Ein paar Fragen aus Anlass der jüngsten Corona-Demos

Wie erklärt sich die eigentümliche Einheit der diversen Anti-Corona-Demonstranten?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die "junge Welt" weist auf das Nebeneinander von Reichsadler und Friedenstaube auf den Fahnen des Berliner "Tags der Freiheit" hin und will (dazu später) einen "Käfig voller Narren" angetroffen haben. Anderen Medien waren Esoteriker mit dem Grundgesetz unter dem Arm oder die erstaunliche Verträglichkeit der Regenbogenfarben mit dem Blau der AfD auf- und die Assoziation einer schwarz-rot-goldenen Loveparade eingefallen.

Den Veranstaltern und Teilnehmern des Events schien diese Wahrnehmung nicht unrecht zu sein. Einer davon meinte (gegenüber KenFM), "im Moment zähl[e] nicht Qualität, sondern Quantität", damit die Politiker nicht machen könnten, was sie wollten. Ein Podiumsredner sah eine "Welle" voraus, die einen "neuen Feiertag 1. August" herbeiführen könnte, und die Menge skandierte ausgiebig die Parole dieses Protests: "Wir sind das Volk!"

Im Anspruch und Selbstverständnis, nicht einen Umkreis geteilter Interessen, sondern in Gestalt der Grundrechte ein hohes Anliegen der Nation zu vertreten, hatten sich die buntfarbenen Bürger in der Hauptstadt - und, wie die Wortführer reklamierten, zur größten Demo der deutschen Geschichte - versammelt. Ihre jeweiligen Interessen hätten das in dieser Form auch schlecht hergegeben. Rechts soll bekanntlich mit links nicht zu verwechseln sein, Christen oder LGBT-Leute können aus guten Gründen Gegner von Impfgegnern werden, demonstrierende Hartzer oder Kurzarbeiter verbindet wenig mit den mitlaufenden Geschäftsleuten oder Vermietern, die um ihre gewohnten Einkünfte bangen. Und die vielen Rentner auf der Demo könnten in ihre Empörung auch einen jüngeren "Mitstreiter" einschließen, der "ehrlich" meint: "Corona wird 2% der Bevölkerung töten und die werden im Schnitt über 70 sein. Durch den Lockdown stehlen wir [aber …] den Jungen die besten 2% ihres Lebens."

Das Verbindende der "Querdenker" muss also in einer Eigenschaft liegen, die von ihren jeweiligen Lebensumständen, Überzeugungen und davon, was sie dabei in die Quere bringt, mit Absicht abstrahiert. Und so bekennen sie sich zu einer Gemeinsamkeit als Volk - also zu einer, die ihnen nur von einer Staatsgewalt verpasst werden kann. Die selbstbewusste Annahme ihrer der Nation untergeordneten Rolle gilt ihnen glatt als Berechtigung zur lautstarken Widerrede.

Wie kommt es, dass ein Mund-Nasen-Schutz zum Gegenstand des Aufbegehrens wird?

Dass er Hautausschläge verursachen kann, wie Corona-kritische Mediziner seitenweise anzuführen wissen, kann nicht die Antwort sein. Auch nicht, dass er eine "Virenschleuder" sei, wie dieselben bemängeln, obwohl etliche ihrer Anhänger den fraglichen Virus zum Fake erklären.

Das Untragbare der Gesichtsmaske liegt nicht in ihren praktischen Gebrauch beim Einkauf oder im Bus, nicht einmal am Ballermann. Wieder ist eine Abstraktion nötig, um den verpflichtenden Mundschutz zur allgemeinen Plage zu erklären: "Der Maskenzwang ist ein politisches Programm", künden die Großbuchstaben einer Flugschrift: "Die Maske ist ein Instrument zur Gedankenkontrolle. Über Jahrhunderte war [sie] das Symbol für Sklaven." Wer "versteht", wie das jahrhundertelang gegangen sein mag oder heute noch gehen könnte, der weiß auch mit einem weiteren historischen Vergleich etwas anzufangen: "Der Mundschutz ist das neue Hakenkreuz" (KenFM).

