Ein verdrängter Völkermord?

Was 13 Jahre Sanktionen im Irak anrichteten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Vor 30 Jahren besetzten Truppen von Saddam Hussein das benachbarte Kuwait. Der UN-Sicherheitsrat verhängte daraufhin ein totales Wirtschaftsembargo gegen den Irak. Doch erst eine militärische Intervention brachte im Frühjahr 1991 die Befreiung Kuwaits, die Sanktionen blieben allerdings bis zum Jahr 2003 bestehen. Deren verheerende Folgen setzen manche mit einem Völkermord gleich - und sind doch bis heute weitgehend unbekannt.

Bereits zehn Jahre vor der Besetzung Kuwaits - am 22. September 1980 - ließ Saddam Hussein ein benachbartes Land überfallen. Der irakische Diktator glaubte nämlich, dass der Iran nach der islamischen Revolution von Anfang 1979 geschwächt sei und er dementsprechend leichtes Spiel haben würde. Am Ende dauerte dieser Krieg jedoch acht Jahre, endete mit einem Patt und kostete ungefähr einer Million Menschen das Leben.

Internationale Konsequenzen musste Saddam wegen dieser Aggression nicht fürchten, galten die religiösen Herrscher Teherans doch als die neuen Erzfeinde Washingtons. Dementsprechend unterstützten die USA ihn sogar bei diesem verbrecherischen Feldzug. Der zynische Slogan lautete: "Er ist ein Hurensohn - aber er ist unser Hurensohn.". Aus Europa gab es kaum Protest gegen diese Strategie, folgte man doch bereitwillig der Sichtweise des großen Bruders.

Ganz anders sah die Sache aus, als Saddam Hussein am 2. August 1990 Kuwait überfiel. Mit diesem Schachzug hatte er aus Sicht der US-Regierung seine Kompetenzen klar überschritten, sodass diese den alten Verbündeten nun plötzlich zur ultimativen Bedrohung, zum "Schurken" erklärte (und wieder folgten die Verbündeten dieser Lesart ohne Widerspruch). Der irakische Diktator musste nun um jeden Preis in seine Schranken gewiesen werden. Zunächst verhängte der UN-Sicherheitsrat am 6. August 1990 ein totales Handelsembargo gegen den Irak (Resolution 661), wovon sich Saddam Hussein allerdings nicht beeindrucken ließ. Und so kam es am 16. Januar 1991 auf Basis der Resolution 678 zur "Operation Desert Strom", bei der eine große internationale Koalition unter Führung der USA Kuwait befreien sollte. Nach sechs Wochen Krieg war dieses Ziel schließlich erreicht - und somit der Anlass für die Sanktionen gegen den Irak eigentlich hinfällig.

Kurz nach dem Ende der Kampfhandlungen bereiste der UN-Sonderbeauftragte Martti Ahtisaari den Irak und stellte fest, dass die Alliierten das Land "mit ihren mehr als hunderttausend Luftangriffen … in ein 'vorindustrielles Zeitalter' zurückgeworfen" hätten.

Ahtisaari sprach von "nahezu apokalyptischen" Auswirkungen des Krieges: "Die Ernährungslage im Irak ist kritisch. … Dem Irak droht eine Hungersnot. Sauberes Trinkwasser ist knapp geworden. Es gibt keinen Strom für die Wasseraufbereitung und die Kläranlagen. In Bagdad werden die Abwässer ungeklärt in den Tigris geleitet, aus dem sich die Menschen mit Trinkwasser versorgen. Epidemien drohen. Weil es an Benzin mangelt, können die wenigen vorhandenen Medikamente nicht an die Krankenhäuser verteilt werden. Neunzig Prozent der Industriearbeiter sind zur Untätigkeit verurteilt und von Ende März an ohne Einkommen. Auf dem Markt aber sind die Preise der meisten Grundnahrungsmittel um tausend Prozent gestiegen."

