozess durch die Vordertür kontrollieren. Dass der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg die Urteile bestätigt, braucht Spanien nicht zu erwarten. Es kann aber mit Verzögerungen am Verfassungsgericht dafür sorgen, wie im Fall von Otegi, die Unrechtsurteile erst gekippt werden, wenn sie komplett abgesessen sind. Marchena ist das deutlichste Exempel dafür, wie Juristen in dubiosen Verfahren auf die wichtigen Posten gehoben werden.

Deshalb mahnt die Group of States against Corruption (GRECO) des Europarates immer Reformen an. Kritisiert wird, dass Richter und Staatsanwälte gemäß "politischer Verbindungen" und nicht nach "juristischen Verdiensten und Qualifikationen" ernannt würden. Genau deshalb darf Marchena trotz seiner Amtsanmaßungen und Rechtsbeugungen weiter sein Unwesen treiben, die auch Verfassungsrechtler immer wieder anprangern. Er genießt dafür Straffreiheit wie die Richter, die Otegi und Co illegal inhaftiert haben.

EU und Grundrechte: Der lachende Dritte ist Spanien

Die Frage, wann Europa endlich dagegen etwas unternimmt, dass Grundrechte in Spanien mit Füßen getreten werden, muss man nach dem letzten EU-Gipfel wohl nicht mehr stellen. Dabei wurde gerade die richtige Idee beerdigt, dass sich Länder für Geldzuweisungen aus Brüssel auch an das Rechtsstaatsprinzip halten müssen.

Barcelona: Auf dem Weg zum Gerichtshof. Foto: Ralf Streck

Offiziell sehen sich Polen und Ungarn als Sieger, doch der lachende Dritte ist Spanien. Die Demokratie ist in dieser Gemeinschaft längst unter die Räder gekommen. Man schaut zu, dass Spanien foltert und über Todesschwadrone morden lässt, dass Menschen verprügelt werden, die an einem Referendum teilnehmen.

Man lässt zu, dass die für lange Jahre weggesperrt werden, die eine friedliche Abstimmung ermöglicht haben, wie das in demokratischen Ländern wie Großbritannien oder Kanada normal ist. Und lässt sogar zu, dass Spanien EuGH-Urteile zu Parlamentariern missachtet. Die EU schaufelt sich in Spanien ihr eigenes Grab, sie wird mit den Vorgängen im Baskenland und Katalonien beerdigt, da man nicht einschreitet und Spanien zur Räson ruft.

Und nun wird das Land, das auch nie die Diktatur aufgearbeitet hat, in dem noch immer Zehntausende Opfer in Massengräbern liegen, auch noch mit einem Milliardensegen dafür belohnt, in der Coronakrise versagt zu haben und weiter zu versagen. In das Land sollte dagegen aber so lange kein Euro fließen, solange es sich nicht an das Rechtsstaatlichkeitsprinzip hält.