So jedenfalls wird die Atemmaske tatsächlich zu einem "Symbol" hergerichtet. Sie firmiert als Zeichen für ein umfassendes System der Freiheitsberaubung. Von diesem hat ein Großteil der Protestierer bis zur Ankunft einer "erfundenen" bzw. "maßlos übertriebenen" Pandemie zwar wenig mitgekriegt. Jetzt aber sind die "Querdenker" entschlossen, den Freiheitskampf aufzunehmen - auch wenn der nur in einem lautstarken Streit mit der Kassiererin über die Maskenpflicht im Supermarkt besteht.

Was bringt die Protestierenden zu der Auffassung, so schlecht regiert zu werden?

Am verordneten Mundschutz, an einer Testpflicht oder an den Reise- und Freizeitbeschränkungen bebildern die Protestierenden zwar gern ihre schlechte Meinung über die Regierung. Die weiteren Anklagen gegen den seuchenpolitischen Lockdown und die Folgen bringen aber mehr zum Ausdruck. Eine Mängelliste aus der Schweiz führt dazu an:

In den USA könnten aufgrund der Corona-Lockdowns bis zu 28 Millionen Menschen ihr Heim verlieren und obdachlos werden, was eine neue Hypothekenkrise auslösen könnte. Die deutsche Wirtschaft schrumpfte im zweiten Quartal […] - der größte Rückgang seit 1970. Laut UNO könnten die Lockdowns und die globale Wirtschaftsdepression bis Ende des Jahres weltweit bis zu 225 Millionen Menschen in eine Hungersnot stürzen. Weltweit [seien] 1,6 Milliarden Menschen vom akuten Verlust ihrer Lebensgrundlagen bedroht.

SWPRS

In der Absicht, auf "Öffnung" zu klagen, geht es in der Liste zwar etwas durcheinander. Kritische Fragen der folgenden Art ließen sich aber durchaus anfügen: Wenn Geschäfte und Fabriken vorübergehend geschlossen werden, warum kommt vielen Menschen dann gleich die Behausung abhanden? Und wieso schlägt dies auf das Bankwesen durch, was in der Folge auch Kleinsparer und Kreditnehmer in Mitleidenschaft ziehen kann? Warum macht ein unterbrochenes Wirtschaftswachstum auch in Deutschland so viele Existenzen prekär und bedroht sie in ärmeren Weltgegenden gleich physisch? Auf welcher ökonomischen und politischen Grundlage entzieht eine Virus-Pandemie einem Fünftel der Weltbevölkerung die kompletten Lebensgrundlagen?

Auch ohne eine konkrete Antwort auf die einzelnen Fragen wird doch in jedem Fall klar, dass die Art und Weise, in der die Menschheit in den sog. normalen Zeiten sich ihr Leben verdient oder es fristet, für einen Großteil keine Existenzsicherung hergibt, die in der ersten Welt über den Monats- und in der dritten über den Tageslohn hinausginge.

Die zitierte Aufzählung setzt sich fort mit Beispielen und Risiken des kapitalistischen Alltags, die allesamt das "Übermaß" der amtlichen Pandemie-Politik beweisen sollen, auf ihre Weise aber erneute Auskunft über den von den Protestlern vermissten Normalzustand geben: "Das Sterberisiko für die Allgemeinbevölkerung […] liegt in den meisten Regionen im Bereich einer täglichen Autofahrt zur Arbeit." Wer sich also dem ganz normalen Berufsverkehr aussetzt, den kann, so die Logik, doch auch ein Virus nicht erschüttern.

"Regional stark erhöhte Sterblichkeiten können entstehen, wenn […] zusätzliche Risikofaktoren wie starke Luftverschmutzung bestehen." Soll das heißen, dass die gängigen NOx- und Feinstaubwerte auch die Covid-19-Erkrankungen verkraftbar machen? "In Ländern wie Italien und Spanien sowie teilweise Großbritannien und den USA haben auch Grippewellen bereits bisher zu einer Überlastung der Kliniken geführt." Wenn die Gesundheitspolitik solcher Länder aus Kostengründen schon im Normalfall auf Kante genäht ist, sollen sie dann gefälligst auch den Ausnahmefall ohne übermäßige Ausgaben managen können?