Im 2. Golfkrieg zerstörte Eisenbahnbrücke. Bild: U.S. Navy

Warum es nach Meinung des Pentagons notwendig war, in diesem Krieg den größten Teil der irakischen Infrastruktur zu zerstören, ist nur mit einer ebenso anachronistischen wie zynischen Strategie zu erklären: Ein Volk muss nur lange genug Not leiden, um sich eines Tages gegen seinen Herrscher zu erheben. Diese Strategie war allerdings schon im Kampf gegen Hitler-Deutschland grandios gescheitert, weil von außen auferlegtes Leid eher zu einer Solidarisierung mit dem jeweiligen Regime führt (und als es im Irak dann doch noch zum Aufstand kam, ließ die US-Regierung die Rebellen schmählich im Stich).

Entsprechende Mahnungen gab es schon 1990, also kurz nach Verhängung des Embargos: "Die Geschichte lehrt eine klare Botschaft: Wirtschaftssanktionen waren nie erfolgreich. Kein Boykott hat je funktioniert. … Da heißt es immer: 'sie' gegen 'uns' und der Führer gehört zu 'uns'. Die Position des Machthabers wird durch einen Boykott immer stärker, als sie ohne den Boykott gewesen wäre."

Mit der Resolution 687 des UN-Sicherheitsrates vom 3. April 1991 wurden schließlich die Bedingungen für einen Waffenstillstand definiert, die insbesondere die Zerstörung von irakischen Massenvernichtungsmitteln vorsahen. Dafür wurden die Sanktionen zumindest in Bezug auf Nahrungsmittel und andere Güter der Grundversorgung gelockert. Auch wenn sich dadurch "der Anteil für die humanitäre Versorgung der Bevölkerung im Laufe der Jahre erhöhte, die fortschreitende Verelendung und Mangelwirtschaft wurden damit nicht behoben, sondern haben vielmehr das Ausmaß einer humanitären Katastrophe angenommen", so Norman Paech. "Angesichts der unbestreitbar katastrophalen Auswirkungen des gesamten Sanktions-Systems auf die Bevölkerung des Irak und seiner Nutzlosigkeit für die Entwaffnung des Irak spricht vieles für die Einschätzung kritischer Betrachter, dass seine weitere Aufrechterhaltung jeglicher Rechtsgrundlage entbehrte, ja, dass das Sanktions-System des Art. 41 die UNO-Charta geradezu pervertierte."

Im Juli 1991 schrieb die "Zeit":

Wasserzufuhr und Kanalisation der durch den Tigris getrennten Stadt funktionieren seit der Zerstörung von zwei Brücken kaum noch. In Saddam-City, einer Vorstadt von Bagdad, drohen Cholera und Typhus. Das neue Kinderkrankenhaus musste wegen Wasser- und Stromknappheit vor wenigen Tagen geschlossen werden. Die vielen unterernährten Kinder waren ohnehin wegen des Mangels an wirksamen Medikamenten vom Tode gezeichnet.

Die Zeit

Ähnlich dramatisch berichtete der Spiegel ein halbes Jahr später:

Die zerstörten Städte des Irak erinnerten den Frankfurter Medizinprofessor Ulrich Gottstein, 65, an Deutschland nach dem Krieg: ausgebombte Häuser, weggesprengte Brücken, leere Geschäfte, hungernde und sterbende Menschen. … Hunderttausende Menschen … sind nach Angaben Gottsteins infolge des Krieges und des Embargos 'vom Tode bedroht oder bereits gestorben'. Bei seinen Krankenhausbesuchen sah Gottstein Bilder des Grauens: Babys, die im Alter von drei bis fünf Monaten weniger wiegen als zum Zeitpunkt ihrer Geburt; sieben Monate alte Kinder, die nur noch aus Haut und Knochen bestehen und selbst zum Weinen zu schwach sind; ein Arzt, der auf einer Infektionsstation mit Typhus-, Hepatitis- und Meningitisfällen mit derselben Einmalspritze von Patient zu Patient geht, weil er nur die eine hat.

Der Spiegel

Sieben Jahre später, im November 1998, kommentierte die Zeit die immer noch andauernden grausamen Zustände im Irak:

Es ist keine Polemik, darauf zu verweisen, dass ein arabischer Boykott Israels, der eine vergleichbare Tragödie in Israel zur Folge hätte, in der Weltöffentlichkeit wohl kaum über Jahre hinweg mit demselben Achselzucken quittiert würde wie im Fall Iraks. Die irakische Bevölkerung hat im Westen keine Lobby, weil die öffentliche Wahrnehmung nicht unterscheidet zwischen dem Regime und den Opfern der Terrorherrschaft. Saddam gleich Irak, alles Verbrecher.

Die Zeit

In einem Artikel für The Capital Times aus dem Jahr 2010 zählte Joy Gordon, Autorin des Buches "Invisible War: The United States and the Iraq Sanctions", auf, was auch lange nach dem Krieg noch durch das Sanktionsregime mit einem Boykott belegt war, und zwar mit oftmals abenteuerlichen Begründungen: Lastautos, Bewässerungsgeräte, Kühlschränke, Sperrholz, Stoff, Klebstoff und Glas, Impfstoffe für Kinder, Impfstoffe für Ziegen und Schafe, Wassertanker und Wasserleitungen, Lichtschalter, Telefone, Funkgeräte für Rettungswagen und Feuerwehrautos, Ausstattung für die Erzeugung von Joghurt.

Im Januar 2003, also volle zwölf Jahre nach dem Krieg zur Befreiung Kuwaits, titelte die Frankfurter Rundschau: "Kinder müssen sterben, weil sie die Kinder des Feindes sind." In diesem Bericht der Ärztin Eva-Maria Hobiger heißt es: "Die [von irakischen Medizinern] beantragten Zentrifugen zur Blutauftrennung, Separatoren zur Blutplättchengewinnung, Plasmagefrierschrank, Kühlschrank zur Lagerung von Blutkonserven und Geräte zur intravenösen Verabreichung von Medikamenten gelten in den Augen des US-amerikanischen Außenministeriums als militärisches Gerät, eine Erlaubnis, sie nach Irak zu bringen, wird verweigert. … Die Tropenerkrankung Kala Azar, durch Parasiten verursacht und durch Fliegen übertragen, gilt als typische Armutserkrankung. … Die Krankheit galt als ausgerottet im Irak, da es vor dem Golf-Krieg ein breitflächig angelegtes Mückenbekämpfungsprogramm gegeben hat. Auf Grund der Sanktionsbestimmungen gelten Insektizide [jedoch] als 'dual use', d. h. militärisch nutzbar" und dürfen deshalb nicht eingeführt werden, obwohl diese Krankheit "in 100 Prozent innerhalb weniger Monate zum Tode führt, wenn sie nicht behandelt wird. Und in 100 Prozent geheilt werden kann, wenn sie behandelt wird. Und Kala Azar kann im Irak nicht behandelt werden, denn das wichtigste Medikament für die Behandlung ist im Land nicht verfügbar."

Am Ende ihres Berichtes klagt Hobiger an: "Ein besseres Beispiel für den Missbrauch der Sanktionsbestimmungen und für die Instrumentalisierung der Vereinten Nationen durch die Vereinigten Staaten lässt sich wohl kaum finden."