"Die Anzahl an Menschen, die aufgrund der Maßnahmen an Arbeitslosigkeit, Depression und häuslicher Gewalt leiden, hat weltweit Höchstwerte erreicht." Nicht nach gesicherten Lebensumständen, gesellschaftlicher Betreuung oder guten Wohnverhältnissen rufen also solche Zustände, sondern nach einer gesundheitlichen Risikobereitschaft, die "nun einmal nötig" ist, um dieselben zu ertragen und ihnen eine Existenz abzugewinnen.

Die Gründe für ein prekäres Leben in der globalen Marktwirtschaft, wie sie in der zitierten Klageschrift zum Ausdruck kommen, kriegen die "einfachen Leute" materiell deutlich zu spüren. Sie gelten ihnen wie ihren Wortführern aber gar nicht als solche. Die Ursachen der Misere werden vielmehr heruntergebracht auf bloße Anlässe für dieselbe, denen keineswegs eine systemische Notwendigkeit zukommt, die vielmehr als Resultat einer schlechten, unfähigen oder böswilligen Herrschaft gelten: Der Merkel-Staat fährt die Wirtschaft an die Wand, entwertet Besitz, verunmöglicht Geldeinkommen, ruiniert den Mittelstand und führt eine allgemeine Krise herbei: "Merkel muss weg!"

So bringt diese anti-kritische Logik den polit-ökonomischen Grundzustand dieser Gesellschaft aus dem Blickfeld und sieht in den herrschenden Politikern nicht die Anwälte der kapitalistischen Sachzwänge, sondern moralisch "Schuldige", nach deren "Motiven" sie dann fahndet. Verstärkt durch den Druck der Krisenlage wird der Ruf nach Rückkehr zu den früheren gewohnten Zuständen immer nachhaltiger, und eine größer werdende Minderheit kann gar nicht glauben, dass ihre Regierung diese "Öffnung" ausgerechnet aus Rücksicht auf die Volksgesundheit verweigert oder verzögert. Passend zu diesem Unglauben wird glatt dem Virus die Gefährlichkeit und den Experten die Fachlichkeit bestritten. Auch von der "Lügenpresse", die über all dies ihren medialen Schleier werfe, lässt man sich nichts mehr vormachen. Umso mehr zählen die eigenen Infokanäle im weltweiten Web.

Damit ist die geistige Melange beieinander, um über die vor und mit Corona vorhandenen und verspürten Gründe für die Schädigung von materiellen Interessen zu einer Regierungskritik und zu einem Freiheitskampf eigener Art abzuheben. Das kriegen dann sogar Schlagersänger und andere Celebrities hin, denen die Hilfsanträge bei Kreditanstalten oder dem Sozialamt gemeinhin erspart bleiben.

Was ist die Freiheit, die sie meinen?

Die Freiheit des Christenmenschen hatte ein solcher so auf sein Plakat geschrieben: "Wir sind freie Kinder Gottes, kein Impfzwang!" Vielleicht meint er aufgrund seiner special relations nach oben es sich leisten zu können, so frei zu sein.

Eine vergleichbare Forderung lässt sich aber auch ganz profan ausdrücken: "Meine Gesundheit, meine Entscheidung!" - wobei hier ebenfalls eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den virusanfälligen Artgenossen zu bemerken ist. Zwei Protestierende gaben im Interview an, sie seien hier, "weil wir unser Leben wiederhaben wollen". Eine aufschlussreiche Forderung: Der Großteil der marktwirtschaftlichen Erwerbsbevölkerung verbringt zwar den längsten Lebensabschnitt damit und erleidet oft Schaden dabei, wenigstens so viel Geld zusammenzukriegen, um das eigene Arbeitsvermögen und dessen fortdauernden Einsatz im Angebot zu halten.

In diesem Sinne leben solche Klassen von Einkommensabhängigen dem Zwang der Verhältnisse entsprechend, um zu arbeiten. Dies allerdings ist eine Provokation für den privaten Materialismus und für das Selbstverständnis, mit dem er in einer marktverfassten Gesellschaft als Wahrnehmung von Chancen und in der Betätigung eines freien Willens verfolgt wird: Schließlich arbeitet man doch, um zu leben.

Der Lebensgenuss, der als subjektiver Zweck jedem Individuum zu eigen ist, trifft zunächst auf die widrigen Umstände, in denen er verfochten sein will. Die meisten der betroffenen Einkommensbezieher bemerken das an einem spezifischen Widerspruch von Zeit und Geld, also daran, dass sie entweder zu wenig verdienen, um ihre freie Zeit ordentlich zu genießen, oder dann zu wenig Zeit für sich und die Liebsten haben, wenn sie sich z.B. durch Überstunden oder Zweitjobs die nötigen Mittel dafür beschaffen.