Munition mit einem Kern aus abgereichertem Uran

Eine der technischen Errungenschaften, die das US-Militär während der "Operation Desert Storm" stolz zur Schau stellte, war Munition mit einem Kern aus abgereichertem Uran (depleted Uranium). Über eine Million DU-Granaten setzten die alliierten Truppen während des Krieges ein. Dank ihrer extrem hohen Dichte hatten solche Geschosse eine bis dahin unbekannte Durchschlagskraft, was der Weltöffentlichkeit am 13. Februar 1991 auf grausame Weise vorgeführt wurde: Als eine Rakete einen Bunker in Bagdad traf, fanden über 400 Schutzsuchende den Tod. "Kollateralschäden" lautete der zynische Begriff, den das Pentagon damals etablierte, um tödliche Zwischenfälle mit zivilen Opfern zu relativieren.

Allerdings war die DU-Munition nicht nur während des Krieges gefährlich, sondern auch danach, blieb doch der strahlende Schrott auf den Schlachtfeldern und Straßen einfach liegen. Dieses ist vermutlich der Grund dafür, warum insbesondere bei Kindern die Leukämie-Rate im Irak nach dem Krieg sprunghaft anstieg. Die zu deren Bekämpfung notwendigen Medikamente fielen wiederum unter das Embargo - Stichwort "dual use". Und so war die Diagnose "Leukämie" zu jener Zeit praktisch ein Todesurtei.

Der CNN-Reporter Michael Holmes blickte im Jahre 2010 für die "Welt" auf das Embargo und seine Folgen zurück:

Richard Garfield, Professor für öffentliches Gesundheitswesen an der Columbia University, gelangte in seinen Untersuchungen zu dem Schluss, dass die Zunahme der Kindersterblichkeit zwischen 1991 und 2002 zum Tod von 345.000 bis 530.000 irakischen Kindern geführt hat. … Zu noch erschreckenderen Zahlen kam Tim Dyson, Professor für Bevölkerungswissenschaften an der London School of Economics, in einer Studie von 2006. Er schätzt, dass zwischen 1990 und 2003 etwa 660.000 bis 880.000 irakische Kinder unter fünf Jahren aufgrund des Zusammenbruchs der irakischen Ökonomie gestorben sind. … Die Hauptverantwortung für die Härte und Dauer des Embargos tragen die verschiedenen US-amerikanischen und britischenRegierungen.

Michael Holmes

Die Kronzeugen: Denis Halliday und Hans-Christof von Sponeck

Im Jahr 1995 führten die Vereinten Nationen auf Betreiben der US-Regierung schließlich das Öl-für-Lebensmittel-Programm ein, welches dem Irak ermöglichte, auf dem Weltmarkt Öl gegen lebenswichtige Verbrauchsgüter zu tauschen. Auf diese Weise sollte die humanitäre Lage im Irak endlich ein wenig entschärft werden. Der erste Koordinator dieses Projektes war der Ire Denis Halliday, der bereits auf eine mehr als dreißigjährige Karriere bei den Vereinten Nationen zurückblicken konnte. Doch schon nach gut einem Jahr warf er sein Amt hin und begründete diesen Schritt mit der unverändert katastrophalen Lage im Irak. Im Jahre 2003 erklärte er:

Ich wurde zum Rücktritt getrieben, weil ich mich weigerte, die Anordnungen des Sicherheitsrates zu befolgen. … Ich wollte nicht zum Komplizen werden, ich wollte frei und öffentlich gegen dieses Verbrechen sprechen. … Es gibt keine Rechtfertigung für das Töten der Jungen, der Alten, der Kranken, der armen Bevölkerung des Irak. … Das Völkerrecht hat keine Grundlage für die unverhältnismäßigen und mörderischen Konsequenzen des seit über 12 Jahren stattfindenden UN-Embargos.

Dennis Halliday

Halliday wies außerdem darauf hin, dass auch für den Westen selber eine Gefahr vom Verhalten des UN-Sicherheitsrates ausging: "Wir sollten mit der Möglichkeit rechnen, dass das Sanktionsregime das fundamentalistische islamische Denken stärkt. Diese mögliche Wirkung wird immer noch nicht richtig verstanden. Wir drängen die Leute damit in extremistische Positionen."

Ähnlich äußerte sich auch die "Zeit" im bereits erwähnten Artikel vom November 1998: "Niemand im Irak hat Verständnis für die Sanktionen. Kein westlicher Besucher Bagdads wird eine Mutter, deren Kind verhungert ist, von den Vorzügen einer Demokratie überzeugen können."

Hallidays Nachfolger wurde der deutsche Diplomat Hans-Christof von Sponeck, der ebenfalls seit über 30 Jahren bei den Vereinten Nationen gearbeitet hatte und ein Vertrauter des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan war. Und ebenso wie Halliday trat auch Sponeck nach gut einem Jahr vom Amt des Koordinators zurück, weil er nicht bereit war, die Folgen des Sanktionsregimes länger mitzutragen. Im Januar 2001 sagte er im Rahmen eines Vortrages während einer Veranstaltung der "International Physicians for the Prevention of Nuclear War" (IPPNW):

Der Hauptgrund für die Verelendung und Armut im Irak ist zweifellos in der Sanktionspolitik zu sehen. Berichte renommierter Organisationen wie des Internationalen Roten Kreuzes, von Care, Unicef, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderen UN-Organisationen haben das über die Jahre hinweg mit Sorge zum Ausdruck gebracht.

Hans-Christof von Sponeck

Später ging Sponeck so weit zu resümieren, dass das Öl-für-Lebensmittel-Programm von vornherein scheitern sollte: "Die [durch dieses Programm gewonnenen] Einkünfte waren in keiner Weise genügend, um ein halbwegs würdiges Überleben der Bevölkerung zu sichern. Das Öl-für-Lebensmittel-Programm war bewusst so konzipiert, dass es nicht klappen konnte."

Sponeck dokumentierte während seiner Zeit als UN-Koordinator auch die Luftangriffe, die die USA lange nach dem Krieg immer wieder gegen den Irak flogen, welche ohne Mandat der UNO stattfanden, dementsprechend völkerrechtswidrig waren und immer wieder zivile Opfer kosteten. So viel Engagement ging der US-Regierung unter Bill Clinton allerdings erheblich zu weit, weshalb sich diese bemühte, Sponeck "von seinem Posten zu verdrängen. Der Grund: Sponeck hat in aller Öffentlichkeit die verheerenden Auswirkungen der westlichen Sanktionspolitik beklagt", wie Theo Sommer im November 1999 in der "Zeit" berichtete. Sommer schlussfolgerte: "Amerikas Sanktionspolitik ist eine Schande.".

Wie sehr man seitens der USA grundsätzlich darum bemüht war, das Leiden im Irak zu vertuschen, belegt auch ein Zeit-Interview mit dem früheren amerikanischen Berufsdiplomaten Carne Ross aus dem Jahr 2016: "Kritik am westlichen Kurs habe es offiziell nicht geben dürfen, sagt Ross. 'Wir haben Beweise für das Leiden der Zivilbevölkerung regelrecht geleugnet und jeden mundtot gemacht, der die Sanktionen infrage stellte.'"

Neben Halliday und Sponeck gab es noch weitere Mitarbeiter der Vereinten Nationen, die aus Protest gegen das fortwährende Leid der irakischen Zivilbevölkerung ihr Mandat niederlegten, wie zum Beispiel Jutta Burghardt, die von Januar 1999 bis Ende März 2000 Leiterin des Welternährungsprogramms im Irak war. Ihr bitteres Fazit lautete: "Das humanitäre Programm [Öl-für-Lebensmittel] ist sachlich ausgehöhlt und dient der Verschleierung der wirklichen Auswirkungen der Sanktionen."

Das Embargo und seine Folgen - ein Völkermord?