Aber das Leben ist nun mal kein Ponyhof, sondern jeder seines Glückes Schmied, nur wer wagt, gewinnt bzw. no risk no fun. Die Anhänger solcher Volksweisheiten sind daher für einen Übergang gut, der schon in der Parole "meine Gesundheit, meine Entscheidung" zitiert wurde. Der Einsatz von Physis und Psyche für den Gelderwerb wie für den Lebensgenuss gilt als ein subjektives Anrecht - schon gleich in der Sphäre, in der man nicht den Zwängen des Werktags zu folgen meint, sondern das Reich der Freiheit sieht, zu dem er doch bloß Mittel sei und liefere.

Jeder kennt oder weiß von Zeitgenossen, die sich entweder mit einem Moment von Freiwilligkeit dem Verschleiß durch dauerhafte Überarbeitung aussetzen oder einem riskanten bis ruinösen Konsum- und Freizeitverhalten nachgehen oder beides zugleich tun. Aber auch die moderatere Verfügung über die höchstpersönliche Gesundheit für die höchstpersönlichen Interessen und Vorlieben geht im bürgerlichen Kopf mit der Idee einer Freiheit einher, in die sich Ungebetene gefälligst nicht einmischen sollen, schon gleich nicht der Staat und die Politiker - bzw. wenn, dann nur mit "guten Gründen".

Während also die Mehrheit der Bundesbürger die Gründe der pandemiebedingten Beschränkungen bislang akzeptiert oder wenigstens hingenommen hat, radikalisierte eine Minderheit ihren Freiheitsbegriff und trägt ihn in Berlin, Stuttgart und anderswo erbost vor. Dem Autor Peter Decker ist zuzustimmen, wenn er am Ende seines TP-Aufsatzes resümiert:

Der Wille zum hartnäckigen Festhalten an der Fiktion eines selbstbestimmten Lebens in der vom Kapital fremdbestimmten, vom Staat reglementierten Realität geht ersichtlich weit. […] Entschlossene Mitmacher des bürgerlichen Lebenskampfes [fürchten] um den verdienten Lohn für das eigene erbitterte Mitmachen […]. So kommt es […], dass Leute, die sich an Rechtschaffenheit und Pflichtbewusstsein durch nichts und von niemandem überbieten lassen, ihrer Obrigkeit […] die Gefolgschaft aufkündigen und sich in ihrer Empörung über den Verrat der Herrschenden an ihrem abendländisch-kapitalistischen Lebenssinn sogar zu Rechtsbrüchen hinreißen lassen.

Peter Decker

Warum fällt dieses Aufbegehren in die Zeit der Lockerungen?

Das geht zunächst auf einen Widerspruch zurück, in dem sich das staatliche Kümmern um die Volksgesundheit bewegt. Sie wird dabei prinzipiell in ihrer Funktionalität für das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsleben betrachtet und behandelt. Während sie deshalb im business as usual mit einem vielbeklagten Ausmaß an Berufs- und sog. Zivilisationskrankheiten samt saisonalen Infektionen durchaus verträglich ist, muss sie im Fall einer unbekannten und unbeherrschten Virus-Epidemie im Lockdown notgedrungen den Vorrang vor dem normalen marktwirtschaftlichen Geschäftsgang erhalten - der damit große Schäden erleidet.

Von ihm aber leben Gesellschaft und Staat, das weiß keiner besser als der bürgerliche Souverän, der diese Abhängigkeit schließlich selbst ins Recht gesetzt hat. Daraus resultieren sowohl die ökonomische und fiskalische Dringlichkeit der "Öffnung" wie der politische Streit um deren Ausmaß, der im Auf und Ab der Pandemie und dessen Folgen seine Konjunkturen hat.

Der Anti-Corona-Bewegung eröffnet das Abflauen der Infektionen, die Lockerung der Maßnahmen und der politische Disput darum offenbar einen gesellschaftlichen Raum für ihren spezifischen Freiheitsdrang. Dessen ideelle Natur muss sich nicht groß daran stoßen, dass er derzeit wieder unbeschränkter ausgelebt werden darf. Er kann eben dies als Gelegenheit ergreifen, im Nachgang Revanche für die ihm zugefügte staatliche Bevormundung zu nehmen und nach vorn gerichtet wenigstens gegen den Mundschutz als gefühltem Maulkorb anzurennen.

Wofür meinen die "Maßnahmen-Gegner" zusammen mit dem Volk einen Maulkorb verpasst zu kriegen?

Eben für das, was sie auf den zahlreichen Plattformen und Foren des Internets ständig wiederholen, um das Volk zu wecken, und was umgekehrt die Mainstream-Medien öffentlich verschweigen oder verdrehen wollten, um es stumm zu halten. Ein KenFM-Kommentar hält die Regierenden für "Grundrechtsbrecher, die Steigbügelhalter für eine faschistisch gefärbte, vom Kommerz gesteuerte Krankheitsdiktatur" sind.

Ein Autor, der sich nicht recht entscheiden kann, ob er die Isolation von Risikogruppen noch seuchenpolitisch oder nur als Anlass zur "Auszehrung verfassungsmäßiger Grundrechte" nehmen soll, erfährt ein Echo von Lesern, die ihrer Obrigkeit noch viel Schlimmeres zutrauen: "KZs wird es nicht mehr geben, die machen einfach ein ganzes Land dazu!" "Vielleicht sollen wir demnächst einen Stern tragen mit einem R für Risikopatient." "Merkel, die Enkelin Hitlers, erfüllt seine Linie treu. Ermächtigungsgesetz, Menschen als nicht lebenswert wegsperren."

Ein Arzt bekennt: "Ich fühle eine Ohnmacht gegenüber einem respektlosen Staat, dem ich noch vor Kurzem grundlegend vertraut habe, der nun aber […] die Basis unseres Zusammenlebens unter dem Vorwand einer real nicht existierenden Bedrohung [...] bewusst zerstört".

Statements dieser Art gehen keiner Sache auf den Grund, nicht dem marktwirtschaftlichen Normalbetrieb, nicht seiner vorübergehenden Suspendierung, die einzig seiner Rettung dient, auch nicht der Frage, warum eine gesundheitsbezogene Vernunft im Volk gegebenenfalls mit Strafmaßnahmen erzwungen werden muss. Antrieb des Nachdenkens ist vielmehr das geschädigte, mehr noch: das beleidigte Interesse, dem die Suche nach Chancen und Glück verwehrt erscheint.

Das berechtigt offenbar enttäuschte Untertanen dazu, bei ihren Klagen über die "schlechte Herrschaft" nach den schlimmsten Schmähungen zu greifen, die im nationalen Arsenal für einen solchen Befund zur Verfügung stehen: wie in der DDR und wie unter Hitler. Auch weitergehende "Analysen" gehen über eine Bebilderung eines Hintergrunds zur Enttäuschung kaum hinaus, sind also Argumenten ebenfalls schwer zugänglich.

Die schon zitierte Flugschrift fragt: "Warum machen sie das mit uns Menschen?" Antwort: "Nach Jahrzehnten des Niedergangs befindet sich das westliche Zivilisationsprojekt am Tiefpunkt seiner Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig koppelte sich eine selbsternannte Politexpertenriege von der Bevölkerung ab." Zweck dieser Riege: "Ende der 1930er-Jahre formierte sich in den USA die Strömung des […] 'Neoliberalismus' […]. Deren Vordenker Friedrich von Hayek lehrte seinen Jüngern, dass Staat und Nation schlecht sind und abgeschafft gehören. […] In Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien sitzen mittlerweile Hayeks Jünger."

Der "Neoliberalismus" ist zwar weiter nichts als ein staatlich geförderter Fortschritt der Marktwirtschaft, sich soziale und andere gesellschaftliche Kosten zu sparen und sich die Infrastruktur oder die Gesundheitspflege als erweiterte Gewinnsphären unterzuordnen. Er schafft auch die Nationen nicht ab, die u.a. mit ihren "neoliberalen" Erfolgen eine globale Konkurrenz um das Wachstum ihrer Standorte betreiben. Die staatlichen Anwälte dieses Ringens verbessern dabei oft ihre Glaubwürdigkeit. Manchem bitter enttäuschten Staatsfreund enthüllen sich aber solche Vorgänge als Resultat verborgener Machenschaften.