Die Anzahl der Menschen, die tatsächlich durch die Sanktionen gegen den Irak ums Leben gekommen sind, lässt sich nur schwer ermitteln. Die früher von der UNICEF verbreiteten Zahlen - die Rede war von bis zu 1.500.000 Toten - ist nach heutigen Erkenntnissen wohl erheblich zu hoch. Die amerikanische Ärztin Sarah Zaidi beispielsweise stellte fest, dass zahlreiche in früheren Datenerhebungen genannte Todesfälle bei späteren Befragungen der gleichen Angehörigen nicht wieder auftauchten. Die Ursache für diese Diskrepanz liegt vermutlich darin, dass die älteren Ermittlungen von Irakern durchgeführt wurden, was offenbar zu subjektiven Verzerrungen geführt hat.

Doch hat die im Prinzip berechtigte Frage nach der Anzahl der Opfer auch einen zynischen Beigeschmack. Denn sollten in Folge der Sanktionen statt 500.000 am Ende "nur" 5000 Menschen gestorben sein - wäre das dann etwa keine Anklage wert?

Die Anzahl der Opfer spielt laut Konvention der Vereinten Nationen zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord jedenfalls keine Rolle für die Frage, ob es sich um einen solchen handelt oder nicht. Diese Konvention definiert Völkermord als eine Handlung, "die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören".

Man könnte also gegen die Völkermord-These einwenden, dass die verschiedenen US-Regierungen mit Sicherheit nicht bewusst das Ziel verfolgten (also die Absicht hatten), das irakische Volk auszurotten. Dieses vermeintlich zwingende Gegenargument ist jedoch weit weniger eindeutig als es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn schließlich waren die Folgen des Embargos in Washington frühzeitig bekannt, wie etwa ein TV-Interview mit Madeleine Albright - damals UN-Botschafterin der USA - aus dem Jahr 1996 belegt. Darin wurde sie gefragt, ob 500.000 tote Kinder als Folge der Sanktionen nicht ein zu hoher Preis gewesen seien. Ihre Antwort: "I think this is a very hard choice, but the price, we think the price is worth it."

Albright hätte sagen können, dass diese Informationen falsch oder die Zahlen übertrieben seien. Oder sie hätte so tun können, als ob sie von all dem nichts wisse - was Politiker ebenso machen, wenn sie ihren Hals aus der Schlinge ziehen wollen. Doch sie leugnete den Sachverhalt gar nicht erst. Und das bedeutet: Die US-Regierung wusste genau Bescheid über die humanitäre Katastrophe im Irak - und hielt trotzdem 13 Jahre am Embargo fest. Das wiederum heißt: Washington nahm das Sterben in all der Zeit bewusst in Kauf. Ist eine solche Ignoranz nicht einer Tötungsabsicht gleichzusetzen?

Zu der Frage, ob die Völkermord-These berechtigt sei, noch einmal von Sponeck:

Ich habe mich selbst lange gegen eine solche Charakterisierung gewehrt. Aber inzwischen sagen fast alle Hilfsorganisationen, gleich ob Care, Unicef, oder Caritas, dass die Sanktionen, also die Verweigerung von ausreichender Versorgung, Tausende von Opfern fordern. Der Sicherheitsrat weiß das genau.

Hans-Christof von Sponeck

Noch deutlicher formuliert es Sponecks Vorgänger, Denis Halliday in dem Dokumentarfilm "Hidden Wars of Desert Storm" von 2001: "Die Auswirkungen für das irakische Volk wird von vielen von uns einem Völkermord gleichgesetzt."

Jutta Burghardt äußerte sich ähnlich: "Die UN-Sanktionen gegenüber Irak haben in ihren Folgewirkungen zu schweren Menschenrechtsverletzungen geführt und verstoßen gegen die internationale Konvention über die Verhütung von Völkermord."

"Blowback" - Warum Aufarbeitung wichtig ist

Eines der größten Diskurs-Tabus der Gegenwart ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Einmischungen westlicher Mächte in der islamischen Welt und dem Hass, der uns von dort entgegenschlägt. Kurz: Dem Zusammenhang zwischen Imperialismus und Terrorismus. Viele wollen bis heute nichts davon hören, dass der Westen mitverantwortlich sein könnte für das Grauen, welches durch den Terror über uns gekommen ist. Sie glauben vielmehr an einen "Clash of Civilizations", an einen Kampf der Kulturen, der von Ewiggestrigen Gotteskriegern betrieben wird.

"Sie hassen die Freiheit", unterstellte dementsprechend George W. Bush wiederholt Osama bin Laden und seinen Mitkämpfern - und schaffte mit dieser absurden Behauptung wiederum die vermeintlich moralische Legitimation für einen weiteren Waffengang, den "War on Terror". Dieser dürfte mittlerweile abermals vielen hunderttausend Menschen - zumeist friedlichen Zivilisten - das Leben gekostet haben.

Erfährt man jedoch, was bin Laden selber zu seinen Motiven sagte, entsteht ein gänzlich anderer Eindruck. Er sprach nämlich davon, die Unterdrückung in seiner Heimat beenden und die Freiheit (!) wieder herstellen zu wollen. In seinen Bekenner-Videos nahm er neben etlichen anderen Interventionen auch explizit Bezug auf die grausamen Folgen der Sanktionen gegen den Irak.

Die CIA kennt das Phänomen, dass der Gegner irgendwann einmal zurückschlagen könnte: Sie nennt es "Blowback". Und so gab es in den USA durchaus einige, die eine terroristische Eskalation als Folge der vielen brutalen Einmischungen vorhersahen: "Der Hass, den der Krieg der Vereinigten Staaten hervorrief, schwelt weiter und kann sich jederzeit neu entzünden", prophezeite etwa der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum schon kurz nach dem Ende von "Desert Storm", also zehn Jahre vor den Anschlägen vom 11. September 2001.

Dass der darauf folgende "Krieg gegen den Terror" die Welt nicht sicherer gemacht hat, sondern im Gegenteil eine große Schar neuer Terroristen generierte, dürften heute selbst Washingtons Falken nicht mehr ernsthaft bestreiten: "Hatte Al Qaida 400 überzeugte Anhänger, fünfzehn Jahre später sind es Zehntausende", wie die FAZ im Mai 2017 berichtete.

Und trotzdem gibt es bis heute kaum Protest gegen das fortwährende Morden im vermeintlichen Antiterrorkampf. Dieses Ausmaß an Gleichgültigkeit ist nur zu erklären mit einem tief sitzenden Rassismus, denn jeder weiß: Die gleiche Gewalt gegenüber Menschen in westlichen Ländern würde bei uns niemals so bereitwillig hingenommen. Wer Terrorismus also wirklich bekämpfen will, sollte darüber nachdenken, ob nicht eine radikale Abkehr von der imperialen Arroganz der letzten hundert Jahre der beste Weg zu mehr Sicherheit wäre.

Zu diesem Zweck ist eine Aufarbeitung, ein Schuldanerkenntnis nötig. Deutschland hat gute Erfahrungen damit gemacht, sich zu den dunklen Seiten seiner Geschichte zu bekennen. Dass wir zu unseren Verbrechen der Vergangenheit stehen ist ganz sicher einer der Gründe dafür, warum unser Land in der Welt heute verhältnismäßig gut angesehen ist. Mit der Armenien-Resolution aus dem Jahr 2016 hat der Bundestag schließlich ein beeindruckendes Zeichen dafür gesetzt, diese Erinnerungskultur auszuweiten auf solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nicht unmittelbar in deutscher Verantwortung liegen.

Für die Versöhnung zwischen dem Westen und der islamischen Welt, aber auch im Interesse unserer Sicherheit brauchen wir weitere Schritte in diese Richtung. In diesem Sinne wäre eine Resolution des Bundestages zur Verurteilung der Sanktionen gegen den Irak und deren Folgen ein gutes Signal.