Sind die protestierenden "Querdenker" also "Narren" (s.o.) oder rechtslastige Schwachköpfe?

Der neurechte Anteil der Demonstranten ist nicht zu übersehen, auf einem Narrenschiff fahren sie aber nicht einher. Sie gebrauchen ja gerade ihren Verstand, um sich zu erklären, dass und warum ihre Herrschaft eine schlechte sein muss, weil sie ihnen Schäden zufügt oder sie nicht vor solchen bewahrt. Ihre Fehlurteile setzen sie fort im Ruf nach einer "echten Opposition" als Kern einer neuen "guten Herrschaft".

Wenn die SPD-Vorsitzende sie "Covidioten" nennt, drückt sie zunächst nichts anderes aus als ihre Zurückweisung eines nicht erwünschten Protests, wozu einige Parlamentskollegen auch schon repressivere Mittel abwägen. Dabei folgt diese ungeladene Opposition einem bekannten Muster der berufenen Regierungskritik. Die unpopulären Maßnahmen der demokratischen Regentschaft erfahren doch gleichfalls den oppositionellen Vorwurf, eine Verfehlung oder Entgleisung des Machtgebrauchs zu sein. Dieses Verfahren sucht ebenso nach Schuldigen und fordert deren Ersetzung durch eine "fähige" und "glaubwürdige" Führung, für die auch kompetente und verantwortungsvolle Kandidaten zur Wahl gestellt werden. "Querdenker" finden hier eine Vorlage.

Auch Professor*innen äußern über die neuen Protestler und ihre Verschwörungsthesen ihr Unverständnis - berufsbedingt gleich so, dass sie es in einer Theorie ausdrücken. Im verlinkten Fall ungefähr derart: Die Verschwörungstheorie sei ein Narrativ, eine Antwort auf ein ungelöstes Problem, der dunkle Zwilling der Krise. Sie wolle Zugehörigkeit markieren und Identität wiederherstellen, Kontrolle über das Leben zurückgewinnen. Macht sei immer auch opak, wir wüssten nie genau, warum sie so handelt. Es gehe den Theorien um einfache Erklärungen.

Abgesehen davon, dass die These einer supranationalen Geldherrschaft eine recht komplizierte Erklärung ist und das Kabinett Merkel IV keineswegs dunkel und verschwommen regiert: Wieso soll die Antwort auf ein offenes Problem, um die es doch jedem wachen Verstand zu tun ist, in krude Narrative führen? Dass jemand Gleichgesinnte sucht, die ihn orientieren, bestärken und unterstützen, kommt in den besten Familien vor. Da müssen doch Inhalte und Zwecke im Spiel sein, wenn so eine Suche in der rechten Ecke landet? Umgekehrt: Die genannten Formbestimmungen, die sich einen inhaltlichen und argumentativen Nachweis ersparen, haben nur dann einen "Erklärungswert", wenn sie ein entsprechendes Vor-Urteil anleitet.

Eine Berliner Initiative gegen rechts versucht, Inhalte und Zwecksetzungen anzugeben: Es "wird deutlich, welchen politischen Hintergrund die Versammlungen eigentlich haben. Dort treffen sich bekannte Verschwörungstheoretikerinnen, Akteurinnen der Neuen Rechten." "Es entsetzt uns, dass hier Antisemitismus, Rassismus, und auch die Relativierung der Shoa unter der Fahne der Bürgerrechte propagiert werden." "Gemeinsam mit Nazis gegen Regierungspolitik zu protestieren, bedeutet, ausgerechnet den Feinden der Demokratie eine Bühne und einen Vorwand für ihre Hetze zu bieten."

Leider dient hier - der neurechten Verfahrensweise nicht unähnlich - der Hinweis auf einen Nazi-Hintergrund oder auf zu wenig Distanz zu demselben als Ersatz für die Argumente gegen eine Bewegung, der deutlich mehr und anderes zu sagen wäre. Ungut ist auch eine linke Konkurrenz darum, wer denn nun wirklich das Volk sei. Wer seinen Aufruf damit eröffnet: "Wir sind viele, Berlin gegen Nazis", sollte sich fragen, ob er nicht alternativ auf eine solche einsteigt.